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eingetragen von Sigmar Salzburg am 16.11.2021 um 17.38

中國人的腦子為何比較快

(„Warum das Gehirn der Chinesen schneller ist“)

Warum das Kurzzeitgedächtnis der Menschen in China besser ist als das der Europäer

Chinesische Studenten können ihr Kurzzeitgedächtnis besser nutzen als gleichaltrige Studierende aus Deutschland. Diesen Schluß jedenfalls legen Zwischenergebnisse eines gemeinsamen Forschungsprojektes von Universitäten beider Länder nahe. Das Forschungsprojekt wird von der Volkswagen-Stiftung finanziert.

Bereits seit sechs Jahren gehen Psychologen der Göttinger Universität und der East-China Normal University aus Shanghai dem „Einfluß der Sprache auf geistige Prozesse des Menschen“ nach. Dabei haben sie jeweils 190 deutsche und chinesische Hochschüler gleicher Vorbildung aufgefordert, bestimmte Wörter, Zahlenkombinationen und Farben so schnell wie möglich zu identifizieren. Das verblüffende Resultat: In fast allen Fällen drückten die angehenden Akademiker aus dem Reich der Mitte schneller auf die Erkennungstaste als ihre deutschen Kommilitonen. So konnten sich die Chinesen in einer Zeitspanne von einer halben Minute im Durchschnitt acht Ziffern merken, die deutschen Studierenden ihr lediglich sechs. Mehrfach wiederholten die Wissenschaftler ihre Versuche, variierten die Bedingungen der Testreihen – das Ergebnis blieb dasselbe.

Bei der Erforschung der Gründe für dieses Phänomen stehen die Wissenschaftler erst am Anfang. An einer besseren Fingerfertigkeit der Chinesen liegt es jedenfalls nicht, glaubt der deutsche Projektleiter, Professor Gerd Luer. Bei reinen Reaktionstests, die nur die Motorik beanspruchten und keinen Anspruch an geistige Fähigkeiten stellten, waren die Chinesen langsamer.

Luer bietet zwei Erklärungen an, warum die Studierenden aus China ihr Kurzzeitgedächtnis schneller auf Trab bringen können. Entweder, so der Psychologe, handele es sich „hierbei um einen Effekt der geschriebenen oder gesprochenen Sprache“. Oder aber die Chinesen hätten ihr kurzfristiges Identifikationsvermögen „einfach besser trainiert“. [...]

Reimar Paul

Süddeutsche 27.9.1995

Drei Jahre später wurden die „Erleichterungen“ der „Reform“ an den Schulen gegen den mehrheitlichen Volkswillen durchgesetzt, ein Jahr später folgten beflissen die Zeitungen.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 16.02.2016 um 15.03

... daß drei Jahre später auch der spottende „Spiegel“ den Kotau vor der Stussschreibreform der Kultusminister macht! – Spiegel 1.7.1996:

Am Rande
Gräulicher Mückenschiss


In sechs Tagen schuf der HERR Himmel und Erde samt beweglichem Inventar; und danach sah er "an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut" (1. Mose 1).

Wenn am Montag dieser Woche die Vertreter deutschsprachiger Länder die Reform der Rechtschreibung besiegeln, haben sie eine wesentlich längere (zwei Jahrzehnte) Schöpfungsgeschichte hinter sich; und siehe da, keiner wird sagen, es ist sehr gut.

Denn die Experten, die als vermeintliche Chaos-Bewältiger antraten, haben nur kleine, oft krumme Brötchen gebacken; auf den mosaischen Tafeln des neuen Schreib-Bundes, die sie errichteten, steht auch ein Haufen Unsinn.

Am Anfang war das Wort: "Tolpatsch" beispielsweise muß nun "Tollpatsch" geschrieben werden; das Wort hat mit "toll" nichts zu tun, es stammt aus dem Ungarischen und meinte "breitfüßig" dahinlatschende Soldaten. Ebensowenig hängt "einbleuen" (nun: "einbläuen") sprachgeschichtlich mit "blau" zusammen, "greulich" (nun: "gräulich") mit "grau" und "belemmert" (nun: "belämmert") mit "Lamm".

Just die lautliche "Anlehnung an die Wortfamilie" war ein Ziel der Reformer. Welch göttlicher Ratschluß aus "Zierat" "Zierrat" (wie "Vorrat") machte, bleibt völlig dunkel; "Zierat" gehört zu Wortbildungen wie "Armut" und "Kleinod".

"Behände" (statt "behende") muß man, "Nessessär" ("Necessaire") darf man, "Portmonee" ("Portemonnaie") soll man schreiben; "Hämorrhoiden" kann man so oder so: "Hämorriden". Alle "Schifffahrt" hat nun fff-Qualität; der "Mittag" (Mitt-Tag) hingegen ruht weiterhin auf nur zwei t-Trägern.

"Belämmert" zwar, doch "behänden" Fußes nun zum "Schlussstrich" und zur Frage: "Nulllösung" oder "Mückenschiss"? (ß wird nach kurzem Vokal zu ss). Von den mehreren hunderttausend deutschen Wörtern ändern sich nur ein paar hundert, die Zahl der Rechtschreibregeln schrumpft von 212 auf 112*. Dafür dräuen neue Unklarheiten.

Denn ob die Reformer nun "sitzen bleiben" (auf ihren Stühlen) oder "sitzenbleiben" (in der Schule), ist in Zukunft (1998) nicht mehr auszumachen. Dann schreibt man generell "sitzen bleiben", und dann ist guter "Zierrat" teuer.

DER SPIEGEL 27/1996

spiegel.de 1.7.1996


eingetragen von Sigmar Salzburg am 24.09.2012 um 12.38

„Prima Sonntag“, Neumünster 10.10.1999:

Volker Rühe, der neben dem Stuhl [von] Heide Simonis auch gleich noch den von CDU- Landes-Chef Peter Kurt Würzbach absägen will, dürfte ein paar potenzielle Wähler weniger haben. Denn für die Gegner der neuen Rechtschreibung hat der Ex-Verteidigungsminister kein gutes Ohr. „Von mir aus kann man hier Plattdeutsch sprechen, aber eine eigene Rechtschreibung kommt mir nicht ins Haus", stellte Rühe klar.

Siehe auch: Rühe beruft sich auf Helmut Kohl.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 21.11.2011 um 09.46

RECHTSCHREIBUNG

Die wollen durch die Wand

Von Darnstädt,

Wird die Rechtschreibreform doch noch gekippt? Der Einspruch des Wiesbadener Verwaltungsgerichts markiert womöglich den Anfang vom Ende des Jahrhundertprojekts. Der Staat, so argumentieren Juristen, habe in Fragen der Rechtschreibung eigentlich gar nichts zu sagen.

An neuen Vorschriften hat der Richter Rudolf Rainer, 58, meistens seine Freude - selbst wenn es nur Kommaregeln sind. "Öfter mal was Neues", sagt der Wiesbadener Jurist, das halte den Geist gesund.

Rein gar nichts hat der Verwaltungsrichter gegen eine Rechtschreibreform, auch wenn es der nun geplanten "irgendwie an Ernsthaftigkeit" mangele. Aber als Jurist sei er "Handwerker". Und der Handwerker sagt: "Was nicht geht, geht nicht."

Weil es "nicht geht", stoppte die 6. Kammer des Wiesbadener Verwaltungsgerichts unter Rainers Vorsitz am Montag vergangener Woche den Neuschreib-Start an hessischen Schulen. Von Verfassung wegen, so das Gericht, dürften die Schüler bis auf weiteres Schiffahrt statt Schifffahrt schreiben.

Der 23-Seiten-Beschluß aus Wiesbaden, ein Verdikt unterster Instanz und nur im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, wird die umstrittene Jahrhundertreform womöglich zum Kippen bringen. "Endgültig in den Brunnen gefallen", unkte schadenfroh Bildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU), sei nun die neue Orthographie, und Rolf Wernstedt, derzeit als Vorsitzender der Kultusministerkonferenz Schutzherr des Reformprojekts, empörte sich: Ein kleiner Richter könne doch nicht im Ernst "die ganze Republik auf den Kopf stellen".

Er kann, im Ernst. Die Rechtschreibreform ist unter die Juristen gefallen, weil die Kultusminister selbstherrlich mit einfachen Verwaltungsvorschriften ohne jede gesetzliche Grundlage agierten. Nun steht das Jahrhundertwerk allerorten zur Disposition der Verwaltungsgerichte.

Und die Aussicht, daß Bundesland für Bundesland die Richter in immer neuen und einander widersprechenden Verdikten für oder gegen Schreibweisen und Silbentrennung urteilen, daß Tausende wütender Eltern nach Wiesbadener Vorbild durch die Instanzen prozessieren, löst bei den Verfechtern der Reform Panik aus.

Bonner Politiker raten zum taktischen Rückzug. Die Reform, in den meisten Bundesländern schon angelaufen, solle sofort gestoppt werden. Der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Norbert Geis, denkt an ein Moratorium für ein Jahr: Es habe wenig Sinn, die Rechtschreibung im Kleinkrieg mit den Gerichten durchzupauken.

Doch genau das haben die Kultusminister offenbar vor: "Ich sehe keine Alternative", sagt der bayerische Reformer Hans Zehetmair.

Der CSU-Politiker warnt vor einem Chaos, sollte die Reform gestoppt werden. Tausende von Schülern müßten wieder neue Regeln lernen, nämlich die alten, ebenfalls Tausende von neuen Schulbüchern, die bereits gekauft wurden, müßten eingestampft werden, von den Schulbuchverlagen drohten Schadensersatzklagen in Millionenhöhe.

Stur stellt sich auch der vom Wiesbadener Verwaltungsgericht verdonnerte hessische Kultusminister Hartmut Holzapfel (SPD): "Ich kann nur beharrlich bleiben."

Der Wiesbadener Minister warnt die Kollegen, zu wackeln. "Der bei einem Stopp folgende Ärger würde die Erleichterung bei manchen ausgleichen." Nun gehe es nicht mehr um die Rechtschreibung, sondern um die Verläßlichkeit staatlichen Handelns, die Ministerpräsidenten könnten doch nicht eine Reform, die sie selbst mit beschlossen hätten, einfach wiederaufheben, ohne daß es ein einziges neues Sachargument gebe.

Holzapfel hofft für sein Land auf die Beschwerdeentscheidung der nächsten Instanz, des Verwaltungsgerichtshofes in Kassel. Doch wie auch immer die ausfällt, den Kollegen in den anderen Bundesländern ist damit wenig geholfen - und die haben es in den nächsten Wochen ebenfalls mit ihren Richtern zu tun. Der Spruch von Wiesbaden, droht der Jenaer Staatsrechtsprofessor Rolf Gröschner, der vielerorts Rechtschreibkläger vertritt, "war erst der Anfang".

Demnächst wird das Oberverwaltungsgericht in Schleswig-Holstein in einem ähnlichen Rechtsstreit entscheiden, auch ein Beschluß des Verwaltungsgerichts Hannover steht an. Weitere Klagen laufen in Mainz, Berlin, Gelsenkirchen und München.

Auch in Thüringen, wo das Verwaltungsgericht Weimar den Eilantrag einer Mutter abwies, wird noch lange nicht Frieden sein. Hier muß ebenfalls nun das Oberverwaltungsgericht urteilen.

In den Kultusministerien herrscht Festungsstimmung. Wie lange wird die Front der 16 Länderregierungen gegen die allgemeine Verunsicherung zu halten sein? Was passiert, so debattieren auch sozialdemokratische Länderregenten, wenn etwa in Hannover der Genosse Gerhard Schröder die Zahlen der Allensbach-Umfrage liest, wonach 75 Prozent der Wähler den Reformunfug anhalten wollen? Was, wenn der Populist plötzlich ausschert und kurz vor dem Beginn seines Wahlkampfs den Stopp der Neuschreibung verkündet?

Die Organisatoren der Rechtschreibreform beruhigen sich damit, daß die Kultusbürokratie, einmal in Gang gebracht, so schnell nicht mehr zu bremsen ist. Bernd-Axel Widmann von der Hamburger Schulbehörde sieht "eine große Bewegung, eine Lawine" voranrücken, "die können Sie nicht mehr anhalten".

In der Hansestadt wird mit Schuljahresbeginn in dieser Woche die neue Schreibweise in den ersten und fünften Klassen eingeführt. Doch schon seit vergangenem Jahr gilt ein Beschluß, wonach "die noch geltenden Regeln mit den künftig geltenden Regeln zusammen erarbeitet werden" sollen.

Obgleich die Reform erst im August folgenden Jahres verbindlich wird - so das Übereinkommen der Kultusminister vom Herbst 1995 -, ist sie ähnlich wie in Hamburg ein bißchen und nach Gusto schon verbreitet vollzogen. Und der vorauseilende Gehorsam der Pädagogen wirkt politisch wie Beton.

Das zeigte sich vor wenigen Wochen in Bonn, wo sich Abgeordnete des Bundestagsrechtsausschusses mit Kultusbürokraten der Länder trafen, um im stillen über eine mögliche Verschiebung der Reform zu beraten.

In einem Info notierten die Parlamentarier für ihre Kollegen, daß sie von den Betonköpfen aus den Ländern geradezu brüskiert worden seien: Überlegungen zu einer möglichen Verschiebung "wurden von allen Vertretern der Kultusministerkonferenz schließlich mit der Begründung abgelehnt, es seien alle notwendigen Maßnahmen zur Einführung ... getroffen worden. Es gebe nichts Zusätzliches mehr zu veranlassen. Deshalb könne auch nicht mehr innegehalten werden".

So "arrogant, auf hohem Roß" wie die Kultusminister, sagt der Unions-Fraktionsjustitiar Joachim Gres, habe er "selten Leute erlebt". Gres: "Die wollen durch die Wand."

Gres gehört zu den Unterzeichnern des Gruppenantrags von 50 Bundestagsabgeordneten, die erreichen wollen, daß das Parlament in Bonn sich gegen die Rechtschreibreform ausspricht. Der Bund selbst ist an dem umstrittenen Projekt nur am Rande beteiligt: Innenminister Manfred Kanther (CDU) hat eine Vereinbarung unterschrieben, wonach sich die Bundesregierung in ihrer Amtssprache an den neuen Regeln orientieren wird.

Doch den Bundestagsrebellen geht es ums Grundsätzliche. Der Rechtsausschuß-Vorsitzende Horst Eylmann (CDU) etwa sieht das staatliche Hineinfingern in die Orthographie als Rückfall in den Obrigkeitsstaat: "Die Sprache gehört dem Volk."

Weil es nun um viel größere Fragen als die der richtigen Silbentrennung geht, hoffen die Kultusminister, aus ihrer Bedrängnis durch ein Machtwort des Bundesverfassungsgerichts erlöst zu werden. "Ganz schnell", so fordert der Hannoveraner Wernstedt, müßte der Streit von Karlsruhe entschieden werden.

Doch die Karlsruher haben schon deutlich gemacht, daß sie die Sache eher lästig finden. Bereits vor einem Jahr mußten sie über eine Verfassungsbeschwerde urteilen, die der Professor Gröschner für sich und seine Tochter Alena gegen die Vereinbarung der Kultusminister erhoben hatte. Die Dringlichkeit der Sache begründete Gröschner damals mit der bevorstehenden Unterzeichnung des Rechtschreibabkommens durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und andere deutschsprachige Staaten. Doch das Bundesverfassungsgericht erklärte die Klage für unzulässig.

Der Beschwerdeführer sei noch gar nicht selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen, entschied Karlsruhe. Er solle warten, bis die neue Rechtschreibung an den Schulen wirklich eingeführt werde, und dann zunächst den Rechtsweg ausschöpfen.

Die Weisheit dieses Spruches wird von Verfassungsrechtlern mittlerweile heftig bezweifelt. Denn nun tut Gröschner, wie ihm geheißen, und klagt - als Vertreter empörter Eltern - vor zahlreichen Verwaltungsgerichten. Und der Weg zurück nach Karlsruhe wird diesmal schwierig.

Erst wenn Gröschner - für die von ihm vertretenen Kläger - vor mindestens zwei Verwaltungsgerichtsinstanzen verloren hat, kann er erneut Verfassungsbeschwerde erheben. Stellt sich Karlsruhe stur, muß er sogar bis zum Bundesverwaltungsgericht gehen. Wenn er aber gewinnt, hat Karlsruhe sowieso nichts mehr zu sagen: Die Gegenseite, die Kultusminister, können keine Verfassungsbeschwerde erheben.

Gleichwohl wäre die Frage, wer unter welchen Voraussetzungen dem Volk Kommasetzung und Silbentrennung vorschreiben darf, beim Verfassungsgericht allemal besser aufgehoben als bei Richter Rainer. Denn die Rechtsprobleme im Streit um die Orthographie sind tatsächlich Neuland.

Der eigensinnige Plan der Kultusminister wirft gleich drei verfassungsrechtliche Grundsatzfragen auf:

* Wer bestimmt, was Schüler lernen müssen?

* Darf der Staat bestimmen, wie man schreibt?

* Und wenn er es darf, muß es dann der Bund oder müssen es die Länder regeln?

"Wesentliche" Entscheidungen über die Schulbildung, so die Karlsruher Vorgabe, können nicht einfach von der Kultusbürokratie getroffen werden, sie bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Eine parlamentarische Legitimation sei nicht nur aus rechtsstaatlichen Gründen, sondern auch zum Schutz der Grundrechte von Eltern und Kindern erforderlich.

"Wesentlich" war nach einem Urteil der Karlsruher Richter die Einführung des Sexualkundeunterrichts. 1977 wurde deshalb die Hansestadt Hamburg verurteilt, dafür ein ordentliches Gesetz zu erlassen. Andererseits wurde die einst leidenschaftlich umstrittene Einführung der Mengenlehre im Mathematikunterricht in den siebziger Jahren von den Gerichten als unwesentliche Entscheidung angesehen.

Handelt es sich um eine wesentliche Entscheidung, 52 Kommaregeln auf 9 zu reduzieren, "dass" statt "daß" zu schreiben? Ja, sagt Richter Rainer. Nein, sagt etwa das Verwaltungsgericht in Weimar.

Selbst bei der obersten Instanz, auf den Fluren des Bundesverwaltungsgerichts, debattieren derzeit die Richter hitzig. Nicht im Ernst, so sagen die einen, könne man es als wesentlich bezeichnen, daß ein Schreibanfänger "dass" statt "daß" lerne - es müsse ihm und seinen Eltern schlicht egal sein.

Nicht so ganz, sagen die anderen. Wenn die Erwachsenen, noch dazu die Dichter, bei der alten Schreibweise bleiben, bringe das Verwicklungen. Dann gelte nicht mehr der Satz, daß man in der Schule fürs Leben lerne.

