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-- Plädoyer für das „Mittelwort“ (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=1180)
eingetragen von Norbert Schäbler am 30.08.2004 um 09.55
Feststellung 1: Früher gab es Zusammensetzungen und Zusammenschreibungen, die nach den neuformulierten Regeln der Rechtschreibreformer nunmehr ihre Gültigkeit verlieren sollen.
Die folgende Beispielliste nennt Zusammenschreibungen in ihrer Funktion als Mittelwort (Partizip). Das Sprachgefühl sowie der bis 1996 innerhalb der Sprachgemeinschaft vorhandene Trend, stets neue Wortzusammensetzungen im Bereich der Mittelwörter zu erschaffen, lassen diese Beispiele anstandslos passieren.
Beispielliste 1: „Der fertiggestellte erste Bauabschnitt - das hinzugewonnene Vertrauen - das lahmgelegte Forschungsvorhaben - die auseinanderstrebenden Meinungen – das frischgebackene Ehepaar - die diensthabende Beamtin - die eisenverarbeitende Industrie - der laubtragende Gärtner - die eimerschleppende Hausfrau ...“
Feststellung 2: Schon seit jeher erwiesen sich derartige Zusammensetzungen als instabil. Insbesondere bei andersartiger Satzkonstruktion zerfielen die Wörter oft in ihre Einzelteile. Die Verwendung obiger Wörter als freies und unabhängiges Satzglied (Umstandsbestimmung oder Adverbiale) spaltet oft (nicht immer!) das Einzelwort auf.
Beispielliste 2: „Der Bauabschnitt wurde fertiggestellt (fertig gestellt?) – Vertrauen wurde hinzugewonnen (hinzu gewonnen?) – Das Forschungsvorhaben wurde lahmgelegt (lahm gelegt?) – Die Meinungen strebten auseinander – Das Ehepaar wurde frisch gebacken (??) – Die Beamtin hatte Dienst – Die Industrie verarbeitet Eisen – Der Gärtner trägt Laub – Die Hausfrau schleppt Eimer ...“
Feststellung 3: Die Reformbetreiber haben bei ihrer Wortanalyse, die sie als Grundlage für ihr Regelsystem heranzogen, einen schwerwiegenden (schwer wiegenden?) Kopplungsfehler begangen, denn sie haben die Funktionalität d.h. die grammatische Besonderheit nicht beachtet, statt dessen alles über einen einzigen Leisten gezogen.
Sie haben damit bewiesen, daß ihnen das vielseitige Ausdrucksvermögen der Sprache völlig egal ist, denn sie haben Einheitsbrei produziert.
Sie haben, wie es Prof. Ickler einmal ausdrückte, „die schwarzen Tasten aus der Klaviatur entfernt“.
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nos
eingetragen von Sigmar Salzburg am 28.08.2004 um 15.42
Ungefähr paßt hier, was ich am 17.8. im ZEIT-Forum schrieb:
Gestern mußte ich meiner Elfjährigen in Deutsch helfen. In ihrem Heft las ich: „Subjeckt“, „Adverbjal“. Im Buch: „Präpositionalobjekt“ und „Dieses Satzglied, das ihr neu kennen gelernt habt, heißt Prädikativ.“
Daran wird die Schizophrenie der neuen „wissenschaftlichen“ Schulmeisterei so richtig deutlich: Den Schülern wird wie selbstverständlich auferlegt, die kompliziertesten grammatischen Begriffe in einer Sprache zu lernen, die sie nicht verstehen. Es wird auch keine Hilfestellung gegeben, dies durch eine deutsche Übersetzung bildhaft verständlich zu machen – aber es kann ihnen angeblich nicht zugemutet werden, zu erfahren, daß „kennenlernen“ sinnvollerweise zusammengeschrieben wird, daß „Quentchen“ von lat. „Quint“ kommt und frz. „As“ wie „das“ geschrieben wird usw. usw…
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Sigmar Salzburg
eingetragen von Fritz Koch am 28.08.2004 um 13.33
fand man bis in die 90er Jahre nur diese deutschen Grammatikausdrücke. Seit ein paar Jahren findet man auch dort nur noch die lateinischen Wörter. In Deutschland behaupten die Volkshochschulen, sie müßten die lateinischen Ausdrücke unterrichten. Aber gerade mit denen haben ältere Teilnehmer ohne gymnasiale Schulbildung große Probleme, sodaß manche sagen: "Wenn Sie auf diese Weise Grammatik unterrichten, bleibe ich weg."
eingetragen von Norbert Schäbler am 28.08.2004 um 12.08
In der Didaktik der „allgemein bildenden“ Schulen hat sich der Begriff „Mittelwort“ etabliert. Er gilt als Übersetzung des Begriffs „Partizip“.
