Beliebigkeit hat in der Pädagogik nichts zu suchen
Claudia Ludwig im Gespräch mit Karin Pfeiffer
Karin Pfeiffer:
Frau Ludwig, Sie sind Vorsitzende des Vereins Lebendige deutsche Sprache e.V. und setzen sich in dieser Eigenschaft für die Rückkehr zur klassischen Rechtschreibung nach Konrad Duden ein. Was sind Ihre Beweggründe?
Claudia Ludwig:
Als Lehrerin habe ich 16 Jahre lang Englisch und Deutsch unterrichtet und dabei im einen wie im anderen Fach auch besonders auf die Rechtschreibung geachtet, denn sie ist wichtig, wenn es um die Bedeutung von Wörtern geht. Schon ein einzelner Buchstabe kann dabei eine große Rolle spielen. Es ist eben ein Unterschied, ob ich ein Lid oder ein Lied meine, ob ich von der Mine oder der Miene schreibe, ob ich weg oder Weg sagen will. Gleich 1996 habe ich mich intensiv mit dem Regelwerk der neuen Rechtschreibung auseinandergesetzt -
Pfeiffer:
Was nicht allzu viele von uns getan haben, wenn wir ehrlich sind -
Ludwig:
Genau das ist der Punkt. Also ich habe die neuen Regeln mit den alten verglichen und bin dabei auf Unglaubliches gestoßen.
Pfeiffer:
Jetzt machen Sie uns neugierig.
Ludwig:
Es heißt doch immer, die neue Rechtschreibung komme mit wesentlich weniger Regeln aus als die alte, sei also leichter darstellbar und leichter lernbar. Gerade das aber stimmt nicht. Die Reformer haben wortwörtlich die einzelnen Regeln der alten Rechtschreibung übernommen, ihnen aber keine Zahl gegeben, sondern sie als Unterpunkt zu einer anderen Regel aufgelistet. Auf diese Weise kann man natürlich schnell die Zahl der Regeln verringern, obwohl nun in einer Regel mindestens zwei oder drei enthalten sind ...
Pfeiffer:
... was natürlich niemand erwartet hat. In gutem Glauben an die Seriosität der neuen Regeln versuchte auch ich, mir diese anzueignen. Doch irgendwie fühlte ich mich immer irritiert.
Ludwig:
Vor der Reform gab es 171 reine Orthographieregeln. Der Duden 2000 verzichtet auf Doppelanführungen, enthält aber trotzdem 169 orthographische Regeln - also gerade einmal zwei weniger als vor der Reform! Innerhalb dieser 169 Regeln sind viele der vorher unabhängigen Punkte zu einer Nummer zusammengefaßt worden - wieder andere fehlen komplett. De facto haben wir also weitaus mehr Regeln als vorher. Mich hat das alles sehr geärgert.
Pfeiffer:
Ärgern allein hilft nicht, man muß handeln. Also haben Sie als Frau der Tat gehandelt. Was haben Sie unternommen?
Ludwig:
In erster Linie habe ich Aufklärung betrieben. Dabei stellte ich zu meinem großen Erstaunen fest, daß gerade die Befürworter den Inhalt der Reform gar nicht kannten. Tatsächlich habe ich nicht einen getroffen, der die neue Rechtschreibung wirklich beherrschte. Am Ende der Diskussion stand immer das Argument, man sehe es als großen Vorteil an, daß nun jeder so schreiben könne, wie er wolle. Dazu fällt mir dann wirklich nichts mehr ein.
Pfeiffer:
Nun ist die Reform der Rechtschreibung mit dem Argument eingeführt worden, den Schülern das Schreiben zu erleichtern. Ist wenigstens dieses Ziel erreicht worden?
Ludwig:
In keiner Weise. Das Gegenteil ist eingetreten: wir alle tun uns heute beim Schreiben viel schwerer, und die Zeitungen sind voller Fehler. Die Einheitlichkeit der Schreibung ist verlorengegangen, wir haben keine Orthographie mehr, sondern viele verschiedene Orthographien wie zuletzt vor mehr als 100 Jahren. Das betrachte ich nicht als Fortschritt.
Pfeiffer:
Aus Grundschulen hört man oft, die neuen Regeln würden von den Kindern leicht gelernt, deshalb sei man mit der Reform zufrieden.
Ludwig:
Mit den eigentlichen Problemen der Rechtschreibung hat man in der Grundschule kaum etwas zu tun. Von Belang ist allenfalls die neue s-Schreibung, aber auch die hat ihre Tücken. Nach alter Rechtschreibung gab es eine leicht zu merkende Regel, die wirklich half: ss am Schluß bringt Verdruß. Auch konnten die Kinder sich merken, daß ein s-Laut, sofern man ihn nicht trennen konnte, als ß verschriftlicht wurde: es-sen, aß, küs-sen, Kuß, und so weiter. Was war daran so schwierig? Die meisten Fehler wurden bei der Schreibung von daß und das gemacht. Und dieses Problem hat sich mit der Reform nicht erledigt, sondern eher verschärft.
Pfeiffer:
Weil dass und das graphisch schlechter zu unterscheiden sind als daß und das
Ludwig:
Richtig. Wir lernen ja vor allem auch optisch, durch das Lesen. Und da war das auffällige Buckel-ß einprägsamer. Wer viel liest, schreibt auch besser. Aber noch einmal zurück zu der s-Schreibung. Die Kinder lernen heute, daß ß nach langem Vokal, ss nach kurzem Vokal geschrieben wird. Diese Regel führt in die Logikfalle.
Pfeiffer:
Logikfalle?
Ludwig:
Diesen Begriff habe ich geprägt. Es fällt doch allgemein auf, daß die Schreibung der s-Laute immer uneinheitlicher wird. Man legt die Regel falsch aus. Der Grund dafür ist einfach: Die Regeln Doppel-s nach kurzem Vokal und ß nach langem Vokal und Doppellaut beziehen sich ausschließlich auf Wörter, die in alter Rechtschreibung mit ß geschrieben werden. Die Kinder lernen keine Hauptregel, sondern eine Unterregel, für die man die alte Rechtschreibung beherrschen muß. Die Logik der neuen s-Regel erschließt sich daher nur den Erwachsenen, nicht den Kindern, denn die schreiben jetzt, völlig regelkonform aber falsch: Hinderniss, Ausweiß, Hinweiß, du bisst, Kisste.
Pfeiffer:
Rechtschreibreform - schlechtes Abschneiden der deutschen Schüler bei der PISA-Studie, was die Leseleistung betrifft: Sehen Sie da Zusammenhänge?
Ludwig:
Kinder werden nun seit Jahren mit verschiedenen Schreibweisen in Büchern, Zeitungen, Zeitschriften usw. konfrontiert. Das macht natürlich unsicher. Unsicherheit führt über kurz oder lang zu Frustration und Vermeidungsverhalten.
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Pfeiffer:
Frau Ludwig, wir danken Ihnen für das Gespräch!
FriAug2017:21:33CEST2004