Der Marburger Vater Hermann Günzel, über dessen Klage das Verwaltungsgericht Wiesbaden zu entscheiden hatte, geht sogar noch weiter. Er sieht seine "erzieherische Autorität" dadurch untergraben, daß er selber wie ein "Erstkläßler" die neue Rechtschreibung lernen müßte. Richter Rainer bestätigte ihm, daß sein verfassungsrechtlich geschütztes Elternrecht verletzt sei.

Günzels Einwand rührt an den Kern des großen Streits. Hinter hochtrabenden verfassungsrechtlichen Ausführungen steht oft nicht mehr als die Unlust der Erwachsenen, sich nun mit Mühe neue Rechtschreibregeln anzueignen. Ist die staatliche Enteignung für sicher gehaltener Kulturtechniken zulässig?

Der Verfassungsrichter Paul Kirchhof schrieb im "Handbuch des Staatsrechts", es sei ein Recht der Bürger, sich gegen Sprachlenkung und Sprachbeeinflussung zu wehren. Ein obrigkeitlicher Eingriff zur "Reform der Schreibweise" sei also nicht zulässig.

Der Frankfurter Verfassungsrechtsprofessor Erhard Denninger sieht grundsätzliche Fragen im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern berührt. "Ist die Rechtschreibung überhaupt eine Materie", fragt Denninger mittlerweile auch in seinen Vorlesungen an der Universität, "die staatlicher Regelung zugänglich ist?" Der Streit um ein paar Buchstaben könne vielmehr zum Beispiel dafür werden, daß es Dinge im Leben gebe, aus denen sich die Obrigkeit herauszuhalten habe. Von oben dürfe "ja auch keine neue Logik" verordnet werden.

Wohlweislich hat sich der Staat in Deutschland aus Fragen der Rechtschreibung weitgehend herausgehalten. 1955 beschlossen die Kultusminister lediglich, vorerst die Fortschreibung des allgemeinen Schreibgebrauchs durch den Duden für allgemeinverbindlich zu erklären - eines der vielen Provisorien der Bonner Republik, mit dem auf Dauer alle zufrieden waren, die Linguisten einmal ausgenommen.

Der letzte vorsichtige Versuch, die Rechtschreibung auf Vordermann zu bringen, stammt aus dem Jahre 1901 - damals gab es in Deutschland noch einen Kaiser, und Schüler waren rechtlose Objekte der Verwaltung.

Auf einer "Orthographiekonferenz" in Berlin trafen sich Kulturverwalter und legten eine einheitliche Rechtschreibung fest. Einzelne Veränderungen wagten sie auch - etwa die Beseitigung des allseits beliebten th zugunsten des t.

Der Geist der Kaiserzeit weht sogar durch die neue Reform. 1989 erklärte der Leiter der Kommission für Rechtschreibfragen beim Institut für deutsche Sprache, Gerhard Augst, die "Abwicklung des Vorgangs in den Jahren 1901 bis 1903" könne "ein Muster dafür sein, wie eine neue einheitliche Rechtschreibung in allen deutschsprachigen Staaten Anfang der neunziger Jahre herbeizuführen" sei.

Doch die Reformer unter dem Grundgesetz gehen viel weiter als die kaiserlichen Rechtschreibverwalter. Anders als damals geht es diesmal nicht nur um Vereinheitlichung, sondern um Geschmäcklerisches. Die Orthographie soll verbessert werden, nach dem Geschmack von Sprachwissenschaftlern und Kulturbürokraten.

Wenn überhaupt der Staat die Rechtschreibung verändern darf, so die Ansicht einiger Verfassungsrechtler, dann dürfe dies nur der Bund. Zwar steht die Kulturhoheit den Ländern zu - aber der Streit um die Orthographie zeigt ja zur Genüge, welche fatalen Folgen das lockere Miteinander der 16 Länder zeitigt. "Unser Föderalismus kann nicht so weit gehen", warnt der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Rupert Scholz, von Beruf Staatsrechtsprofessor, "daß 16 Länder unter Umständen 16 verschiedene Sprachen und Rechtschreibungen beschließen."

Die Reform sei eine "gesamtstaatliche Aufgabe". Dafür, folgert Scholz, sei Bonn zuständig. Eine Zuständigkeit "aus der Natur der Sache" und am Grundgesetz vorbei hat der Bund auch schon in anderen Fällen reklamiert - etwa bei der Gesetzgebung für die Stasi-Akten oder bei der Einführung des Feiertages am 3. Oktober.

Doch die Länder, ohnehin ständig in Angst um ihre Kulturbefugnisse, könnten so einen Bonner Übergriff, so befreiend er auch wäre, niemals akzeptieren. Der bedrängte hessische Kultusminister Holzapfel denkt statt dessen über Reparaturmaßnahmen aus eigener Kompetenz nach.

Für den Fall, daß er auch in der nächsten Instanz verliert, hat der Sozialdemokrat schon ein Gesetz in der Tasche. Mit der rot-grünen Regierungsmehrheit will er dann binnen weniger Tage ein eigenes Rechtschreibgesetz durchbringen, das Richter Rainers Rügen berücksichtigt.

Doch Holzapfels Notbrücke würde die Kollegen in den anderen Bundesländern unter Zugzwang bringen, gleichzeitig die gleichen Gesetze in ihren Landtagen durchzusetzen - ein unrealistisches Projekt. "Wären 16 Gesetze notwendig", sagt der Düsseldorfer Kultusstaatssekretär Friedrich Besch, "so wäre dies der Tod der Reform."

Zumindest Richter Rainer, mutmaßt der zornige Holzapfel, habe das wohl auch nicht anders gewollt: "Rechtsfremde Gründe", sieht der Minister, hätten den Juristen bei seinem Spruch geleitet.

"Ich bin ja kein Politiker", kontert der Gescholtene, "ich bin nur ein kleiner Richter."

DER SPIEGEL 32/1997

spiegel.de 4.8.1997


eingetragen von Sigmar Salzburg am 15.11.2011 um 09.59

Am 19.5.1999 druckte die Berliner Zeitung meinen Leserbrief zum drohenden Scheitern des Volksbegehrens. Er wurde hier noch nicht veröffentlicht:

Heimtückische Abstimmung

Lokales Zu "Wenige unterschreiben gegen die Rechtschreibreform" von Fina Geschonneck (11. Mai):

Kommt es in Berlin zur Volksabstimmung, dann scheitert die Rechtschreibreform. Scheitert aber die zuvor notwendige Unterschriftenaktion, dann erweist sich das Instrument "Volksbegehren" als absichtsvolle Fehlkonstruktion der Parteien mit dem Ziel, Volkswillen zu verhindern – nach dem bei hirntoten Organspendern angewandten Prinzip: wer nicht widersprochen hat, dem werden Organe entnommen. Nur ein demokratisch unempfindliches Gemüt kann solchem Volksbegehren "mit großer Gelassenheit" entgegensehen, wie die Schulsenatorin Stahmer. Spätestens seit dem Scheitern der "Reform" in Schleswig-Holstein hätten die Kultusminister ihre Zwangsmissionierung aufgeben müssen. Statt dessen setzt man darauf, daß die Bürger andere Sorgen haben, als zu Bedingungen, hundertfach schlechter als in Schleswig-Holstein, entlegene Orte zu suchen, um öffentlich Unterschriften zu leisten. Diese Art von Demokratie ähnelt doch sehr den einstmaligen "Volksdemokratien" östlicher Prägung. Besonders heimtückisch ist: Dieser Farce die Unterschrift verweigern, heißt auf ein Stück Demokratie verzichten.
Sigmar Salzburg ...

Berliner Zeitung 19.05.1999


eingetragen von Sigmar Salzburg am 24.10.2011 um 07.40

Zu dem im vorhergehenden Artikel dargestellten beispiellosen politischen Aufwand, begleitet von abwechselnden Konferenzen von 16 Ministerpräsidenten und 16 Kultusministern mit jeweiligem staatssekretariellem Anhang, zur Belemmerung eines ganzen Volkes mit der „Rechtschreibreform“ möge man immer im Hinterkopf behalten, was die Präsidentin der Kultuministerkonferenz, Johanna Wanka, zehn Jahre später laut „Spiegel“ zugegeben hat:

Seit fünf Jahren ist Wanka Wissenschaftsministerin in Brandenburg, im Jahr 2005 war sie Präsidentin der KMK. Sie war an der Reformdiskussion nie beteiligt und sollte das Projekt mit abwickeln. Den Ministerpräsidenten wäre am liebsten, wenn sie sich mit der Reform nicht mehr befassen müssten, sie irgendwie verschwände, aber es geht auch um Selbstachtung. Niemand will öffentlich eingestehen, dem Land eine Reform zugemutet zu haben, die sinnlos war, vielleicht sogar schädlich.

Wanka sitzt in einer Ecke des Restaurants Borchardt in Berlin und stochert in ihrem Essen. Sie redet über die Pisa-Studie, über das Problem mit der Hochschulfinanzierung. Sie macht eine kleine Pause. "Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war", sagt sie. Sie sieht auf ihren Teller: "Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden."

Es ist ein erstaunlicher Satz. Es ist das Eingeständnis einer großen Niederlage.

Spiegel 2.1.2006

Nun sind die Regierenden froh, daß die Zeitungen und sonstigen Medien untertänigst bei der Dauer-Zwangsmissionierung der Bevölkerung mitwirken.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 23.10.2011 um 09.39

Den Länderchefs wird Labskaus serviert.
Lübeck – Die 16 Ministerpräsidenten kommen zum Gipfel nach Lübeck. Die Willy-Brandt-Allee wird zur Regierungsmeile… Alle 16 Jahre hat Schleswig-Holstein den Vorsitz inne und ist Gastgeber. Zuletzt tagten die Regierungschefs 1995 in Lübeck. Damals ging es um die Rechtschreibreform...
ln-online.de 23.10.2011

Der Spiegel schickte am 23.10.1995 einen großen Artikel voraus (beispielhaft in Reformschreibung):

Rechtschreibung

Neue Regeln: Jetzt oder nie

Die Reform der Rechtschreibung steht auf der Kippe, diese Woche entscheiden die 16 Länderchefs. In den Medien und in der Bevölkerung wächst die Stimmung gegen das umstrittene Reformwerk. Worum es wirklich geht, wissen noch immer nur wenige Bundesbürger. Der folgende Beitrag zeigt, wie sich die Reform auf Texte auswirken würde: Er ist nach den neuen Regeln geschrieben - abgesehen von den kursiv gesetzten Beispielen.


Es steht 50 zu 50, ob es zu einer Rechtschreibreform kommt." Größere Chancen gibt Sachsens Kultusminister Matthias Rößler dem Projekt nicht, das sieben Jahre lang vorbereitet wurde und seit einigen Wochen das meistdiskutierte Bildungs- und Schulthema ist.

Entschieden wird diese Woche in Lübeck von den Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer, wie es der thüringische Regierungschef Bernhard Vogel beantragt hat.

Nur selten war den Länderchefs ein Thema aus dem Bereich ihrer Kultusminister so wichtig, dass sie sich selbst damit befasst haben - wie mit der Öffnung der Hochschulen für möglichst viele Abiturienten.

Die Rechtschreibung steht zum ersten Mal auf der Tagesordnung der Regierungschefs, und vermutlich werden sie auch Details erörtern, die bis vor kurzem sogar ihren Kultusministern fremd waren.

In den vielen Artikeln, die in letzter Zeit über die Reform geschrieben wurden, standen immer wieder umstrittene Wörter wie Rytmus und Teke, Tron und Katastrofe. Noch immer wissen die meisten Deutschen nicht, dass es vor allem um ganz andere Neuerungen geht. Die wichtigsten: Es soll
* mehr getrennt als zusammen, mehr groß als klein
geschrieben werden,
* mehr Freiheit geben, Kommas zu setzen oder darauf
zu verzichten,
* ß häufig durch ss ersetzt werden (nach kurzem
Vokal),
* die Konjunktion daß künftig dass geschrieben
werden,
* s-t wie s-p getrennt und eine uralte
Pennäler-Parole annulliert werden ("Trenne nie st, denn
es tut ihm weh"),
* erlaubt werden, Silben so zu trennen wie sie
gesprochen werden, also Chirurg neben (wie bisher)
Chir-urg, Inte-resse neben Inter-esse, Pä-dagoge neben
Päd-agoge,
* in einigen Fremdwörtern t durch z ersetzt werden,
substantiell wird substanziell, potentiell wird
potenziell, existentiell wird existenziell.

Erst wenn die Ministerpräsidenten die Reform gebilligt haben, kann die Konferenz der Kultusminister (KMK) wieder tätig werden.

Die Reform wäre gescheitert, wenn nur ein einziger Regierungschef sie ablehnte. Er würde seinen Kultusminister zum gleichen Votum verpflichten und die stets einstimmig entscheidende KMK könnte keinen Beschluss fassen.

Bis Ende vergangener Woche hatten sich die meisten Regierungschefs so wenig festgelegt wie Niedersachsens Gerhard Schröder, der das Thema intern _(* Am 28. September in den ) _(Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale. )

mit seinen Ministern erörtert hat. Das Kabinett sollte eine Vorlage des Kultusministers und Reformanhängers Rolf Wernstedt "zustimmend zur Kenntnis" nehmen, Schröder ließ "zustimmend" streichen: "Die Argumente für die Reform kann ich im Kopf nachvollziehen, aber nicht im Bauch."

Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen hat in einer Presseerklärung weder Ja noch Nein zur Reform gesagt, sondern nur versichert, er stehe ihr "grundsätzlich mit Offenheit gegenüber".

Aus Thüringens Hauptstadt Erfurt kamen konträre Signale. Vogels Versicherung, er wolle die Reform nicht verhindern, wirkte wie ein Lippenbekenntnis angesichts seiner gewichtigen Einwände: Die "erheblichen finanziellen Auswirkungen" müsse man noch mal überdenken, die Bevölkerung sei "ziemlich unvorbereitet", die Sache dürfe nicht "im Eiltempo durchgeboxt" werden.

Sein Kultusminister Dieter Althaus hingegen ist zur Reform entschlossen: "Ich hoffe, dass sie kommt, und ich bin dafür, dass sie noch in diesem Jahr beschlossen wird." Er glaubt sich in dieser Hinsicht mit seinem Chef Vogel "völlig einig".

Monatelang haben die Kultusminister die Rechtschreibreform verschlafen, seit sie im November 1994 auf einer Konferenz in Wien beschlossen wurde - schon endgültig von Österreich, der Schweiz und acht Ländern mit deutschsprachigen Minderheiten, hingegen von der deutschen Delegation mit dem Vorbehalt, dass die KMK sie noch billigen müsse.

Aufgeschreckt wurden die Minister erst, als ihr bayerischer Kollege Hans Zehetmair drei Wochen vor der zunächst für den 28. September angekündigten KMK-Entscheidung einen Aufschub erzwang, in einem SPIEGEL-Gespräch (37/1995) letzte Änderungswünsche begründete und "einen gewaltigen medialen Donnerhall" auslöste (so Zehetmair selber).

Nun wollen die Minister die Reform noch in diesem Jahr beschließen, obwohl die Zeit knapp geworden ist. Wie immer in Notfällen beauftragten sie eine Arbeitsgruppe mit Rettungsarbeiten. Diesmal leitet sie der Düsseldorfer Staatssekretär Friedrich Besch. Über einen Vorschlag dieser Gruppe, was an dem 270 Seiten starken Reformwerk noch geändert werden soll, will die KMK auf ihrer nächsten Sitzung am 30. November in Mainz befinden. Und im Dezember oder Januar soll dann in Wien ein Abkommen mit Österreich und der Schweiz unterzeichnet werden.

Ob es so weit kommt, hängt nicht nur davon ab, wie sich zuvor die 16 Regierungschefs entscheiden.

Die Vorsitzenden von fünf westdeutschen CDU-Landtagsfraktionen haben gefordert, dass alle Landesparlamente der Reform zustimmen müssten. Der Jenaer Juraprofessor Rolf Gröschner meint sogar, die Kultusminister dürften die Reform gar nicht per Erlass in Kraft setzen, vielmehr müsse jeder Landtag ein Gesetz beschließen; das lasse sich notfalls per Gerichtsentscheid erreichen.

Dazu Besch: "Wären 16 Gesetze notwendig, so wäre dies der Tod der Reform." Alle Kultusminister sind sich einig, "dass eine gesetzliche Ermächtigung nicht erforderlich ist, weil diese Neuregelung nur behutsam in den Schreibgebrauch eingreift" - so Rosemarie Raab, Hamburger Schulsenatorin und derzeit KMK-Präsidentin.

Eine andere Gefahr schien in Bonn heraufzuziehen, als Bundeskanzler Helmut Kohl das Thema aufgriff und bei seinem Innenminister Manfred Kanther eine Kabinettsvorlage bestellte. Der Innenminister ist für die Amtssprache in den Bundesbehörden und deshalb auch für die Rechtschreibung zuständig. Kanther erklärte die Reform für notwendig: "Angesichts des langjährigen Vorlaufs ist ein ,Ausstieg'' der Bundesrepublik Deutschland nicht zu empfehlen." Der Kanzler war''s zufrieden, einstweilen jedenfalls.

Ungewiss ist, ob Österreich und die Schweiz deutsche Sonderwünsche hinnehmen werden. Die Nachbarn haben signalisiert, dass bei substanziellen Änderungen im nächsten Jahr neu verhandelt werden müsse. Die Reform würde dann auf die lange Bank geschoben. Insider sind überzeugt, dass sie entweder jetzt, also in diesem Jahr, oder nie zustande kommt.

Gefährdet wird das Projekt vor allem durch einen starken bundesdeutschen Trend: In den Medien und in der Bevölkerung breitet sich eine Stimmung gegen die Reform aus. Und Politikern fällt eine Entscheidung umso schwerer, je unpopulärer sie ist.

"Viele Kultusminister haben die Sprengkraft dieses Themas unterschätzt", rügte Niedersachse Wernstedt seine Kollegen. Und Hessens Kultusminister Hartmut Holzapfel beobachtete in den letzten Wochen, "dass sich die Ansichten zusehends polarisieren. Die einen meinen, dass man all dies der Sprache nicht antun darf, den anderen geht die Reform nicht weit genug".

Noch vor ein paar Monaten stand der Kölner Stadt-Anzeiger mit seiner strikten Ablehnung ("Demontage der deutschen Schriftsprache") ziemlich allein, neuerdings wird auch in anderen Blättern dafür plädiert, dass alles beim Alten bleibt.