Der Begriff bezeichnet eine Wortart, die irgendwo in der Mitte steht zwischen Verb und Adjektiv.
Dabei zielt der Lernprozeß auf die Erkenntnis ab, daß das Mittelwort abstammt von einem Tunwort (Verb), daß es andererseits gebeugt wird wie ein Wiewort (Adjektiv).
Die Wortbildung bereitet dem Schüler keine nennenswerte Schwierigkeit, weiß er doch, daß Zusammensetzungen beliebiger Natur, die das Ziel haben, ein Mittelwort zu erzeugen, keineswegs groß geschrieben werden dürfen, da doch im Prinzip lediglich die Namenwörter (Nomen, Substantive) der Großschreibung unterliegen.
Also führen Wortkombinationen wie "Laub+tragen(d), Dienst+haben(d), Rat+suchen(d), Rad+fahren(d), fertig+gestellt, fehl+geschlagen ..." zu einem zusammenzuschreibenden Mittelwort; und Mittelwörter schreibt man klein.
Unterstellt wird bei den Wortbildungen die übliche Fertigungsmethode der meisten Zusammensetzungen. Diese verlangt ein Grund- und ein Bestimmungswort.
Unterstellt wird auch, daß es Ausnahmen von dieser Regel gibt, z.B. wenn eine bestimmte Kategorie gemeint ist (Fleisch fressend ...) oder wenn ein Unterschied deutlich herausgestellt werden soll (Rad- und nicht etwa Auto fahrend). Jene Abweichungen kommen dann zum Tragen, wenn Nuancen durch das normale oder auch genormte Schriftbild nicht getroffen werden.
Die Satzlehre unterstreicht im übrigen obige These, die auf der regulären Wortbildungslehre basiert. Partizipien haben nämlich die Funktion, etwas genauer zu bezeichnen. Dabei verlängern die sog. Beifügungen (Appositionen) das jeweilige Satzglied um eine unbestimmte Anzahl von Wörtern und erhöhen damit die Aussagekraft des Ausgesagten.
Dabei läuft es lediglich auf eine Stilfrage hinaus, ob man die Beifügung einem Begriff voranstellt, oder ob man sie in einem Nebensatz mit paarigen Kommata nachordnet. Häufig wird diese Frage der Voranstellung oder Nachordnung durch die Wortlänge oder aber durch die Menge der zuzuordnenden Informationen entschieden.
Bsp:
Der Beamte ...
Der diensthabende Beamte ...
Der Beamte, der an Silvester Dienst hatte, ...
... dem Bürger ...
... dem ratsuchenden Bürger ...
... dem Bürger, der in Sachen Müllentsorgung Rat suchte, ...
Vorangestellte Beifügungen ermittelt man im Regelfall mit dem Fragewort „welcher ...?“.
Auf die Frage: „welcher Beamte?“ erhält man die präzise Antwort: „der diensthabende“.
Auf die Frage: „welchem Bürger?“ folgt das Einwortgebilde: „(dem) ratsuchenden“.
Würde man statt dessen die Neuschreibung anwenden („Der Dienst habende Beamte“), dann wäre man gezwungen, eine Doppelfrage zu stellen: „welcher, was?“
Dies ist schlechterdings nicht ökonomisch, zudem sprachwidrig und unterläuft die gängige Möglichkeit der Partizipialkonstruktion, die fest im Sprachgefühl verankert ist.
Gerade weil es die Alternative der Nachstellung gibt, welche zuläßt, daß durch das Eröffnen eines Nebensatzes, beliebige Satzglieder endlos aneinandergereiht werden können, (Bsp.: „Der Beamte, der an Silvester als einziger Spätdienst hatte, ...“), ist die Zertrümmerung des Mittelwortes eine sprachwissenschaftliche Schandtat ohnegleichen.
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nos
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