Die Frankfurter Allgemeine ist umgeschwenkt. Nach der Konferenz in Wien ließ sie ihren dorthin entsandten Redakteur öffentlich erklären, seine Redaktion werde die Reform unterstützen. Auf Seite eins feierte die Zeitung den Wiener Beschluss als "Sieg der Eindeutigkeit, Verständlichkeit und Differenziertheit".

Vorigen Monat aber ließ sie das Reformwerk von dem französischen Germanisten Jean-Marie Zemb auf einer Sonderseite zerpflücken ("Diese Rechtschreibreform ist zu einem großen Teil Unfug"). Wenig später befand die Redaktion sogar: "Zwingend ist an dieser Reform nichts."

Die meisten Deutschen konnten sich bislang kein eigenes Urteil bilden. Sie wurden nicht nur schlecht, sondern sogar falsch informiert.

Den Anfang machte Wolf Schneider, der ein halbes Dutzend Sprach-Bücher geschrieben hat und sich in der Rolle eines Deutschlehrers der Nation gefällt. Nach dem Wiener Kongress im November 1994 erläuterte er in der Woche die Reform an einigen Beispielen, die Hälfte war falsch.

Seit Schneider irrtümlich behauptete, statt Philosophie werde künftig Filosofie verlangt, macht dieses Schreckenswort die Runde.

In einer Broschüre des Dudenverlags, von der eine halbe Million Exemplare verschenkt, verkauft oder dem Duden beigeheftet wurden, wimmelt es auf den wichtigsten Seiten von sachlichen, irreführenden Fehlern.

Und niemand bot so viel Desinformation wie die Frankfurter Rundschau in zwei Sätzen:
" So lesen wir künftig Hegels filosofische "
" Fänomenologie als kaotisches Labyrint. Es ist eine "
" fantasievolle Metafysik, ein triumfales Alfabet des "
" Geistes, das alle Sympatie verdient. "

Außer Alfabet wird nichts davon vorgeschlagen und fantasievoll erlaubt schon der Duden.

Über die Kosten des Vorhabens werden astronomische Zahlen verbreitet. Die Reform erfordere "einen nur noch mit den Kosten der Wiedervereinigung vergleichbaren finanziellen Kraftakt", fantasierte der Bundesverband für Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik. Der Verband der Schulbuchverlage nannte bei einem KMK-Hearing 5 bis 10 Milliarden Mark als mutmaßliche Mehrkosten für Schulbücher und ging später auf 300 Millionen Mark herunter. Mit der Wirklichkeit haben diese Zahlen nichts zu tun.

Schulbücher kosten jährlich knapp 800 Millionen Mark und werden zu zwei Dritteln aus öffentlichen Kassen, zu einem Drittel von den Eltern bezahlt. Hessens Kultusminister Holzapfel glaubt, die Reform lasse sich, was die Schulen betrifft, "fast ohne Mehrkosten verwirklichen".

Sein sächsischer Kollege Rößler hingegen "schließt nicht aus, dass wegen zu hoher Kosten auf die Reform verzichtet werden muss". Rößler weiter: "Weil es nur um ein Reförmchen geht, kann man sich schon fragen, ob Aufwand und Nutzen im richtigen Verhältnis stehen."

Präzise vermag niemand die Kosten der Umstellung im Voraus zu beziffern, aber sie dürften relativ niedrig sein.

Schulbücher haben im Allgemeinen eine Lebensdauer von drei bis fünf Jahren und bei diesem Rhythmus soll es in etwa bleiben. Deshalb ist für die Schulen eine Übergangszeit von vier Schuljahren vorgesehen. Käme man nicht zurecht, müsste man nach Meinung des thüringischen Kultusministers Althaus "die Übergangszeit strecken, von vier auf maximal zehn Jahre". Sein Resümee: "Die Kosten sind zu bewältigen."

Anders als die Schüler würden sich die älteren Deutschen nicht allmählich, sondern schnell umstellen müssen, wenn sie nicht die ganze Reform ignorieren wollen. Ein neuer Duden würde schon kurz nach einem KMK-Beschluss erscheinen, Redaktionen und Buchverlage würden wahrscheinlich alsbald ihre Texte nach den neuen Regeln schreiben und drucken.

Weil immer wieder primitiv wirkende Wörter wie Astma und Apoteke in den Zeitungen stehen, glauben viele, es werde nach der Reform eine verkehrte Welt geben - die Schlauen wären dann die Dummen. Typischer Leserbrief eines Deutschlehrers in der Süddeutschen Zeitung: "Weil viele etwas falsch machen, wird das Falsche zur Vorschrift erhoben."

Aber eingedeutschte Fremdwörter ständen nur selten in Zeitungen und Büchern. Zumeist würden sie nur zusätzlich erlaubt, um sie "anzubieten" - so die Idee der Reformer - und zu sehen, ob die alten Schreibweisen populärer bleiben oder sich die neuen allmählich durchsetzen. Es ist zwar, wie Germanist Zemb rügt, "ein Schildbürgerstreich, wenn man neue Varianten einführt und zugleich empfiehlt, davon keinen Gebrauch zu machen". Aber nur Lehrer und Schüler müssten ihre Zeit damit verplempern. Die meisten Erwachsenen würden das gar nicht wahrnehmen.

"Die Veränderungen im Schriftbild würden meist kaum bemerkt werden", meint der Göttinger Verleger Arndt Ruprecht, seit vielen Jahren Rechtschreibexperte des "Börsenvereins des Deutschen Buchhandels", "Bücher im jetzt geläufigen Schriftbild würden deshalb allgemein nicht veraltet wirken."

Schon gedruckte Sachbücher und Romane könnten noch jahrelang verkauft werden. Auch die Vorräte an Schullektüre, von Schillers "Tell" bis Kafkas "Verwandlung", würden nicht zu Makulatur. Ein Massendruck neuer Formulare wäre Geldverschwendung. KMK-Meinung: "Vorliegende Bestände können aufgebraucht werden."

Wie notwendig die Reform ist, lässt sich an herkömmlichen Texten kaum erkennen, die wie dieser Beitrag nach den neuen Regeln geschrieben sind. Das wird erst deutlich, wenn man anhand von Beispielsätzen die komplizierten, _(* Bei der Schlussredaktion des neuen ) _(Regelwerks im Mannheimer Institut für ) _(deutsche Sprache. Sitzend: Peter ) _(Gallmann (Zürich), Burkhard Schaeder ) _((Siegen); stehend: Gerhard Augst ) _((Siegen), Klaus Heller (Mannheim). )

oft sogar unsinnigen Duden-Regeln mit den neuen vergleicht (siehe Kästen Seiten 102 und 103).

Vor allem Lehrer und Schüler hätten den Nutzen, wenn es nur noch halb so viele und bessere Regeln gäbe. Niedersachsens Kultusminister Wernstedt bedauert deshalb, "dass viele Erwachsene nur an sich und ihr eigenes Umlernen denken und nicht an die Kinder, denen die Reform Erleichterung und nicht Niveauverfall bringen würde".

Viele Lehrer machen die gleichen Erfahrungen wie die Lehrerin an einer rheinischen Hauptschule, die für den SPIEGEL einer fünften Klasse einen relativ einfachen Text diktierte. 17 von 20 Mädchen und Jungen schrieben entscheitent oder endscheident, 14 schüttelten jemanden die Hand, ebenso viele wussten nicht, was bei körperlicher und seelischer Verfassung groß und was klein geschrieben wird. Es gab auch absulut, ehnlich und geferlich, Mänge statt Menge, henkt statt hängt. Der Durchschnitt: 11 Rechtschreib- und 6 Kommafehler, Note 4,9.

In Abitur-Arbeiten, die dieses Jahr an einem Düsseldorfer Gymnasium geschrieben wurden, stehen im Schnitt auf jeder Seite ein bis zwei Fehler, bei Teilnehmern eines Deutsch-Leistungskurses zum Beispiel Beeinflußung und Höhrer, vormuliert und gespührt.

Diese Misere an den Schulen ist den meisten Kultus-Chefs und den durchweg als Professoren tätigen Reformern fremd. Sonst hätten sie spätestens in der Schlussphase aus dem Reformvorschlag einige nicht praktikable Neuerungen entfernt.

Stattdessen haben sich die Kultusminister diskret darauf geeinigt, an den 112 neuen Regeln gar nichts und an den neuen Schreibweisen von Wörtern möglichst wenig zu ändern.

Und Bayerns Zehetmair, der schärfste Kritiker unter den Ministern, hat sich daran gehalten und seine Einwände auf drei Punkte reduziert:

Bei Fremdwörtern dürfe es keine Schreibweisen wie Alfabet und Apoteke, Rytmus und Reuma, Katastrofe und Diskotek geben.

Fehde dürfe nicht durch Fede, Frevel nicht durch Frefel, Thron nicht durch Tron ersetzt werden.

Und den kleingeschriebenen heiligen Vater, über den sich Zehetmair in seinem SPIEGEL-Gespräch entsetzte und der mittlerweile ein Knüller für Kabarettisten geworden ist, erklärt er zu einem Irrtum der Reformer: Dieser Papst-Titel gehöre in eine Gruppe nicht mit dem schwarzen Peter, sondern mit der Königlichen Hoheit.

Mehrere andere Neuerungen will Zehetmair hinnehmen, obwohl er sie für "absurd", "falsch" oder "weltfremd" erklärt hat.

Die Arbeitsgruppe des Düsseldorfer Staatssekretärs Besch machte sich vorige Woche alle Einwände Zehetmairs zu Eigen. Mithin werden (wenn die KMK so beschließt wie Besch es ihr vorschlägt) nur Fremdwörter eingedeutscht, bei denen sich eine entsprechende Entwicklung schon angebahnt hat. So wird es Paragraf neben Paragraph, Diktafon neben Diktaphon, Geografie neben Geographie geben. Aber durchweg wird die neue Schreibweise nur zusätzlich erlaubt, in Zeitungen und Büchern werden diese Wörter geschrieben wie bisher.

Besch bestand auf einigen Änderungen, auf die Zehetmair verzichtet hatte. Die wichtigste: Es kommt nicht zu Packet, es bleibt bei Paket. Triftige Gründe sprechen gegen diese Neuerung (siehe Kasten Seite 108).

Auch anderen Unsinn entfernte die KMK-Arbeitsgruppe aus dem Reformwerk. Willkürlich hatte angemutet, wie die Reformer Konsonanten verdoppeln wollten. Karosse sollte zu Karrosse werden, aber Karussell sollte Karussell bleiben. Und eher platt- als hochdeutsch wirkten Pott statt Pot, Jackpott statt Jackpot.

All dies wurde gestrichen, und auch Zigarrette statt Zigarette wird es nicht geben. Aber dem Besch-Team fehlte der Mut auch noch zu verhindern, dass aus dem Tip ein Tipp wird - schwer zu begreifen, denn der Hit bleibt Hit und fit bleibt fit.

Kein Zweifel, nach der Besch-Revision ist das Reformwerk akzeptabler geworden. Die Regierungschefs werden Anfang dieser Woche informiert, bevor sie zu ihrer Tagung nach Lübeck aufbrechen - um die Chancen zu erhöhen, dass sie die Reform nicht kippen, sondern sich mit einer landesväterlichen Ermahnung an die Kultusminister begnügen, das Projekt behutsam zu verwirklichen.

Die meisten Neuerungen sind vernünftig und notwendig, einige weiterhin unsinnig oder überflüssig. Werden sie nicht auch noch entfernt, wird den Deutschen im Allgemeinen und den Schülern und Lehrern im Besonderen der Umgang mit den neuen Regeln und Wörtern unnötig erschwert.

Überfrachtet ist das Reformwerk mit einigen hundert Doppelschreibungen, die es nicht nur in der Übergangszeit, sondern auf Dauer geben soll; nur wenige sind sinnvoll. Vergebens haben Schulpraktiker bei einem KMK-Hearing 1993 gewarnt, zu viele Doppelschreibungen würden "bei Schülern zu Verunsicherungen führen und den Anschein der Beliebigkeit von Regeln erwecken".

Keinen Sinn haben zum Beispiel die Doppel so dass und sodass, aufwendig und aufwändig, selbständig und selbstständig.

Bei ihrem intensiven Bemühen, "die gleiche Schreibung aller Wörter einer Wortfamilie sicherzustellen", fehlte es den Autoren des Regelwerks offenkundig an Sprachgefühl.

Aus behende soll behände werden, weil das Wort mit Hand verwandt ist. Aber daran denkt niemand, der behende als Synonym für flink gebraucht. Künftig wäre das nicht mehr so frei möglich wie bisher, keiner dürfte noch Sätze wie diesen schreiben: "Sie eilte behänden Fußes davon."

Wenn gräulich statt greulich eingeführt würde, wüsste man nicht, ob mit einem gräulichen Kleid dessen Farbe oder der Geschmack der Dame gemeint ist.

Und die Neuerer kümmerten sich sogar um Wortfamilien, die es gar nicht gibt. Aus verbleuen soll verbläuen, aus belemmert soll belämmert, aus Quentchen soll Quäntchen werden, weil das erste Wort mit blau, das zweite mit Lamm, das dritte mit Quantum verwandt sei. Nichts davon stimmt.

Angeblich hat sich im Laufe der Jahrhunderte der Irrtum verbreitet, die Wörter hätten diesen Stamm. "Volksetymologie" nennen die Sprachforscher diesen Irrglauben, aber das Volk weiß davon nichts.

Allzu eifrig waren die Reformer bemüht, Fremdwörter zu integrieren. Sie schreckten nicht mal davor zurück, Holocaust einzudeutschen: zu Holokaust.

Am schwersten trifft es zusammengesetzte Wörter aus dem Englischen.

Was getrennt war, wird zusammengeführt: Bislang gab es wie im Englischen Centre Court, Blue Jeans, Big Band und Compact Disc, künftig soll es im Deutschen stattdessen Centrecourt, Bluejeans, Bigband und Compactdisc geben.

Hat ein Wort einen Bindestrich, so wird er entfernt: Bislang gab es Art-director und Chewing-gum, künftig soll es Artdirector und Chewinggum geben.

Hat ein Wort keinen Bindestrich, so bekommt es nun einen: Bislang gab es Playback und Countdown, künftig soll es Play-back und Count-down geben.

Da hilft es nicht, dass meist die alten Schreibweisen nebenher erlaubt bleiben sollen. Entscheidend ist, was in den Zeitungen und Büchern steht. Und da würde alles anders, nichts besser.

All dies, vom behänden Fuß bis zum Eindeutschen gängiger Anglizismen, ließe sich aus dem Reformentwurf entfernen, ohne dass eine einzige Regel geändert werden müsste.

Und was geschieht, wenn die Reform doch scheitert? Die Antwort der KMK-Präsidentin Rosemarie Raab:

"Dann würde es ganz sicher in den nächsten Jahren keinen neuen Reformvorschlag geben. Es würde auf sehr lange Zeit bei der äußerst unbefriedigenden heutigen Regelung bleiben, dass die Dudenredaktion darüber entscheidet, wie sich die Rechtschreibung verändert." Y

"Weil viele Fehler machen, wird das Falsche zur Vorschrift erhoben"

Vieles ist vernünftig, manches unsinnig oder überflüssig
[Grafiktext]

Groß- und Kleinschreibung
Zeichensetzung
Buchstaben

[GrafiktextEnde]

• Am 28. September in den Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale. * Bei der Schlussredaktion des neuen Regelwerks im Mannheimer Institut für deutsche Sprache. Sitzend: Peter Gallmann (Zürich), Burkhard Schaeder (Siegen); stehend: Gerhard Augst (Siegen), Klaus Heller (Mannheim).

spiegel.de 23.10.1995

[Die Kursivierungen sind schon im originalen Spiegel-Scan verlorengegangen.]



eingetragen von Sigmar Salzburg am 19.07.2011 um 10.38

Zwei Tage nach dem Volksentscheid in Schleswig-Holstein erschien am 29.9.1998 in der Süddeutschen Zeitung ein Kommentar von Cornelia Bolesch, der für die unter „fortschrittlichen“ Journalisten herrschende Reformverblendung und den demokratieverächtlichen Durchsetzungseifer beispielhaft war und wohl noch ist:

Sprachinsel zwischen den Meeren

Eines möchte man jetzt auf keinen Fall sein: Lehrer an einer Schule in Schleswig-Holstein. Seit zwei Jahren werden dort die Kinder bereits in der neuen Rechtschreibung unterrichtet wie in den anderen Bundesländern auch. Es galt eine großzügige Übergangsfrist, die den Wechsel von den alten zu den neuen Regeln erleichtern soll. Doch „das Volk" hat dieser Politik jetzt einen Strich durch die Rechnung gemacht. Im Norden muß künftig wieder die alte Rechtschreibung gebüffelt werden. Nur die notwendigen Bücher werden dazu fehlen.

Der glanzvolle Sieg der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform" wird so zu einem markanten Beispiel für die Schattenseiten der direkten Demokratie. Denn die Missionare im Dienst der herkömmlichen Rechtschreibung haben sich offenbar nicht darum gekümmert, welche konkreten Auswirkungen ihre Abstimmung im Unterricht haben wird: Die neuen Schreibweisen dürfen nicht mehr gelehrt und geübt werden. Gleichzeitig wird es für Schleswig-Holstein aber fast nur Schulbücher mit der neuen Schreibweise geben ¹), weil die Verlage sich die Produktion erschwinglicher Sonderausgaben für ein einziges Bundesland nicht leisten können. Die Hauptlast dieser absurden Entwicklung tragen die Lehrer. Sie werden ihren Schülern zum Beispiel erklären müssen, daß der König nur in Schleswig-Holstein in einem Schloß wohnt, doch überall sonst in einem Schloss.

Die Hoffnung der Reformgegner, ihr Votum könne die neue Rechtschreibung in ganz Deutschland zu Fall bringen, scheint trügerisch. So haben sie mit einem unbarmherzigen Bürgervotum ihre Kinder im Land zwischen den Meeren auf eine Sprachinsel verbannt. Cob

¹) 10 Jahre später war noch die Hälfte der schuleigenen Schulbücher meiner Kinder herkömmlich gedruckt!

Auch ich hatte damals postwendend einen Leserbrief verfaßt und dabei die hinterhältige Denunziation „Missionare“ aufgespießt:

„Geradezu absurd wird der Kommentar, wenn er Gegner von Veränderungen der gewohnten Verhältnisse als Missionare einzustufen beliebt. Dieses Etikett trifft doch wohl eher für das kleine Häuflein ideologisch und quasireligiös motivierter Reform-Aktivisten zu, die seit langem Veränderungen der Rechtschreibung mit missionarischem Eifer betreiben und dafür selbst eine Beschädigung des Ansehens der Demokratie in Kauf nehmen.“

Das wird jetzt nochmals von Th. Ickler untermauert, der alte Zeugnisse der Arbeit der Reformersekte aufgespürt hat – zehn Jahre, bevor sie sich den Auftrag dazu von den Kultusministern „holen“ konnte:

„Man liest diese alten Dokumente mit sehr gemischten Gefühlen. Was für seltsame Zirkel es geschafft haben, die ganze deutsche Sprachgemeinschaft zu belästigen!“


eingetragen von Norbert Lindenthal am 23.06.2011 um 15.03

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Sigmar Salzburg
… Jüngst griff selbst Kanzler Kohl das Zitat auf und ließ durchblicken, er halte von der Neuregelung "gar nichts".

Ausgerechnet Helmut Kohl hier als Reformgegner zu installieren! Ende 1995, als Zehetmair als bayerischer Kultusminister die frischgedruckte Dudenauflage zum Altpapier beförderte, schwang sich Helmut Kohl zum großen Koordinator mit Gesprächen bis ins Frühjahr 1996 auf. Und ich schöpfte Mut, die nur so genannte Reform könne noch erkannt werden als das, was sie wirklich ist.

Ach, wenn doch Matthias Dräger (auch heute noch) seine ganz persönliche Geldpolitik mal offenlegen würde. Bertelsmann bekam 30 Pfennig je abgeschriebene Anschrift (von Reformgegnern), seine eigentlichen Helfer werden später vors Gericht geschleift.

Dieser Spiegelartikel könnte ob seiner enormen gesellschaftlichen Akzeptanz zum Angelpunkt einer verlinkenden Netzseite werden, wo zu den Hintergründen mehr zusammengetragen und deshalb auch klarergestellt werden kann. Dieses Internet von 2011 gab es 1997 noch nicht. 1997 gab es ein höchst erfolgreiches Volksbegehren in Schleswig-Holstein (über das im Spiegel nicht wirklich fair berichtet wurde).

Zum niedersächsischen dreistufigen Volksentscheid ist vieles, aber nicht alles gesagt. Wernstedt kann in diesem Spiegelartikel von 1997 noch als Edelmann dargestellt werden.


__________________
Norbert Lindenthal


eingetragen von Sigmar Salzburg am 23.06.2011 um 14.04

In die Falle gelaufen

Von Saltzwedel,

Ratlose Eltern, empörte Autoren, Verleger vor dem finanziellen Ruin - die Neuregelung der deutschen Orthographie ist zur teuren Groteske verkommen. Ob der anschwellende Volkszorn das unausgegorene Regelwerk zu Fall bringt oder nicht, das Chaos ist schon jetzt perfekt.

[Bild]
Peter Gallmann (Zürich), Gerhard Augst und Burkhard Schaeder (Siegen), Klaus Heller (Mannheim) und Ministerialrätin Helene Lipowsky bei der Feinabstimmung des Reformpapiers im März 1995.

Wenn Wolfgang Grudda abends heimkommt, wartet auf ihn neuerdings noch eine besondere Arbeit. "Benedikt kommt demnächst in die dritte Klasse, er ist eine ziemliche Leseratte", sagt der Familienvater aus einem Nest bei Iserlohn. "Und ich kann keine schlüssige Antwort geben auf seine Fragen, warum denn die Lehrerin etwas anderes lehrt, als es in den Büchern und Heften der Schulbibliothek und des Elternhauses geschrieben steht. Die Antwort 'Weil die Politiker das so wollen' akzeptiert er nicht."

So beugt Grudda senior sich schon mal übers Schulheft und korrigiert mit seinem Sohn "die Fehler, die ihm im Laufe des Tages von den Lehrern vermittelt wurden" - manchmal hat der Junge die Unstimmigkeiten vorher selbst entdeckt. Glück für Benedikt: Noch unternimmt seine Lehrerin, die dem Erlaß ihres Kultusministers wie viele Kollegen mehr gefügig als begierig folgt, nichts gegen die Familien-Opposition. Immerhin ist Vater Grudda Elternvertreter der Klasse und will demnächst in der Schulpflegschaft gegen die neuen Regeln "aktiv werden".

Hilde Barth hat diesen Schritt schon getan. Zweimal bereits wurde die Lehrerin aus Reutlingen vom Schulrat zu einem "Dienstgespräch" einbestellt, nur weil sie sich weigert, nach Rechtschreibregeln zu unterrichten, die amtlich ohnehin erst vom 1. August 1998 an gültig sein und bis dahin zudem noch nachgebessert werden sollen. "Die Eltern ärgern sich schwarz. Die sagen: 'Das ist doch jetzt schon alles überholt'", meint die Reformgegnerin, der bei weiterer Weigerung ein Disziplinarverfahren, ja sogar Berufsverbot drohen könnte.

Ob ein Buchhändler seinen Job verliert, weil er Kunden vom neuen Duden abrät, oder ein Beamter der hannoverschen Bezirksregierung Amtsschreiben mit einem Stempel versieht, daß "auf Grund der unklaren, unübersichtlichen und nicht mehr über- und durchschaubaren Lage" in Sachen Orthographie "keine Korrektur" mehr stattfinde: Kaum ein Tag vergeht, an dem die Rechtschreibreform nicht neue Grotesken hervorbringt. "Die Situation ist verkorkst", sagt Wolfgang Balk, Chef des Deutschen Taschenbuch Verlages in München, dessen Lektoren seit kurzem ihre "Junior"-Reihe mit Schreibungen von "dass" bis "Känguru" ausstatten müssen.

In Schulen und Verlagsstuben, Buchhandlungen, Werbebüros und Setzereien, überall bestätigt sich, was Skeptiker seit langem erwarteten: Statt Klarheit zu schaffen, hat die Rechtschreibreform Verwirrung und Unmut gestiftet - in einem Ausmaß, das ihren geplanten Nutzen schon jetzt deutlich überwiegt. Nach den widersprüchlichen Urteilen von Wiesbaden und Weimar haben viele Reformgegner Hoffnung geschöpft, daß das Regelwerk bald dort landen werde, wo es für sie seit seinem Beschluß Ende November 1995 ohnehin besser gleich geendet hätte: auf dem Müll.

Doch selbst die eifrigsten Aktivisten hatten unterschätzt, welche Mühe es kosten könnte, aus verhaltenem Ärger eine Welle des Protests zu machen. Was 1954 noch als Slapstick-Nummer vorüberhuschte - damals verschwand ein Reformvorschlag nach wenigen Tagen öffentlichen Hohngelächters wieder in den Schubladen -, hat sich diesmal zur Staatsaffäre entwickelt.

Hauptgrund für das veränderte Szenario ist, daß die Gegner der neuen Orthographie sich sammelten, als es schien, daß an ihrer Einführung schon nicht mehr zu rütteln sei. Erst mit der "Frankfurter Erklärung" Anfang Oktober 1996, in der Privatleute, Publizisten und vor allem viele Schriftsteller sich gegen die schon im Juli international besiegelte Neuordnung wandten, kam der Widerspruch in Gang. Das Papier gegen die "überflüssige, aber milliardenteure" Aktion, entworfen von dem Weilheimer Deutschlehrer Friedrich Denk, stellte alle vorherigen Einwände in den Schatten (SPIEGEL 42/1996).

Zwar hatte etwa die konservative FRANKFURTER ALLGEMEINE schon lange zuvor Experten gegen sprachgeschichtlich fragwürdige und pädagogisch halbherzige Lösungen des Regelwerks aufgeboten. In einer Artikelserie wies der schlagfertige Pariser Linguist Jean-Marie Zemb schließlich sogar Tag für Tag auf Unstimmigkeiten der sogenannten (oder, nach neuer Schreibung, "so genannten") Reform hin. Aber erst Denks Aufruf, ausgelöst durch das Entsetzen seines Sohnes über die Neusprech-Schreckensvisionen in Orwells Roman "1984", ließ viele Sprachfreunde prüfen, welche Neuerungen überhaupt anstanden.

Ursprünglich hatten die seit Jahren tagenden Experten das Gestrüpp grammatikalischer Sonderfälle zurückschneiden wollen - am liebsten bis zur gemäßigten Kleinschreibung. Amtlich blieb von den Entwürfen übrig, daß vor allem

* mehr getrennt als zusammen (Rad fahren statt radfahren) und mehr groß als klein (Schuld geben statt schuld geben) geschrieben werden solle;

* Kommata freier gesetzt werden könnten;

* ß nach kurzem Vokal in ss ausgetauscht werden solle (dass statt daß);

* s-t wie s-p getrennt werden müsse (Wes-te statt We-ste) und

* überhaupt möglichst stets so getrennt werden solle, wie die Silben gesprochen würden (Zu-cker statt Zuk-ker, da-rauf statt dar-auf).

Doch so plausibel die Vorschläge auf den ersten Blick aussahen, bald zeigte sich, daß der Regelkompromiß mehr Zweifelsfälle schuf, als er schlichtete. Schlimmer noch: Häufig ersetzte das Reformwerk die gewachsene Ausdrucksvielfalt durch Einerlei, störte - vor allem mit der Komma-Freiheit - die Sicherheit beim Lesen und kappte bedenkenlos historische Wurzeln.

Um Schreibweisen wie "Buklee", "Grislibär", "nummerieren", "Zierrat", "platzieren" oder "Tollpatsch", allesamt ohne Rücksicht auf die Herkunft dieser Wörter beschlossen, tobte zunächst der heftigste Streit. Der Konsonantenstau in "Flanelllappen" oder "Flusssand" ließ Sprach-Ästheten in "Stresssituationen" verfallen.

Aber auch die Trennregeln schmerzten heftig. Kürzlich vermutete ein Leser der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, dank der neuen Freizügigkeit würden wohl bald "Tee-nager alla-bendlich Obst-ruktion" betreiben. Von erlaubten Möglichkeiten wie "Altbauer-haltung" raten selbst Experten ab.

Schwerer jedoch als solche Zankäpfel (die manch tumbes Computer-Trennprogramm bereits ungeniert als Zan-käpfel serviert) wiegen Fälle, in denen Mißverständnisse möglich werden. Sätze wie "Ich rate ihm zu helfen", "Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu" oder "Sie suchte den etwas ungenauen Stadtplan in der Hand ein Straßenschild" beweisen, daß Kommata nach Gusto rasch das Durcheinander "vol-lenden" könnten.

Wirr wirken auch die Regeln für Getrennt- und Zusammenschreibung. Zwar dürften "frisch gebackene Eheleute" - wie sie laut der Reform geschrieben werden müssen - nur von Kannibalen für leckere Schmorbraten gehalten werden. Doch wer die offiziellen Formen "wieder herrichten" und "wiederherstellen", "hintenüberfallen" und "vornüber fallen" vergleicht, kann an Vereinfachung nicht mehr glauben. Auf Schritt und Tritt ertappten die Kritiker das Wörterwerk bei solcher Konfusion. Kein Wunder, daß sie es als "mies gemacht" empfanden (so die einzig erlaubte Schreibweise), während sich die Reformer, entgegen ihren Vorgaben, miesgemacht fühlten.

Klein beigeben mochten die Professoren und Kultusminister deshalb noch lange nicht - schließlich war das Reformwerk amtlich und wirtschaftlich längst zur Planungsgröße geworden. Wie Chefredakteure, die für Hitlers angebliche Tagebücher viel Geld ausgegeben hatten und schon deshalb nicht an eine Fälschung glauben konnten, reagierten die Reform-Betreiber aus den Kultusministerien abwiegelnd: Der "demokratische Entscheidungsprozeß" sei "im ganzen deutschsprachigen Raum abgeschlossen".

Doch ihre Gegner ließen sich durch den Obrigkeitston nicht schrecken. Unterstützt von den meisten großen Literatur-Verlegern wie Diogenes, Suhrkamp, Hoffmann und Campe, Aufbau, Hanser oder Reclam, die ihren Dichtergrößen kein Komma amputiert sehen wollen, prüften sie systematisch, wie der verordnete Neuschrieb zu stoppen wäre. Inzwischen laufen, neben einer noch im Juni bekräftigten "Untersagungserklärung" namhafter Schriftsteller (SPIEGEL 23/1997), gleich fünf Anträge auf Volksbegehren - in Bayern, Sachsen, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

Wichtiger als die langwierigen Plebiszit-Verfahren ist, daß so gut wie alle bekannteren Bonner Politiker sich inzwischen von dem Reformwerk distanzieren. Nachdem Mitte Mai im Haushaltsausschuß des Bundestages eine klare Mehrheit die neuen Regeln abgelehnt hatte, sieht Detlef Kleinert, FDP-Abgeordneter aus Hannover, beste Chancen für seinen Gruppenantrag gegen die neue Orthographie, über den im Herbst der Bundestag abstimmen soll.

Kleinerts Parteichef Wolfgang Gerhardt und FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms halten die Reform sowieso für mißglückt - wie SPD-Fraktionsführer Rudolf Scharping und Bildungsminister Rüttgers (CDU), aber auch Hamburgs Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi oder CDU-Doyen Alfred Dregger ("Verarmung der Sprache"). Ausgerechnet bei einem Besuch in Schanghai gab Bundespräsident Herzog zu Protokoll, daß ihm die Orthographie-Änderung samt der Aufregung darüber "überflüssig wie ein Kropf" vorkomme. Jüngst griff selbst Kanzler Kohl das Zitat auf und ließ durchblicken, er halte von der Neuregelung "gar nichts".

Mit ihrem späten Abrücken vom Kultusminister-Beschluß folgen Bonns Größen einer lange bekannten repräsentativen Befragung, worin über 70 Prozent der Deutschen neue Schreibgewohnheiten für unnötig erklärten - in einer Ted-Umfrage der BILD-Zeitung vom Donnerstag plädierten gar über 90 Prozent dafür, die Reform zu kippen. Aber den Politikern dürfte auch das Durcheinander zu denken gegeben haben, das seit fast einem Jahr unter deutschen Sprachlexika herrscht.

Kaum war im Frühsommer 1996 abzusehen, daß die Länder der Reform zustimmen würden, nahmen Wörterbuch-Hersteller sich des neuen Bestsellerthemas an - da der Duden dank der Neuregelung sein Monopol für Maßgeblichkeit verlieren würde, hatten sich gleich mehrere Redaktionen auf das frei verfügbare Sprachmaterial gestürzt. Schon einen Tag nach Besiegelung des Reformtermins warf Bertelsmann sein 1000-Seiten-Werk "Die neue deutsche Rechtschreibung" auf den Markt.

Inzwischen jedoch, nach Rekordgewinnen vor allem für Duden, Bertelsmann und ein besonders preisgünstiges Aldi-Wörterbuch, ist der Katzenjammer bei den Käufern groß. Tausende von Unterschieden, vermuten nicht nur Reformgegner, gibt es zwischen den konkurrierenden Nachschlagewerken. Jede Redaktion scheint die Regeln anders interpretiert zu haben, sofern sie sich nicht aus purer Eile vertat.

162 Differenzen von Duden- und Bertelsmann-Version stellte im Juni die FAZ in einer Tabelle gegenüber. Selbst einzelne Auflagen desselben Werks unterscheiden sich, weil laufend nachgebessert wurde - in Fremdworten wie "Dolce Vita", aber auch so normalen Wörtern wie "ein für allemal" (Duden: "ein für alle Mal") oder "blaumachen" (Bertelsmann: "blau machen"). Der Absatz neuer Duden-Wörterbücher liegt hinter den Zahlen früherer Jahre, so verunsichert sind die Käufer.

"Die einheitliche deutsche Rechtschreibung ist dahin", resümiert Theodor Ickler, 53, das babylonische Wortgewirr. Der Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen-Nürnberg hat soeben ein Buch herausgebracht, in dem er mündigen Lesern rät, sich mit der "staatlichen Zwangsbewirtschaftung der Sprache" nicht länger abzufinden. Titel des deftigen, beispielprallen Bändchens: "Die sogenannte Rechtschreibreform - ein Schildbürgerstreich" (Leibniz Verlag; 19,80 Mark).

Wie treffend der Vergleich ist, zeigt sich auch daran, daß bereits eine eigene Kommission der Reformer die Widersprüche in den Wörterbüchern untersucht. Bis zum offiziellen Start der neuen Schreibweisen am 1. August 1998 soll alle Unklarheit behoben sein, erklärte vergangene Woche der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Rolf Wernstedt (SPD) aus Niedersachsen. Bestenfalls kann das nur heißen, daß jeder Käufer eines neuen Wörterbuchs irgendwann noch in einer umfangreichen offiziellen Ergänzungsliste blättern muß, um Schreib-Klarheit zu gewinnen.

Die aber wäre sofort nötig - meinen zumindest die Schulbuchverleger. Bis Mitte dieses Jahres waren schon mindestens 50 Millionen Mark in die Umstellung ihrer Bücher geflossen; kippte die Reform Ende dieses Jahres, wären Lagerbestände im Wert von 200 Millionen Mark Makulatur. Der Cornelsen Verlag, einer der Riesen im Lernmittelfach, hat schon 10 von geschätzten 20 bis 30 Millionen Mark für den Neusatz ausgegeben, auf eigenes Risiko und ohne irgendwelchen Extra-Umsatz. Auch Michael Klett aus Stuttgart rechnet mit etwa 15 Millionen Mark für eine Umstellung, deren Planung "wild und unorganisiert" gewesen sei - Verluste durch das Zögern der Kundschaft nicht eingerechnet.

"Die Verlage sind alle in die Falle gelaufen", sagt Georg Enzian vom Verlag Ferdinand Schöningh, "und die öffentliche Hand pfeift sich was." Erwiese sich die Umstellung als rechtswidrig, dann befürchtet Enzian sogar, daß manche Schulbehörde ihre neu erworbenen Lehrmittel kostenlos in herkömmlich geschriebene zurücktauschen will. Juristen des Verlagsverbandes prüfen unterdes, ob bei einem Reformstopp Klagen auf Schadensersatz Aussicht hätten.

In jedem Fall wird die "subventionierte Legasthenie" der neuen Regeln (so jüngst Übersetzer und Kolumnist Harry Rowohlt) das mit Abstand teuerste Kultur-Lehrstück der Nachkriegszeit werden. Vielleicht bleibt sie eines Tages sogar als rührender Stolper-Schritt in die globalisierte, entstaatlichte, individualisierte Welt in Erinnerung. Oder sie bestätigt umgekehrt, was um 500 vor Christus der konservative Konfuzius lehrte:

"Wenn die Begriffe nicht klargestellt sind, dann treffen die Worte nicht das Richtige. Wenn die Worte nicht das Richtige treffen, dann kann man in seinen Aufgaben keinen Erfolg haben, dann können Ordnung und Harmonie nicht blühen ... Wenn Ordnung und Harmonie nicht blühen, dann sind die Strafen nicht gerecht. Wenn die Strafen nicht gerecht sind, dann weiß das Volk nicht mehr aus noch ein."

spiegel.de 4.8.1997


eingetragen von Sigmar Salzburg am 29.05.2011 um 11.27

Der „Spiegel“ berichtete am 2.4.1973 wohlwollend über die laufende erste Angriffswelle auf die bewährte Rechtschreibung („der keiser isst opst, der apt al“), die ein halbes Jahr später am baden-württembergischen Kultusminister Wilhelm Hahn scheitern sollte. Als die Kleinschreibersekte auf dem langen Marsch zwanzig Jahre später die Ministerien wieder im Griff hatte, ihre „gemäßigte“ Kleinschreibung bei der Kungelei aber zu einer „unmäßigen“ Großschreibung mutiert war, priesen sie ihr Machwerk dennoch als „noch nie … wissenschaftlich so sorgfältig begründet“. – Der größte Humbug wurde 2006 widerstrebend zurückgenommen, der Rest belästigt die Deutschtradition noch heute.

„Spiegel“ v.2.4.1973:

KLEINSCHREIBUNG

Busen als Beweis

Für eine gemäßigte Kleinschreibung setzen sich immer mehr Pädagogen, Politiker und Privatleute ein. Deutschlands Orthographie-Papst Professor Grebe empfahl, schon vor einer Reform klein zu schreiben.


Um das "kostbare Gut der deutschsprachigen Schreibung" sorgen sich der Frankfurter Verleger Heinrich Scheffler und viele andere Mitbürger. Sie zetern über "verschwörerische" Aktivitäten für Kleinschreibung, die anscheinend urplötzlich in der Bundesrepublik eingesetzt haben und derzeit geradezu grassieren.

Und fast alle, die an groß geschriebenen Hauptwörtern festhalten wollen, klammern sich auch an einen Busen. Das sekundäre Geschlechtsmerkmal dient den Konservativen als Beweisstück: Ob jemand Trost an einer Schönen Brust oder an einer schönen Brust suche, sei ein Unterschied, der dem Leser nur mittels Großschreibung aufgehe.

Die Neuerer hingegen empfehlen einem derart geschwollenen Stil kalte Umschläge. Eine Aussage, die man nur mit Großbuchstaben geschrieben verstehe, sei ohnehin schlechtes Deutsch.

Mit derartigen Argumenten liefern sich Groß- und Kleinschreiber in den Leserbriefspalten der Tageszeitungen erbitterte Gefechte, seit die Deutsch-Dozenten an den Pädagogischen Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen sich im letzten Sommer für eine Rechtschreib-Reform eingesetzt haben. Sie fordern die "gemäßigte Kleinschreibung": Zunächst sollen Grundschüler lernen, nur noch Satzanfänge und Eigennamen groß zu schreiben.

Der Vorschlag beflügelte Politiker aller Parteien. In zahlreichen Landtagen brachten Abgeordnete klein geschriebene Anfragen ein: ob und warum nicht endlich die gemäßigte Kleinschreibung eingeführt würde.

Im Februar hängte sich der Deutsche Germanistentag mit großer Mehrheit an die Kleinschreib-Welle an. Mitte März einigte sich die gemeinhin kontrovers gestimmte Kultusministerkonferenz (KMK) auf die Vorab-Entscheidung, jetzt sei ein "günstiger Zeitpunkt" für die ersehnte Reform erreicht. Nur sei "ein gemeinsames Vorgehen in den Ländern mit deutscher Sprache nach wie vor erforderlich".

Eine Woche später, am 24. März, wurde nahe am Bodensee, in Tuttlingen, ein "internationaler Dachverband zur Vereinfachung der Rechtschreibung in den deutschsprachigen Ländern" gegründet. Reformfreunde aus Österreich und der Schweiz vereinten sich mit dem Tuttlinger Gastgeber, der "aktion kleinschreibung".

Der Vorsitzende der Tuttlinger Kleinschreiber, der Realschullehrer Wilhelm Werner Hiestand, 30, ist über den Erfolg "unserer Bürgerinitiative" selber überrascht: "Unser Verein wurde im Mai 1972 hauptsächlich von Lehrern gegründet, die es gründlich satt haben, tagtäglich neue Unterrichtszeit für das Einpauken sinnloser Rechtschreibregeln zu opfern"

Statt dessen opfern sie nun erheblich mehr Stunden für die Reform. In knapp zehn Monaten gewannen sie über 300 zahlende Mitglieder, von denen gut zwei Drittel Lehrer sind. Und sie dokumentierten die Nachteile der seit 1901 verbindlichen Rechtschreibung, der selbst Fachgelehrte ohne "Duden nicht gewachsen sind, mit empirischen Daten:

* 96 Prozent aller Lehrer sind überzeugt, daß ihre Schüler die Groß- und Kleinschreibung nicht beherrschen.

* 20 bis 50 Prozent aller Rechtschreibfehler beruhen auf Unkenntnis der Regeln für Groß- und Kleinschreibung.

* Es gibt 78 Regeln für die Groß- und Kleinschreibung, 83 Regeln zum Zusammen- oder Getrenntschreiben, 50 Regeln zum Bindestrich, 20 Regeln zur Silbentrennung, 20 zum Apostroph.

* Das willkürliche Groß und Klein rührt aus den Anfängen der Buchdruckerkunst her, als die Meister nach Lust und Laune einzelne Wörter mit einem Großbuchstaben beginnen ließen. Als vor 200 Jahren dann die ersten Regeln eingeführt wurden, richteten sich die Reformer nach dem damals Üblichen.

So erstaunt es heute auch niemanden, daß Grundschüler weitaus häufiger für Rechtschreibung als etwa für Rechnen die Note "mangelhaft" bekommen und deshalb auch sitzenbleiben. Dazu der langjährige Leiter der Hamburger Schülerhilfe, Dr. Walter Barsch: "Wegen Sachkunde bleibt niemand sitzen, obwohl Sachkunde wohl das wichtigste Fach in der Grundschule ist."

In Hamburg dürfen daher seit dem letzten Jahr Grundschüler wegen mangelhafter Rechtschreibleistungen nicht mehr sitzenbleiben.

Dem Hamburger Schulsenator Günter Apel (SPD) ist selbst das noch zu wenig. Vorletzte Woche forderte er seine KMK-Kollegen zu einer "unmißverständlichen Willenskundgebung" für die Kleinschreibung auf; die Orthographie-Regeln seien nicht mehr haltbar.

Apel: "Kinder, die nicht begreifen, warum sie "radfahren" klein und "Auto fahren" groß schreiben sollen, denken richtig und normal. Erwachsene, die ihnen diese Regeln eintrimmen, verbiegen das logische Denken der Kinder."

Konservative Rechtschreiber wittern hinter so logischen Gedankengängen den "verschwörerischen Eifer" von lichtscheuen Revoluzzern -- so Karl Korn, Kultur-Monument der "FAZ". Korn weiß, was dabei herauskommt: "In dreißig Jahren würden die gewaltigen Reservoire unserer Bibliotheken umgedruckt werden müssen."

Solcher Unsinn, apodiktisch vorgetragen, verunsichert selbst viele Reformer. Sie trauen sich daher auch nicht, die radikale Kleinschreibung zu fordern, obschon sie heimlich "so schreiben. Denn rationell (durch den Fortfall aller Großbuchstaben) ist allein diese Schrift, die aus Fernschreibern und Computern kommt und trotzdem verstanden wird.

Verluste müßten freilich Verlage hinnehmen, die ihren Stehsatz nicht mehr benutzen könnten. Und daher lauschen Verleger gern den Tiraden der Konservativen und ihres Korn, der die deutsche Rechtschreibung schlechthin für "nicht reformierbar" erklärt.

Aber die Erkenntnis, daß nahezu alles außer Korn -- erneuert werden kann, sickert gleichwohl durch und beseelt selbst einen Deutsch-Nestor vom Kaliber des Professors Paul Grebe. Der Gelehrte, der lange Jahre die Mannheimer "Duden"-Redaktion geleitet hat und dabei zum Orthographie-Papst avancierte, will nicht länger auf eine amtlich verordnete Reform warten.

In Tuttlingen empfahl Grebe den Schreibreformern, sie sollten sich schon jetzt in ihrem privaten Schriftverkehr der gemäßigten Kleinschreibung befleißigen.

spiegel.de 2.4.73

Dagegen steht die Einsicht des ehemaligen Reformers Prof. Peter Eisenberg in einem Vortrag am 22.1.2007:
„Innerlich gab es überhaupt keinen Grund, die deutsche Orthographie zu reformieren – auch nicht übrigens die Großschreibung der Substantive abzuschaffen, das ist ne ganz gute Sache.“
[Heiterkeit, Beifall]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 29.05.2011 um 10.02

Auf dem hiesigen „Nachrichtenbrett.de“ gibt es einige Schätze, die schwer zu heben sind, z.B. der folgende (gekürzte) Artikel, den ich daher hier noch einmal heraushebe: Das in der WELT v. 23.11.1973 veröffentlichte Interview, das Dankwart Guratzsch mit dem damaligen baden-württembergischen Kultusminister Hahn geführt hatte. Nach dem offenkundigen Versagen der Kultusminister seit 1996 kann sein Verdienst nicht genug gewürdigt werden, den ersten Angriff auf die bewährte traditionelle Rechtschreibung abgewehrt zu haben. Die sonst geschwätzige Wikipedia schweigt darüber bis heute.

Zu früh auf Grün geschaltet
WELT-Gespräch mit Kultusminister Wilhelm Hahn


DIE WELT: Herr Prof. Hahn, waren die Kultusminister gut beraten, als sie beschlossen, die Wiesbadener Empfehlungen von 1958 wiederaufzunehmen?

Prof. Hahn: Ich möchte dazu sagen, daß der Beschluß der Kultusminister vielfach überinterpretiert worden ist. Es war so, daß wir sehr kurzfristig vor die Frage gestellt wurden, ob wir bereit wären, für eine Korrektur der derzeitigen Regeln in der Rechtschreibung grünes Licht zu geben. Und sämtliche Kultusminister waren wohl der Meinung, daß es eine ganze Reihe von Regeln gibt, die unsinnig oder außerordentlich kleinlich sind, daß es also wirklich einer gemäßigten Korrektur bedarf. Dagegen waren wir nicht der Meinung, daß die Grundsätze beziehungsweise auch die Einzelvorschläge des Wiesbadener Programms tatsächlich so realisiert werden sollten...

DIE WELT: Dennoch haben die Kultusminister ihren Beschluß einstimmig gefaßt - wie reimt sich das zusammen?

Prof. Hahn: Ich gebe zu, daß wir unvorsichtig darin gewesen sind. Das Wiesbadener Programm ist in keinem Augenblick durchgesprochen worden, es ist auch nicht verlesen worden, es ist auch nicht irgendwie inhaltlich beraten worden. Wir waren zeitlich einfach nicht in der Lage, uns mit dieser Frage, die ja doch sehr weitreichend und tiefgreifend ist, auseinanderzusetzen, und von seiten der CDU-Kultusminister und wahrscheinlich auch einiger anderer dürfte der Beschluß wohl nur so verstanden worden sein, daß über diese Frage weiter verhandelt werden soll. Aber wir haben uns auf keinen einzelnen Punkt festgelegt. Zu den inhaltlichen Fragen haben wir in Wirklichkeit noch gar nicht Stellung genommen.

DIE WELT: (...) Haben die Kultusminister damit gerechnet, daß die Reaktionen der Öffentlichkeit so heftig sein würden, und wie werden sie darauf reagieren?

Prof. Hahn: Damit haben die Kultusminister bestimmt nicht gerechnet, weil sie eigentlich nur die Debatte wieder in Gang bringen wollten. Und ich bin der Meinung, daß so, wie die Dinge sich entwickelt haben, es dringend notwendig ist, daß die Kultusministerkonferenz auf einer ihrer nächsten Zusammenkünfte die Frage wiederaufnimmt und nun zu einer inhaltlichen Diskussion des Problems kommt...

DIE WELT: Ist es verantwortbar, ganz bestimmte Erwartungen an eine Rechtschreibreform zu reizen, ehe es gründliche Reihenuntersuchungen mit wissenschaftlich haltbaren Ergebnissen über die Folgen gibt?

Prof. Hahn: Ich glaube, daß, nachdem die Sache so virulent geworden ist und plötzlich in der breiten Öffentlichkeit auch Interesse findet und nachdem auch eine Reihe von ganz unsachlichen Argumenten in den Vordergrund gerückt werden, unter Umständen auch politische Dinge, die in Wirklichkeit mit der Sache gar nichts zu tun haben - ich glaube, daß es dringend notwendig ist, die Diskussion auf eine wissenschaftliche Basis der Sprachwissenschaft und der Lesepsychologie zurückzuschrauben und von daher das ganze Problem neu zu überdenken.

(Anm.: Wilhelm Hahn war Kultusminister von Baden-Württemberg; die Wiesbadener Empfehlungen gehören in die Tradition der „gemäßigten Kleinschreibung“. - Th. I.)

nachrichtenbrett WELT v. 23.11.1973


eingetragen von Sigmar Salzburg am 13.05.2011 um 09.30

Die gelernte Sozialarbeiterin Ingrid Stahmer war in der Berliner Großen Koalition unter CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen von 1995 bis 1999 militante SPD-Schulsenatorin. Ein winziges Detail in einer Fernsehdiskussion erhellt das Klima der Reformdurchsetzung 1997 (nach NürnbergWiki).

Klaus Deterding, promovierter Germanist, Literaturwissenschaftler, Gesamtschulrektor und Schriftsteller, Leiter der Berliner Bürgerinitiative „Wir sind das Rechtschreibvolk!“ war zur Diskussion geladen mit Schulsenatorin Stahmer, Prof. Rolf Gröschner und dem Gast Prof. Peter Eisenberg in „Pro und contra RechtschreibDeform“ („Berliner Platz“ des SFB am 3.5.1997).


Eisenberg: „Diese Reform ist sprachwissenschaftlich unhaltbar und gehört ‚auf den Müll’!“ Der Moderator fragte Deterding, ob er diese Meinung teile. Deterding bejahte. Daraufhin zischte die Oberschulrätin ihm zu: „Das werden Sie bereuen!

nuernbergwiki.de


eingetragen von Sigmar Salzburg am 02.03.2010 um 12.23

RECHTSCHREIBUNG
Angriff aufs dritte F
Warum Grundgesetzkommentator Rupert Scholz (CDU) die Reform für verfassungswidrig hält

Von Ulrich Reitz

Ein richtiger deutscher Professor macht keine halben Sachen. Und so erklärt Rupert Scholz, immerhin Grundgesetzkommentator, die Rechtschreibreform kurzerhand für illegal: „Die Reform kann so nicht realisiert werden. Das wäre verfassungswidrig.“

Ein Generalangriff des Vize-Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag auf die Länder. Sie beschlossen die neuen Regeln in der Kultusministerkonferenz, verständigten sich mit Österreich und der Schweiz und ließen die Reform schließlich vom Bundeskabinett abnicken.

Die Länder berufen sich auf ihre Kulturhoheit. Scholz widerspricht: „Die Rechtschreibreform fällt in die Kompetenz des Bundes – und zwar kraft Natur der Sache.“ So habe auch das Bundesverfassungsgericht entschieden. Es gehe bei der Sprache um ein „grundlegendes Identitätsmerkmal des gesamten deutschen Volkes – wir haben ja auch nicht 16 Deutschländer“.

Konsequenz: „Der Bund ist zuständig und nicht die Länder.“ Hat Scholz recht, hätte Innenminister Manfred Kanther (CDU) den Ländern schon längst in die Parade fahren müssen. Jedenfalls läßt der konservative Rechtsprofessor die Initiative seines liberalen Kollegen Detlef Kleinert weit hinter sich. Der will mit seinen Anhängern praktisch nur durchsetzen, daß der Bund sich in seiner Amtssprache an die alten Regeln hält.

Die Reformmuffel kommen mit ihren Einwänden spät, was sie auch zugeben. CSU-Chef Theo Waigel: „Es ist spät, aber noch nicht zu spät.“ Grund für die Initiativen ist grassierender Volkszorn und die sich immer weiter verbreitende Furcht, die Rechtschreibreform könnte Wählerstimmen kosten.

Deswegen soll der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair, ein Verfechter des neuen Regelwerks, auf Geheiß von Ministerpräsident Edmund Stoiber in dieser Woche in der Kultusministerkonferenz wenigstens die Zumutungen (z. B. Schifffahrt, Portmonee) eliminieren.

Ob die Proteste einen großen Verfassungskonflikt um die Grenzen des Föderalismus ankündigen, ist offen. Wohl dem, der da die Gelassenheit des Bundespostministers besitzt. „Ich verwende das alles nicht mehr“, winkt CSU-Minister Wolfgang Bötsch ab. „Das ist die Gnade der frühen Geburt.“

focus.de 24.02.1997


eingetragen von Sigmar Salzburg am 19.09.2009 um 07.41

RECHTSCHREIBREFORM

„Ihr spinnt ja"

Wes-terland trennt sich wieder We-sterland:
Per Volksentscheid haben die Schleswig-Holsteiner das Recht
auf die alte Rechtschreibung erstritten.


Das bißchen Chaos hat sich Gerhard Augst, 59, schon immer gewünscht. „Zwei Rechtschreibungen nebeneinander", schwärmte der mächtigste deutsche Sprachwissenschaftler, das wär' was: „Dann wird doch mal deutlich, daß Rechtschreibung nicht so etwas Sakrosanktes ist, wie uns in den letzten 40 Jahren vorgegaukelt wurde."
Nun ist der Wunsch erfüllt. Im schleswig-holsteinischen Norderstedt, hart an Hamburgs Stadtgrenze, kann der Chef der Reformkommission beim Institut für Deutsche Sprache zugucken, wie es geht.
Im Deutschunterricht der Grundschule Glashütte herrscht diffuse Milde wie sonst nur in der Religionsstunde. Wie, um Himmels willen, trennt man Hustensaft?
Die Kinder in Klasse 4 b klatschen zu den Silben rhythmisch in die Hände. Nützt nichts, Julia, 9, schreibt entschlossen an die Tafel: „Hu-stensaft".
„Das ist früher richtig gewesen", sagt freundlich Lehrerin Hildegart Schmidt. Da galt: Trenne nie „st", denn es tut ihm weh.
Also gut: nun Hus-tensaft.
Das ist schon besser, zur Zeit jedenfalls, weil es der reformierten Rechtschreibung entspricht. Aber auch wieder nicht, weil nach den Herbstferien der Hustensaft in der 4 b entgegen allem, was in den Schulbüchern steht, wieder wie früher vor dem „s" getrennt werden muß.
So steht es im „Umsetzungserlaß zur Altschreibung" aus dem Kieler Kultusministerium, der zur Zeit nicht nur in der 4 b, sondern von allen 312000 schleswig-holsteinischen Schülern noch korrekt als „Umsetzungserlass" zu buchstabieren ist.
Umsetzen muß Schleswig-Holsteins Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD) das fatale Ergebnis vom Wahlsonntag. Die Mehrheit, 56,4 Prozent, hat der Landesregierung aufgegeben, die seit zwei Jahren an den Landesschulen verbindliche Neuschreibung wieder zurück zu reformieren.
Die „eigentlichen Verlierer" des basisdemokratischen Aufbegehrens seien die Kinder, empörte sich die Kieler Schulministerin Böhrk. „AbsurdesTheater", wütet der Verband der Schulbuchverlage, dessen Druck-Erzeugnisse nun im Land zwischen den Meeren kaum noch verwendbar sind.
Der Alleingang des kleinen Bundeslandes gegen die Rechtschreibreform, die seit dem 1. August im gesamten deutschsprachigen Europa durchgesetzt ist, hat nun keineswegs die „Signalwirkung", die der Lübecker Initiator der Volksinitiative, Matthias Dräger, sich verspricht. Statt dessen freuen sich die Reformer über einen „Asterix-Effekt": Gegen die wehrhafte Rotte im Norden schließen sich die Reihen der Linguisten nur noch fester.
Mit Verweis auf die Interessen der Kinder und die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Orthographie ist es nun nicht mehr schwer, das wirre Reformwerk zum nationalen Anliegen zu erheben: Die übrigen Länder haben ausnahmslos deutlich gemacht, daß sie den mühsam errungenen Reformkonsens um der 312 000 schleswigholsteinischen Schüler willen keinesfalls verlassen wollen.
„Pädagogisch unverantwortlich", so ließ die Kultusministerkonferenz verlauten, wäre es, jetzt erneut an eine Reform zu denken.
Pädagogisch unverantwortlich ist aber auch das neue Doppelschreib. „Wenn sich

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Rechtschreib-Rebell Dräger, Gegnerin Böhrk
Asterix und die Linguisten

ein Junge aus Kiel nach der Schule in München um einen Ausbildungsplatz bewirbt, erhält er die Antwort, er könne ja nicht mal richtig Deutsch schreiben", fürchtet die Kieler Regierungschefin Heide Simonis (SPD). Und in der 4 b in Norderstedt liegt das Problem noch näher. Nur über die Straße beginnt das Hamburger Staatsgebiet. Und in der Hansestadt, wo viele Norderstedter Schüler ihre Freunde haben und wo viele Eltern arbeiten, gilt natürlich Neuschreib.
Was auch in Norderstedt über die deutsche Orthographie gelehrt wird, es hat nun stets den Makel, daß es nebenan nicht gilt. Wenn nichts richtig richtig und nichts richtig falsch ist - wozu da noch lernen?

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Deutschunterricht in der Grundschulklasse 4 b in Norderstedt:
Nichts richtig richtig, nichts richtig falsch


Die Rechtschreibung, sagt der Norderstedter Schulleiter Wolf Goos, müsse vor allem „gebrauchsfähig" sein. Für „Verschrobenheiten" seien Schüler und Lehrer zu schade.
Verschroben genug ist der Streit, der in Schleswig-Holstein nun um die Umsetzung des Volkswillens losgeht. Per Schnellbrief wird Ministerin Böhrk ihre Lehrer anweisen. In Schleswig-Holstein soll künftig die ältere Orthographie gelehrt, die neue nur geduldet werden, in Restdeutschland aber ist es umgekehrt.
Vorkämpfer Dräger von der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform" hat schon eine Klage vor dem Verwaltungsgericht gegen den Kieler Toleranzerlaß angedroht: Die neue Rechtschreibung dürfe nicht mal geduldet werden, sie müsse ersatzlos verschwinden.
Der Wortlaut des Rechtschreibgesetzes, das der Landtag in den nächsten Wochen ratifizieren muß, ist auf Drägers Seite. 830000 Bürger [genauer:885511] haben für folgenden Text gestimmt: „In den Schulen wird die allgemein übliche Rechtschreibung unterrichtet. Als allgemein üblich gilt die Rechtschreibung, wie sie in der Bevölkerung seit langem anerkannt ist und in der Mehrzahl der lieferbaren Bücher verwendet wird."
In ihrer Not hat die Kieler Kultusministerin schon beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels anfragen lassen, ob sich denn absehen lasse, wann das Land vom Fluch des Dräger-Gesetzes erlöst werden könne und die Bücher-Mehrheit auf der Seite der neuen Schreibweise angekommen ist.
Das sieht schlecht aus. Friedhelm von Notz vom Verlagsausschuß des Börsenvereins findet das deutsche Buchwesen „überhaupt nicht geeignet für eine Schiedsrichterrolle". Notz kennt seine Klientel: Er könne die Verlage kaum verpflichten, Rechenschaft über den Reformstand in der deutschen Literatur abzulegen. „Die werden sagen, ihr spinnt ja wohl." Und die Orthographie in allen 800000 lieferbaren Titeln zu checken, sagt Notz, dazu habe niemand Zeit.
Verfassungsrechtler in Kiel wittern schon eine Chance: Ein Gesetz, das unüberprüfbare Voraussetzungen enthält, ist unklar und damit verfassungswidrig. Doch das hätte den Juristen eher einfallen müssen: Die Landesverfassung sieht ein rechtliches Vorprüfungsverfahren für Volksgesetzentwürfe vor. Der Rechtschreibentwurf hat das Verfahren ohne Beanstandung passiert.
Heide Simonis, die kaum einem Krach aus dem Wege geht, hat schon laut darüber nachgedacht, das unliebsame Gesetz „einfach durch ein neues zu korrigieren". Schließlich kann die rot-grüne Mehrheit im Landtag - Volk hin, Volk her - beschließen, was sie will.
Darf das Parlament mit seiner Gesetzgebungsmacht unliebsame Plebiszite einfach kippen? Im Wortlaut der Landesverfassung findet sich keine Sperrklausel zugunsten des Volkes. Der Hamburger Staatsrechtsprofessor Hans-Joachim Koch warnt jedoch: „So ein Hase-und-Igel-Spiel wäre gegen den Geist der Verfassung." Und auch Simonis sieht: „Die Folge wäre vermutlich eine erneute Klage. Und das Spiel geht so lange, bis die Schleswig-Holsteiner der Lächerlichkeit preisgegeben sind."
Die Initiative, so diskutieren Kieler Regierungsjuristen, könnte allenfalls von den Eltern schleswig-holsteinischer Schüler ausgehen. Sie könnten Verfassungsklage erheben und rügen, ihre Elternrechte und die Grundrechte ihrer Kinder seien verletzt, wenn die Kleinen im Deutschunterricht unbrauchbaren Orthographie-Schrott lernen müssen.
Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht im Juli erst Verfassungsbeschwerden gegen die Rechtschreibreform zurückgewiesen und in diesem Zusammenhang Bedenken gegen unterschiedliche Schreibregelungen in unterschiedlichen Ländern weggewischt: Das „Ausscheren eines Beteiligten aus dem Kreis derer, die sich zuvor auf gemeinsame Regeln und Schreibweisen verständigt haben", sei „nicht notwendig" verfassungswidrig.
Nicht notwendig, aber vielleicht dennoch. Die Karlsruher Passage, in Schleswig-Holstein als Ermunterung für den Alleingang verstanden, steht in einem rechtlichen Zusammenhang, der gar nichts mit dem Grundrechtsschutz der betroffenen Bürger zu tun hat.
Das Gericht stellte vielmehr Erwägungen darüber an, ob das gesamte Thema Rechtschreibung möglicherweise der Länderkompetenz entzogen und vom Bund zu regeln sei. Die Gefahr, daß ein Land mal an den Regeln herumbastelte, so der Ratschluß der Richter, mache die Materie noch nicht zur nationalen Angelegenheit.
Die Chaostheorie des Sprachverbesserers Augst hat damit ebensowenig ihren Segen bekommen wie das real existierende Chaos zwischen Nord- und Ostsee.
Eine Chance, wenn sie wollen, hätten auch die anderen, die reformtreuen Länder. Sie könnten, ebenfalls vor dem Bundesverfassungsgericht, die Falschschreiber aus Kiel zum Umkehren zwingen. Der Grundsatz, daß im Bundesstaat nicht ein Land das Zusammenleben unterm nationalen Dach obstruieren darf, ist als ungeschriebene Verfassungsnorm anerkannt. Fraglich ist allerdings, ob der Krieg ums „ß" und ums Komma wirklich die nationale Fallhöhe erreicht hat.
Viel Neigung, sich den Streit aufzuladen, besteht in den übrigen Ländern ohnehin nicht. „Das ist nun ein Problem von Schleswig-Holstein", heißt es süffisant im Münchner Kultusministerium.
In Wahrheit ist es ein Problem für Bonn. Der historisch beispiellose Fall, daß sich die Länder im Überschwange ihrer Kulturkompetenz hoffnungslos verheddert haben, könnte zur Mutprobe für Gerhard Schröders Kulturchef Michael Naumann werden.
Naumann läßt keinen Zweifel daran, daß er staatlich reglementierte Rechtschreibung für ebenso unsinnig hält wie den Versuch, eine Gegenreformation per Volksgesetz durchzusetzen: „Die Kultusministerkonferenz wird sich wohl oder übel noch einmal damit beschäftigen müssen."
Und wenn die nicht will, wird man ihr bonnerseits Beine machen: „Ermutigend und motivierend", sagt Naumann, könne die Regierung schon auf die föderale Willensbildung Einfluß nehmen.
Von der Rechtschreibung, fordert der künftige Bundeskulturminister, habe der Staat künftig „die Finger zu lassen". Wie das Volk schreibe, schreibe es, und wie es schreibe, habe schließlich erfolgreich über Jahrzehnte „pfadfinderisch der Duden verfolgt".
„Tor und Tür" werde er aufreißen, um die Rechtschreibung wieder dorthin zu bringen, wo sie mal war. „Und schreiben Sie Thür meinetwegen mit h!"

DER SPIEGEL 41/1998


eingetragen von Detlef Lindenthal am 18.09.2009 um 18.47


Das Hamburger Abendblatt schrieb am 16. 9. 1999:

Auf die besondere Rolle der CDU, die erst vor der Sommerpause ihre Haltung zum Volksentscheid geändert und damit den Weg zu seiner einvernehmlichen Aufhebung frei gemacht hatte, wies der CDU-Abgeordnete Jost de Jager hin. Die Ausgangssituation habe sich geändert. Die CDU bleibe bei ihren Bedenken gegen die Rechtschreibreform, aber eine dauerhafte Insellage Schleswig-Holsteins dürfe es nicht geben.
Und dabei hätte Herr de Jager doch nur bei seinem Kollegen Wulff in Niedersachsen anzurufen und sich für demokratische Politik zu verabreden und festzustellen brauchen, daß Schleswig-Holstein gar keine Rechtschreibinsel ist. Und schon wäre die Reformisten-Insel noch kleiner gewesen.
__________________
Detlef Lindenthal


eingetragen von Sigmar Salzburg am 18.09.2009 um 15.48

Parlament hebt Volksentscheid auf - mit Skrupeln

ubi Kiel - Mit schlechtem Gewissen und guten Gründen hat der schleswig-holsteinische Landtag die Korrektur des Volksentscheides gegen die Rechtschreibreform eingeläutet. Redner aller Fraktionen begründeten die Einführung der neuen Regeln an den Schulen des Landes gegen den vor Jahresfrist erklärten Volkswillen damit, dass es den Schülern nicht mehr zuzumuten sei, als Einzige im deutschsprachigen Raum nach den alten Regeln zu lernen.

Den Entwurf zur Änderung des Schulgesetzes überwies der Landtag wie geplant an den Innen- und Rechtsausschuss. Der berät die Vorlage heute, damit das Parlament sie morgen nach zweiter Lesung beschließen kann. Dank dieses Schnellverfahrens könnte die Rechtschreibreform' nach den Herbstferien am 1. November auf dem Stundenplan stehen.

Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) brachte das Dilemma auf den Punkt: „Wie die Volksvertretung mit dem Volkswillen umgeht, das ist mehr als ein Wermutstropfen. Da braucht man schon sehr gute Gründe. Für mich liegen sie allein im Wohl unserer Kinder." Die gleichen Skrupel formulierte auch Grünen-Fraktionschefin Irene Fröhlich. Die gleiche Linie vertraten im Kern auch FDP und SSW. Auf die besondere Rolle der CDU, die erst vor der Sommerpause ihre Haltung zum Volksentscheid geändert und damit den Weg zu seiner einvernehmlichen Aufhebung frei gemacht hatte, wies der CDU-Abgeordnete Jost de Jager hin. Die Ausgangssituation habe sich geändert. Die CDU bleibe bei ihren Bedenken gegen die Rechtschreibreform, aber eine dauerhafte Insellage Schleswig-Holsteins dürfe es nicht geben.

Mehrere Redner machten klar, dass das Parlament als Gesetzgeber natürlich auch ein per Volksentscheid erlassenes Gesetz ändern dürfe. Ob das so ist, dürften letztlich Gerichte entscheiden.

Hamburger Abendblatt vom 16.09.1999


eingetragen von Sigmar Salzburg am 18.09.2009 um 15.19

Jetzt kommt die Schreibreform
nach Norden

Nach den Herbstferien wird an den Schulen in Schleswig-Holstein nach den neuen
Rechtschreib-Regeln unterrichtet. Gestern verabschiedete der Landtag in erster Lesung eine entsprechende Änderung des Schulgesetzes.

KIEL
(hau)
Die neuen Rechtschreib-Regeln werden in wenigen Wochen auch an den Schulen Schleswig-Holsteins gelten. Mit den Stimmen aller Fraktionen verabschiedete der Landtag gestern in erster Lesung eine entsprechende Änderung des Schulgesetzes. Um die neue Rechtschreibung bis zum Ende der Herbstferien einführen zu können, steht die zweite Lesung des Gesetzes bereits morgen auf der Tagesordnung des Parlaments. Mit seiner Entscheidung ändert der Landtag das bislang einzige durch Volksentscheid zustande gekommene Gesetz. Vor einem Jahr hatten Gegner der Rechtschreibreform bei ei-nem Volksentscheid einen Erfolg erzielt und so die Wiedereinführung der alten Schreibweise an den Schulen durchgesetzt. Da kein anderes Land dem Beispiel gefolgt ist, sei eine „Insellage" für die Schüler im Norden nicht länger zumutbar, so Politiker aller Fraktionen gestern im Landtag. Die Reformgegner wollen jetzt gegen den Parlamentsentscheid klagen. Seite4

SH Landeszeitung vom 16.09.1999

Landtag kassiert den Volksentscheid
„Der Verfallstermin war absehbar"
(hau)
Die einmütige Entscheidung zur Einführung der neuen Rechtschreibung an den Schulen in Schleswig-Holstein sei ihnen nicht leichtgefallen: Das beteuerten gestern Vertreter aller Fraktionen im Landtag. Schließlich ändere das Parlament damit das erste und bisher einzige Gesetz ab, das aus einer Volksinitiative hervorgegangen ist.

Der SPD-Abgeordnete Jürgen Weber sagte, daß der „Verfallstermin" des Volksentscheides bereits am Abstimmungstag absehbar gewesen sei. Die von den Vertretern der Volksinitiative immer wieder vorgetragene „Dominotheorie" habe sich nicht bewahrheitet. Nach dem Entscheid in Schleswig-Holstein sei kein anderes Bundesland zur alten Rechtschreibung zurückgekehrt.

Jost de Jager, Bildungsexperte der CDU, verteidigte die Kehrtwende seiner Partei, die noch vor einem Jahr gegen die neue Rechtschreibung zu Felde gezogen war. Die von der Initiative erhoffte Signalwirkung für andere Bundesländer sei ausgeblieben. Obwohl die CDU nach wie vor zu ihrer Kritik an den neuen Rechtschreibregeln stehe, könne es die Fraktion nicht zulassen, daß Schüler in einer Schreibweise unterrichtet werden, die außerhalb der Schulen keine Anwendung mehr findet.

Der FDP-Bildungspolitiker Ekkehard Klug erinnerte daran, daß sich die Liberalen unter Hinweis auf die drohende „Insellage" Schleswig-Holsteins immer für die Einführung der neuen Schreibweise zeitgleich mit den anderen Bundesländern eingesetzt haben. Mit Nachdruck sprach sich Klug gegen das von den Reformgegnern geforderte Moratorium aus, wonach das Ergebnis des Volksentscheids bis 2005 nicht angetastet werden soll. „Dies würde bedeuten, daß noch fast eine ganze Schülergeneration nach den überholten Regeln unterrichtet wird," erklärte Klug. Es sei eine abstruse Situation, wenn Kinder nach den alten Regeln schreiben müßten, nur weil es Erwachsene so wünschten, so Klug.

SH Landeszeitung vom 16.09.1999

(Es ist ein Tiefpunkt der Demokratie, daß sich die Politiker nicht durch den Volksentscheid, sondern erst durch die Springer-Presse nach sieben Jahren Extremverdummung der Schüler zur Abmilderung der „Reform“ bereit fanden.)


eingetragen von Sigmar Salzburg am 18.09.2009 um 13.34

Euer Wille ist uns sch...egal

Kieler Landtag kassiert Volksentscheid zur Rechtschreibung


Der Landtag war so schnell wie selten. In Kiel trafen sich die gewählten VertreterInnen Schleswig-Holsteins vergangenen Mittwoch zur ersten Lesung. Schon am Freitag fiel dann die Entscheidung. Warum nur hatten die Parlamentarier so eine Eile? Es war, ganz einfach, sehr unappetittlich, was der Landtag da hinter sich zu bringen hatte: Die Volksvertreter waren gekommen, einen Beschluss derjenigen zurückzunehmen, die ihre Auftraggeber sind.

taz 20.09.1999

Zum Tatort


eingetragen von Sigmar Salzburg am 01.09.2009 um 15.10

[August 1999: Die Annullierung des Volksentscheids wird gerade ausgekungelt]

Riekes Vertelln

Wat is dat blots för'n Stück Arbeid mit de „Rechtsschriefreform" – een bösen Kuddelmuddel is dat, öwerhaupt för de Schoolkinner. De letzte Umfraag wiest ut, dat 97 Prozent bi de ole Methode blieben un dat so schrieben wüllt, as dat weer, un blots dree Prozent wüllt sik na de niede Methode richten.

De een'n wüllt Delphin mit „ph" schrieben und de annern mit „f“; de een'n wüllt Tip mit „p" schrieben, de annern mit „pp"; de een'n wüllt Katastrophe mit „ph" schrieben, de annern mit „f“. So geiht dat dörch dat ganze Abc, een richtige Katastrophe is dat. Wat se dor al för Geld utgeben hebbt, geiht op keen.Elefantenhuut. Vör 700 Johr hebbt sik dütsche Kooplüd tosamen daan un in hunnert Städer de „Hanse" gründ. De Spraak weer plattdütsch, to Grunn würr dat Lübecker Platt leggt – een sogenannte „eentalige" Spraak. De Hannel güng vun London över Brügge, Bremen bet na Nowgorod. Dat bröch nich blots Geld in, de plegen ok den diplomatisch'n Verkehr. Mit de Spraak harrn se keen Problem. Dat weer vörbi, as Luther de latin’sche Bibel öwersetten dä, leggt he de Grundlaag för de niede dütsche Hochspraak. Tja, in der Tied hett dat jümmer wedder Kalamität'n wegen dat Richtigschriewen geben. Wat'n Glück, dat wi Platt snacken doot.

Holsteinischer Courier 16.8.1999

[Dazu wurde von Karl-Heinz Requard ein Leserbrief eingereicht. Ob er abgedruckt wurde, ist mir nicht bekannt.]


Jo, leeve Rieke, dor hest Du recht: Een bösen Kuddelmuddel is dat mit de "Rechtschriefreform":

All de Lüd sünd dogegen, aver de Politker wüllt se afsolut dörchhaun. Schüllt se doch alleen düssen Bleudsinn schriefen und uns de ole Schriefwies laten.

Nu schall nich mol mihr dat Volksbegehren bi uns wat schellen! Dor fallt een bald gor nix mihr in! Bloots düsset lütt Gedankenspeel kümmt mi in'n Sinn:

Een Versicherungsverkeuper verkofft Versicherungen, und een Autoverkeuper verkofft Autos. Dat is klor, aver wat verkofft ein Volksvertreter? ... Tja, dinken döffst Du wohl, wat Du wullt, aver döffst Du dat ook jümmers schriefen?


eingetragen von Sigmar Salzburg am 28.07.2009 um 10.02

Rühe und Kayenburg wollen „die neue Lage akzeptieren"

Schreibreform:
Die CDU kippt um


KIEL (har). Die Einführung der neuen Rechtschreibregeln an Schleswig-Holsteins Schulen rückt schlagartig näher. Die CDU, eigentlich Verfechterin der alten Regeln, rückte gestern überraschend deutlich von ihrer Haltung ab.


Der CDU-Spitzenkandidat Volker Rühe und der CDU-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Martin Kayenburg, begründeten die Entwicklung damit, daß „vor allem im Interesse der Kinder die neue Lage" akzeptiert werden müsse. Sie verwiesen auch auf das Scheitern der Reformgegner in Berlin.

Die Reaktionen auf die Kehrtwende reichten von „heuchlerisch" bis „überraschend". Kultusministerin Ute-Erdsiek-Rave (SPD) erklärte, daß die CDU bei ihr „offene Türen" einrenne. Erst am 27. September 1998 hatten sich die Schleswig-Holsteiner gegen die neue Rechtschreibung ausgesprochen.

Die Bürgerinitiative „Wir gegen die Rechtschreibreform" warnte gestern davor, den Volkswillen zu ignorieren, und drohte mit dem Gang vor ein Gericht.
S. 7, Kommentar S. 2

Holsteinischer Courier 10.07.1999

[Wir gutgläubigen Demokraten ahnten damals nicht, daß eine Verfassungsklage in Schleswig-Holstein trickreich unterbunden war und eine Sachklage erst neun Jahre später bearbeitet werden würde, wobei das Gericht aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1998 „Narrenfreiheit für die Kultusminister“ herauslas.]

S. 2 Kommentar

Mißachtung des Volkes

VON KLAAS HARTMANN

Herzlichen Dank. Wer schon immer daran gezweifelt hat, daß die Stimme des Volkes etwas zählt, darf sich seit gestern in dieser Haltung bestärkt fühlen. Da spricht sich die Mehrheit der Bürger eines Bundeslandes für ein Gesetz aus, und nicht einmal ein Jahr später sind sich die Parteien im Landtag darüber einig, daß der Wille des Wahlvolkes einer Korrektur bedarf. Denn der gemeine Umengänger ist ja zu dumm, die Tragweite seiner Stimmabgabe zu überblicken. Sonst wäre er schließlich nicht Wähler, sondern Gewählter – sprich: Abgeordneter. Mag es zur Rechtscheibreform viele Argumente dafür und dagegen geben: Die Schleswig-Holsteiner haben sich für eine Richtung entschieden. Ein Jahr nach der Entscheidung dieselbe kippen zu wollen, ist eine unerträgliche Mißachtung des Souveräns im Land. Und das ist noch immer der einfache Bürger.

Holsteinischer Courier 10.07.1999

Lesermeinung
Wir sind das Volk

Zu: „Die Willkür der Mächtigen" vom 20. Juli.
Unabhängig von meiner persönlichen Einstellung zur Rechtschreibreform ist der „Salto rückwärts" der CDU in dieser Sache eine schallende Ohrfeige für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Wieder einmal wird deutlich, wie wenig vertrauensvoll PolitikerInnen sind und wie hemmungslos Volkes Wille der Parteitaktik geopfert wird.

Die CDU sollte in Bonn in einem interfraktionellen Antrag für eine Verfassungsänderung eintreten mit dem Ziel, Artikel 20 Abs. 2, des Grundgesetzes wie folgt zu ändern: „Alle Macht geht von den Parteien aus; oberster Entscheidungsträger ist der jeweilige Vorsitzende und/oder Spitzenkandidat." Dabei sollte dann aber auch in der Verfassung verankert werden, daß Politiker zukünftig nicht mehr aus Steuermitteln zwangsbezahlt werden müssen.

Die zitierten Äußerungen des Herrn Geerdts sind im übrigen falsch. Berlin und Bremen konnten nicht mitziehen, weil die Initiativen dort von Politik und Verwaltung ausgebremst worden sind, wie dies ja auch in Schleswig-Holstein versucht worden ist. Eine Insellösung wäre gar nicht erst entstanden, wenn die CDU, aber auch die anderen Parteien sich an das eigene Wort halten würden. So hat der damalige stellvertretende Vorsitzende CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rupert Scholz, am 13. Juli 1998 gesagt: „Es sind letztlich die Bürger von Schleswig-Holstein, die in einer Volksabstimmung über die Einführung der Reform entscheiden. Votieren sie dagegen, ist die Reform tot." Der frühere SPD-Generalsekretär Franz Müntefering sagte bereits am 14. August 1997: „Sollte ein Bundesland ausscheren, ist die Reform gescheitert." Und die Kultusministerkonferenz beschloß am 25. März 1997, daß es einen Sonderweg nicht geben könne.

Die Bürger des Landes haben sehr deutlich entschieden, trotzdem lebt die Reform weiter. Warum wohl? Vielleicht begreift die CDU eines Tages, daß sie mit diesem Beschluß dem Demokratieverständnis schwer geschadet hat, und vielleicht erlebe ich noch den Tag, an dem die Mehrheit der Menschen dieses Landes in Kiel vor dem Landeshaus skandiert: „Wir sind das Volk."
Rüdiger Wefers, Birkenweg 59

Holsteinischer Courier 23.07.1999


Streit in der CDU wegen der Rechtschreibung
- Junge Union:

Die Willkür der Mächtigen

VON CHRST1NA KRUMM

Die Rechtschreibreform sorgt abermals für Streit in den Reihen der CDU. Für den Sinneswandel ihrer Mutterpartei, die den Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein nun wieder kippen will, hat die Junge kein Verständnis.

„Der Wille des Bürgers kann doch nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden", empört sich Marco Thies, Kreisvorsitzender der Jungen Union. Schon beim Volksentscheid im September 1998, bei dem sich die Mehrheit der Schleswig-Holsteiner gegen die neuen Rechtschreibregeln ausgesprochen hatte, war die Meinung innerhalb der CDU geteilt gewesen. Die Korrektur des Entscheids sorgt nun abermals für Zoff.

Vor allem die jungen Christdemokraten sind enttäuscht „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus - so steht es im Grundgesetz", betont Thies. Doch dieser Grundsatz werde von der Landesregierung derzeit mit Füßen getreten. Besonders enttäuscht sei er von der CDU, da gerade sie vor und nach dem Volksentscheid betont habe, daß der Wille des Volkes respektiert werden müsse. Zwar gebe es gute Gründe für die Einführung der neuen Regeln, aber man könne nicht einfach „die Willkür der Mächtigen" herauskehren, so Thies.

Zwar räumte auch der CDU-Kreisvorsitzende Torsten Geerdts „einen Erklärungsbedarf" ein, wies die Kritik seines Partei-Nachwuchs jedoch scharf zurück: „Wir haben schon immer gesagt, daß wir keine Insellösung wollen." Nachdem Berlin und Bremen nicht mitzögen und eine bundesweite Lösung nicht mehr in Sicht sei, sehe sich die CDU zu diesem Schritt gezwungen. Lange habe man in der Fraktion diskutiert und am Ende ein einstimmiges Votum erzielt. Geerdts: „Wir wären genauso kritisiert worden, wenn wir die Kurskorrektur nicht vorgenommen hätten."

Doch Thies befürchtet einen großen Imageverlust der Opposition im Landtag: „Vielleicht merken die Parteien ja auch mal, daß sie von den Bürgern und durch die Bürger leben."

Holsteinischer Courier 20.07.1999


Lesermeinung

Das ist Heuchelei
Zum Artikel „Schreibreform: Die CDU kippt um" vom 10. Juli.
Was ist die Demokratie in Schleswig-Holstein noch wert? Herr Rühe ist kein Landtagsabgeordneter. Er maßt sich trotzdem an, den Willen von 888 000 Wählern mißachten zu können. Herr Rühe sollte sich mal wieder mit dem Grundgesetz befassen, vielleicht kennt er die Artikel 20 und 21 nicht mehr? Gott bewahre Schleswig-Holstein vor einem Ministerpräsidenten Rühe.
Nun war in den Nachrichtensendungen von Frau Erdsiek-Räve zu hören, daß die Reform zwar schlecht sei, aber trotzdem eingeführt werden müsse. Welche Heuchelei wird dem Wähler hier zugemutet? …
Peter Dietrich

Holsteinischer Courier 28.07.1999



eingetragen von Sigmar Salzburg am 04.06.2009 um 19.07

[Bildungsministerin Erdsiek-Rave hatte sich von den Kieler Nachrichten und dem Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag eine Volksbelaberungskampagne sponsern lassen, um das ramponierte Ansehen des Ministeriums für die nächste Wahl bei Lehrern und Eltern aufzupolieren:]

Plenarprotokoll
86. Sitzung
Kiel, Mittwoch, 2. Juni 1999



Aktuelle Stunde
Kampagne der Landesregierung im Bildungsbereich:
Gute Leute machen Schule


Martin Kayenburg [CDU]:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 270 Tage vor der Landtagswahl starten Sie, Frau Erdsiek-Rave, die durchsichtigste Vorwahlkampagne, die es in Schleswig-Holstein je gegeben hat.
[…]

[In seiner Erwiderung nach verschiedenen Vorrednern hat Basisdemokrat Hentschel nicht mehr den Durchblick, wer die „Rechtschreibreform“ mit dem Stimmzettel abgelehnt hat und macht vor allem die CDU dafür verantwortlich:]

Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie das Thema in die Aktuelle Stunde einbringen, sollte man denken, es handele sich um einen Skandal oder etwas sei nicht in Ordnung.
[...]
Dann noch etwas: Sie haben es den Schülerinnen und Schülern in Schleswig-Holstein eingebrockt, daß sie als einzige in der gesamten Republik eine Rechtschreibung von gestern schreiben müssen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie führen das Land in die Vergangenheit statt in die Zukunft. Das soll Schulpolitik und Bildungspolitik sein? - Pfui!

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD - Wolfgang Kubicki [F.D.P.]: Das war Ergebnis eines Volksentscheids, Herr Hentschel!)

[Zwar hatte sich die CDU neun Monate vorher auf die Seite der Bürgerinitiative gestellt, aber Kayenburg und sein als Tütenkasper hervorgezauberter Ministerpräsidentenkandidat planten insgeheim schon die Mitwirkung an der Niederschlagung des Volksaufstandes gegen die Rechtschreibreform.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 25.01.2009 um 09.04

Landeselternbeirat
Für Grund-, Haupt- und Sonderschulen in Schleswig-Holstein

Vorsitzende: Elisabeth Pier, ….

07.02.1999

Bildungsministerin soll umstrittene Aktion untersagen
Der Landeselternbeirat für Grund-, Haupt- und Sonderschulen in Schleswig-Holstein fordert Bildungsministerin Erdsiek-Rave auf, die Verteilung von 10 000 Lexika in neuer Rechtschreibung an die Schülerinnen und Schüler Schleswig-Holsteins zu untersagen.
„Die gemeinsame Aktion des Bertelsmann-Lexikonverlages und der GEW ist derzeit aufgrund des erfolgreichen Volksbegehrens gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein nicht nur unnütz, sie ist auch unsinnig, da damit keinerlei positiver Effekt für die Schülerinnen und Schüler verbunden ist. Im Gegenteil führt diese Aktion nur zu weiterer Verwirrung. Wir haben die Ministerin daher bereits in der letzten Woche schriftlich aufgefordert, diese Aktion im Interesse der Kinder zu untersagen", führte heute die Vorsitzende des LEB GHS, Elisabeth Pier aus Gleschendorf, aus.

Hinzu kommt, daß die Bertelsmann Lexika erhebliche Abweichungen zum Duden verzeichnen, der Duden aber nach wie vor als das Nachschlagewerk an den Schulen angesehen ist. Im übrigen gibt es keinerlei Lieferschwierigkeiten mit Duden in alter, also in Schleswig-Holstein laut Schulgesetz vorgeschriebener Rechtschreibung.

Bernerkenswert ist außerdem, daß das marktwirtschaftliche Prinzip der Orientierung an den Wünschen und Bedürfnissen des Kunden offenbar für Schulbuchverlage nicht gilt. Dabei ist der Markt für Schulbücher und Lexika der einzige Markt, bei dem sich die Kunden am Markt orientieren sollen, also die Schulen gefälligst Schulbücher und Lexika in neuer Rechtschreibung zu nutzen haben. Da die Schulen in Schleswig-Holstein dazu überwiegend nicht bereit sind, gibt es die Lexika jetzt im großen Stil gratis - und danach sind die Schulen ja festgelegt und sorgen mit Neuanschaffungen und Nachkäufen für die Gewinne des Verlages.

„Es bestehe daher der Verdacht, daß Bertelsmann sich über diese Aktion zusätzliche Akzeptanz und eine bessere Stellung im Wettbewerb gegenüber Duden verschaffen will. „Der Kampf um Marktpositionen darf jedoch nicht auf dem Rücken unserer Kinder ausgetragen werden!" meinte Elisabeth Pier abschließend.

(Die Aktion war zugleich eine raffinierte Entsorgung der fehlerhaften Bertelsmann-Lexika der ersten Auflagen)


eingetragen von Sigmar Salzburg am 23.01.2009 um 10.14

Leserbrief

Mehrheit war groß genug
Zum Artikel Neue Schreibweise in Amtsstuben (FR vorn 29. 1. 1999): Herr Lölhöffel behauptet in seinem Bericht, daß der Bundestag im März 1998 „mit knapper Mehrheit" beschlossen hätte, die hergebrachte Amtssprache des Bundes beizubehalten. Dies habe ich (...) auf der Besuchertribüne anders gesehen: Jeder, der Zeuge dieser Bundestagssitzung war, konnte (...) die ausreichend große Mehrheit der Abgeordneten erkennen, die sich für die Beibehaltung der traditionellen, allgemein üblichen, wissenschaftlich anerkannten Schreibweisen aussprachen, ohne daß ein genaueres Nachzählen der Stimmen notwendig war. Weil es so auch die Bundestagspräsidentin sah, verzichtete sie auf die Feststellung der genauen Stimmenzahl.
Was nun die Abkehr der Regierung von diesem Bundestagsbeschluß angeht, so muß hier mit deutlicher Kritik festgestellt werden, daß es sich um einen äußerst unfreundlichen Akt handelt, der erneut beweist, daß die Rechtschreibreform unter Nichtbeachtung von Volkes Willen und entgegen des fachlichen Urteils von über 600 Professoren der Sprach- und Literaturwissenschaft, die im Mai 1998 feststellten, daß „eine derart fehlerhafte Regelung" ... „keinesfalls für Schulen und Behörden verbindlich gemacht werden" dürfe, durchgesetzt werden soll.
Nicht einmal die Meinung der Volksvertreter, daß sich die Sprache im Gebrauch ihrer Bürger entwickelt, wird respektiert. Über ihre (und unsere) Kopfe hinweg wird eine künstliche, verworrene, fehlerhafte und sündhaft teure Reform durchgepeitscht, die jetzt nur noch durch die laufenden Volksbegehren in Bayern, Berlin, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern und durch den Boykott der Bürger zu Fall gebracht werden kann.

Stephanus Peil, Leiter der
Lehrerinitiative gegen die Rechtschreib-
reform Rheinland-Pfalz, Westerburg

Nun, einige Volksbegehren wurden ausgetrickst, andere wurden damit aussichtslos.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 13.01.2009 um 10.34

FAZ 226 v. 29.9.98, S. 12

In Karlsruhe polit-opportunistisch maßgeschneidert

Die Wahl zweier Richter für das Bundesverfassungsgericht (F.A.Z.- vom 3. September) offenbarte erneut den deutlich politischen Hintergrund solcher Berufungen, bei denen neben Parteiinteressen die Wünsche der Bundesländer den Ausschlag geben, die Kandidaten also politischen Erwartungen entsprechen müssen, auch wenn sie parteilos sind. Es liegt auf der Hand, daß damit politische Verflechtungen angestrebt und erreicht werden, die eine wirkliche und unabdingbar notwendige Unabhängigkeit des Gerichtes zur Illusion werden lassen. Sollte es zutreffen, daß die Besetzung zumindest einer der beiden Stellen auf einen Vorschlag des Gerichtes selbst zurückging, ergäbe sich ein weiterer höchst unerfreulicher Aspekt dieser Berufungen.

Fälle, die das Verfassungsgericht, wenn Machtausübung und Autorität staatlicher Institutionen in besonderem Maße auf den Spiel standen, ungeachtet der eigentlich zugrunde liegenden Sachprobleme als Stützungsorgan derartiger Institutionen zeigten, gab es in der Tat nicht selten. In neuester Zeit sind es die gegen die Einführung des Euro und der Rechtschreibreform angestrengten Verfahren, deren politische Handhabung durch das Bundesverfassungsgericht unverkennbar ist. Im Falle der Rechtschreibreform etwa muß man diese Offensichtlichkeit geradezu erschreckend nennen: die vollkommen einseitige Gewichtung bei der Anhörung, die uneingeschränkte Übernahme der Kultusminister-Thesen, das Ignorieren der fundierten Einwände der Reformkritiker - Einwände, die sehr leicht die Behauptungen der Minister widerlegt hätten, was nicht sein durfte -, das Ignorieren der für die Qualität der Reform aufschlußreichen Tatsache, daß die Reformkommission selbst große Teile ihres eigenen Regelwerkes als korrekturbedürftig erkannt hatte (ohne daß ihr von den Kultusministern die Korrektur erlaubt wurde), das vorzeitige Bekanntwerden des Urteils, die Verkündung trotz Rücknahme der Verfassungsbeschwerde (bestens geeignet, die Landesregierungen zu stärken, die Reformgegner zu schwächen und das Volk, das ebenfalls überwiegend die Reform ablehnt „im Namen des Volkes“ zu entmutigen, nicht nicht zuletzt mit Blick auf den Volksentscheid in Schleswig-Holstein) - es ist unmöglich, zu einer anderen Erkenntnis als zu der zu kommen, daß hier ein rein polit-opportunistischer Maßanzug geschneidert und alles Maßgefährdende weggeschnitten wurde. Ein „Mißverständnis von höchstem richterlichem Anspruch und politischer Verstrickung“, wie Professor Munske aus Erlangen formuliert, wird offenkundig.

Da ist es dann nur noch eine kleine, beispielhaft herausgegriffene Abrundung des Gesamtbildes, wenn wir im Urteil des Bunesverfassungsgerichtes vom 14. Juli in. Punkt IV (Seite 27 folgende) auf eine Praktik stoßen, die uns die Politik immer wieder so anziehend macht. In diesem Punkt IV geht es um Stellungnahmen zur Rechtschreibreform um die Benennung der Kosten. Den Schluß bildet die Kostenangabe des Bundes Deutscher Zeitungsverleger. Daß sich dieser Verband in seinem Brief vom 8. April dieses Jahres an das Gericht nicht nur zu den Kosten, sondern auch zur Reform selber geäußert hat („Gleichwohl liegt uns daran, zu betonen, daß den Zeitungsverlegern ihrer Gesamtheit in keiner Weise an einer Umsetzung der Rechtschreibreform gelegen ist“), wird verschwiegen.

Dr. Dietmar Wottawa, Umkirchen

Während das höchste Gericht „im Namen des Volkes“ dem „Sachverstand“ der Kultusminister Eingriffsrechte in die Rechtschreibung zugestand, wies im Lande des Volksentscheids das Verwaltungsgericht Schleswig zehn Jahre später, nachdem die Ergebnisse bindend und damit gerichtsfähig geworden waren, ebenfalls „im Namen des Volkes“ jegliche Widerlegung dieses Sachverstandes mit Berufung auf das Verfassungsgerichtsurteil zurück.


– geändert durch Sigmar Salzburg am 14.01.2009, 13.46 –


eingetragen von Sigmar Salzburg am 16.12.2008 um 12.37

Ein Dokument des Pressemachtmißbrauchs:

Aus dem „Manual Rechtschreibung“ der

Journalistenschule Ruhr
Aus- und Weiterbildung mit AHA-Effekt

„Beschluss zur Umsetzung der Rechtschreibreform

Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben am 16. Dezember 1998 in Frankfurt einvernehmlich nach intensiver Beratung beschlossen, die Reform der deutschen Rechtschreibung weitestgehend und in einem Schritt umzusetzen. Wichtigstes Ziel war, die Rechtschreibung im Sinne der (gemeinsamen) Kunden nicht nur einheitlich, sondern auch eindeutig festzulegen. Die Notwendigkeit der Eindeutigkeit ergibt sich vor allem daraus, dass die eingesetzten elektronischen Systeme bei der Nutzung von Schreibvarianten in ihren Suchfunktionen behindert würden. Zudem müssen Schreibweisen „mit einem Blick“ optisch identifiziert und zugeordnet werden können. Ausschlaggebend für den Umsetzungsbeschluss war die Überlegung, dass die neuen Schreibweisen in naher Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein werden und dass die (Zeitungs-)Leser künftig in allen Bereichen des öffentlichen Lebens mit den neuen Regeln konfrontiert werden. Ein weiterer Punkt war, dass es nicht Aufgabe der Agenturen sein kann, die Reform zu steuern oder zu verhindern. Bei ihren Beratungen haben sich die Agenturen an der Systematik des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie, der die Reform erarbeitet hat, orientiert.“

Die Einführung in den Schulen brachte eine Reihe von Eltern dazu, gerichtlich gegen die neue Rechtschreibung bzw. gegen die Vorabeinführung für ihre Kinder vorzugehen. Es gab unterschiedliche Urteile. Allen war klar: Ein Prozess muss bis vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe geführt werden, um Klarheit zu bringen. Es ging bei allen Prozessen niemals um Entscheidungen in der Sache, sondern um das Verfahren: Die Rechtschreibung sei zu wesentlich, um auf dem Verwaltungsweg eingeführt zu werden, die Parlamente seien einzuschalten. In Schleswig-Holstein wurde eine Volksbefragung für September 1998 vorbereitet. Am 14. Juli 1998 entschied Karlsruhe, dass der Weg der Einführung rechtens sei. In Vorwegnahme möglicher Volksentscheide urteilte Karlsruhe zugleich, die Rechtschreibung dürfe auch dann eingeführt werden, wenn ein Bundesland ausschere (Insellösung). Damit war dem Volksentscheid in Schleswig-Holstein vom September 1998, der dann auch ein negatives Ergebnis brachte, vorab eine bundesweite Wirkung genommen.

Am 01. August 1998 trat somit die Neuregelung in Kraft. …

http://www.journalistenschule-ruhr.de/jsr/download/jsr.manual_rechtschreibung.pdf

Selbst wenn der Weg der Einführung der „Reform“ Rechtens sein sollte, dann ist es noch lange nicht ohne weiteres der Inhalt. Dieses hat zuletzt vorsätzlich das Oberverwaltungsgericht Schleswig verkannt.

Die Präambel im Umsetzungsbeschluß der Nachrichtenagenturen und der hinter ihnen stehenden Medienmagnaten ist der Gipfel der Heuchelei. Kein erwachsener Normalbürger hätte von der „Rechtschreibreform“ Notiz genommen, hätte nicht die Presse auch den letzten Lesekundigen einer kaum entrinnbaren, zwangsmissionierenden Gehirnwäsche in Bezug auf die Wortbilder unterzogen.
Ein Gutes hatte jedoch dieser Kotau vor den kultuministeriellen Schülergeiselnehmern: Kaum jemals hätten wir genauer erfahren, was den Schülern hinter den Schulmauern und schließlich der Kultur angetan wurde und wird.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 08.12.2008 um 08.55

Reformstopp läßt die anderen Bundesländer kalt
Der Norden steht mit den alten Regeln allein
Von ULF B. CHRISTEN

KIEL/POTSDAM - Die Rückkehr Schleswig-Holsteins zur alten Rechtschreibung läßt die 15 übrigen Bundesländer kalt. Auf der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) in Potsdam sei man nach einem Sachstandsbericht von Regierungschefin Heide Simonis (SPD) nicht bereit gewesen, noch einmal in die Debatte einzusteigen, berichtete gestern Regierungssprecher Gerhard Hildenbrand.
Bei der MPK geht man offenbar davon aus, daß es beim Alleingang der Nordlichter bleibt. Auf Frage des MPK-Vorsitzenden, Brandenburgs Regierungschef Manfred Stolpe (SPD), nach weiterer. Initiativen oder anstehenden Volksentscheiden gegen die Reform gab es nur eine Antwort aus Bremen. Dort streben die Reformgegner einen Entscheid an. Aus anderen Bundesländern wurde lediglich berichtet, daß die Schüler mit den neuen Regeln gut zurecht kämen. In Bayern seien die Schüler rundum glücklich, soll Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) bilanziert haben. Dies, so Hildenbrand, sei der Tenor gewesen.
Daneben beauftragte das Gremium Stolpe, brieflich bei der rot-grünen Bundesregierung Auskunft darüber zu erbitten, wie es der Bund mit der Amtssprache hält. Die meisten Länder haben bereits auf die Neuschreibung umgestellt oder wollen dies tun. In Schleswig-Holstein bleibt es dagegen nach dem erfolgreichen Volksentscheid gegen die Reform in den Schulen am 27. September auch in den Behörden bei der alten Schreibweise. Auch hier wäre der Norden dann eine Sprachinsel. Dies hatten Reformbefürworter immer befürchtet.
Die Reformgegner glauben unverdrossen an ein Scheitern der Neuschreibung in ganz Deutschland. […]

Lübecker Nachrichten 5.12.1998



eingetragen von Sigmar Salzburg am 16.10.2008 um 07.09

Bei den Schweizer Kleinschreibern findet sich im Archiv folgende Notiz:

Erdsiek-Rave, Ute
* 2. januar 1947.
1977 lehrerin: Schleswig-Holstein. 1969 mitglied: SPD. 2. 10. 1987 mitglied: schleswig-holsteinischer landtag. April 1996 vorsitzende: SPD-landtagsfraktion. November 1998 ministerin für bildung, wissenschaft, forschung und kultur: land Schleswig-Holstein.

Aber doch nicht Frau Erdsiek-Rave! Eine anscheinend uns bevorstehende Bildungsministerin Erdsiek-Rave ist die denkbar ungeeignetste Persönlichkeit, um die Entscheidung des Volkes mit der nötigen Überzeugung umzusetzen. Am 7. Juli 98 erklärte sie laut "Sozialdemokratischem Informationsbrief": ..."Damit wird es um so wichtiger, daß die Einheit der deutschen Rechtschreibung nicht durch einen negativen Volksentscheid am 27.09.98 in Schleswig-Holstein zerstört wird."

(Sigmar Salzburg, Lübecker Nachrichten, internet-ausgabe, forum, 18-10-98 um 09:29)
http://www.sprache.org/bvr/biwhois.htm


eingetragen von Sigmar Salzburg am 11.10.2008 um 08.35

Ministerin Böhrk geht

Kiel (US) Die schleswig-holsteinische Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD) hat gestern ihre bevorstehende Entlassung aus dem Kabinett Simonis bekanntgegeben. Mitentscheidend für den Wechsel war nach Böhrks Angaben die Niederlage beim Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform. Zugleich gehen auch Böhrks Staatssekretäre Gyde Köster (Schulen) und Dieter Swatek (Wissenschaft und Kultur.)

Als neue Kultusministerin ist die SPD-Fraktionschefin Ute Erdsiek-Rave im Gespräch. Eine Bestätigung dafür gab es gestern aber nicht. Simonis will die Kabinettsumbildung, die vor allem auch einen Nachfolger für Wirtschaftsminister Peer Steinbrück bringen soll, nach der Kanzlerwahl am 28. Oktober bekanntgeben.

Böhrk erklärt, Ministerpräsidentin Heide Simonis habe ihr schon vor einer Woche die Ablösung der gesamten Spitze des Kultusministeriums bekanntgegeben. Da dies an die Öffentlichkeit durchgesickert sei, warte sie nicht mehr wochenlang ab, sondern informiere die Presse jetzt selbst.
„Ich habe immer gewußt, daß dieses Ministeramt ein Schleudersitz ist," fügte Böhrk hinzu. „Daß es mich nun ausgerechnet über die Rechtschreibreform erwischt, ist etwas überraschend." In einer ersten Stellungnahme erklärt SPD-Fraktionschefin Erdsiek-Rave, Böhrks Verdienste für zehn Jahre Reformpolitik blieben ungeschmälert. SPD-Parteichef Willi Piecyk sagte: „Die Arbeit von Gisela Böhrk unter finanziell äußerst schwierigen Bedingungen verdient unsere Anerkennung." Die Grünen-Sprecher Monika Mengert und Peter Swane halten Böhrks Ablösung für bedauerlich.

Ganz anders Oppositionsführer Martin Kayenburg (CDU): „Mit Böhrks Ausscheiden setzt sich die Erosion des Kabinetts Simonis fort. Ihre Bildungspolitik sei ein einziges Trauerspiel gewesen. Auch Ekkehard Klug (FDP) sagte, nach Jahren des Bildungsabbaus sei der Rücktritt das Eingeständnis des Scheiterns.

Kieler Nachrichten, 13.10.1998


eingetragen von Sigmar Salzburg am 09.10.2008 um 15.37

Die gegensätzlichen Meinungen über die Rechtschreibreform
in der Aktuellen Stunde des Landtags:

Die Gräben wurden nur noch tiefer


Der schleswig-holsteinische Landtag hat das Wirrwarr der gegensätzlichen Meinungen über die Rechtschreibreform gestern nicht lichten können. Vielmehr haben sich die Gräben in einer Aktuellen Stunde vertieft. Die Konsequenzen aus dem Volksentscheid gegen die Neuschreibung sind umstrittener denn je.

Von Urs Stahl

SPD und Grüne machten deutlich, sie wollen den Entscheid, so weit nötig, akzeptieren, aber nun das Volksabstimmungsgesetz ändern. Der Volksentscheid sei nur erfolgreich gewesen, weil er im Gegensatz zu anderen Plebisziten mit der Bundestagswahl zusammengelegt wurde. Das solle in Zukunft nicht mehr möglich sein. Der Grüne Abgeordnete Karl-Martin Hentschel rief in Richtung Opposition: „Wer neu geschriebene Wörter, die anderswo richtig sind, in Schleswig-Holstein als Fehler anstreichen will, der schikaniert die Kinder". Oppositionsführer Martin Kayenburg und Ekkehard Klug (FDP) konterten, wenn der rot-grünen Mehrheit der Volkeswille nicht passe, werde das Volk gescholten, statt die Politik zu ändern. Es sei höchste Zeit, auf Bundesebene einen Konsens über eine Korrektur der Rechtschreibreform zu suchen.

Vorangegangen war eine nicht minder brisante Pressekonferenz der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform". Sie kündigte Klage und eine einstweilige Anhordnung gegen Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD) vor dem Verwaltungsgericht Schleswig an, falls die Politikerin bei ihrer Absicht bleibe, „den Volksentscheid per Erlaß zu unterlaufen“.

Böhrk erwiderte, sie halte den Erlaß für gerichtsfest. Dem Volksentscheid werde genügend Rechnung getragen, wenn die Schulen des Landes wieder die bisherige Schreibweise unterrichteten, aber die neue Orthographie gleichermaßen als korrekt anerkennen. Dies entspreche jedenfalls bis zum Jahr 2005 auch der bundesweit geltenden Übergangsregelung. Das sieht die Initiative gegen die Rechtschreibreform ganz anders. Sie hat nach den Worten ihres Sprechers Matthias Dräger mit Fachleuten aus der Germanistik und einigen Eltern Vertretern einen „Anti-Böhrk-Erlaß" zur vollständigen Unmsetzung des Volksentscheides vorgeschlagen. Er bedeutet: Ab dem Schuljahr 1999/ 2000 wird der „Neuschrieb" in Schleswig-Holsteins Schulen als Fehler gewertet. Nur noch im laufenden Schuljahr wird er zugelassen, aber ab sofort als „abweichend" angestrichen. Außerdem wendet sich die Initiative gegen Böhrks Absicht, angeschaffte Schulbücher in neuer Schreibweise unverändert weiter zu verwenden. Vielmehr wird vorgeschlagen, die Lehrer sollten die Grundschulfibeln handschriftlich gemäß der allgemein üblichen Schreibweise korrigieren. Das sei kein großer Arbeitsaufwand. Und für die höheren Klassen stünden laut Dräger noch überwiegend Bücher in bisheriger Schreibweise zur Verfügung.

Der allergrößte Teil der Schulbücher sei im Gegensatz zu Böhrks Behauptungen noch gar nicht umbestellt worden, sagt Dräger. Außerdem gebe es durchaus noch Restbestände in traditioneller Schreibweise, die einige Verlage liebend gerne an Schleswig-Holstein verkaufen würden. Zudem ist Dräger überzeugt, werde es genügend andere Verlage geben, die
neue preiswerte Schulbücher in der üblichen Schreibweise drucken. Die Drohung des Verbandes der Schulbuch Verleger, solche Bücher würden nicht separat für den Norden hergestellt, gehe ins Leere. In dem Verband seien durchaus nicht alle Schulbuchverlage organisiert. Inzwischen drängt sich bei der Initiative der Eindruck auf, die Kultuspolitiker hätten das Regelwerk der Rechtschreibreform überhaupt nicht gelesen. Wahrgenommen werde nur der kleine Bruchteil der Neuschreibung, der an den Grundschulen praktiziert werde mit der „ss-" und „ß-"Regel und „Schifffahrt" mit drei „f. Damit, so Dräger, werde die unzutreffende Einschätzung begründet, die Neuschreibung mache alles viel leichter und verursache weniger Fehler. In Wahrheit kenne kaum jemand die unzähligen widersprüchlichen neuen Regeln und Ausnahmen etwa bei der der Klein- und Großschreibung, der Getrennt- und Zusammenschreibung. Sie seien, wie auch die neuen Wörterbüchern zeigten, so widersinnig und kompliziert, daß sie niemand richtig lernen könne.


[Bild: Schüler auf der Besuchertribüne des Landtags]
Aufmerksame Beobachter: Realschüler aus Bad Schwartau. Was sie von der Diskussion halten, sagten die Mädchen in der vorderen Reihe so:

Miriam Kolbe (16 Jahre):
„Egal"

Katharina Kolbe (16 Jahre):
„Es nervt, daß die sich nicht entscheiden können!"

MirjaRathje (17 Jahre):
„Viel Gelaber ohne Sinn. Die meisten Politiker interessiert sowieso nur, daß sie die nächsten Wahlen nicht verlieren."

Jennifer HÖppner (18 Jahre):
„Es bringt ihnen sowieso nichts, weil sie zu keinem Entschluß kommen. Sie sollten mal an die Schüler denken!"

„Die Kinder sind jetzt die Opfer"

In der an die Debatte anschließenden Aktuellen Stunde des Landtages blieb es beim Austausch unversöhnlicher Meinungen. Der Kurzdialog verlief so:

Ekkehard Klug (FDP): Frau Kultusministerin Böhrk, der Volksentscheid verpflichtet Sie politisch, nach einem neuen bundesweiten Konsens zur Rechtschreibreform zu suchen. Wozu zahlen wir viel Geld an diese Kultusministerkonferenz, wenn sie auf den Volksentscheid nicht reagiert und Schleswig-Holstein im Regen stehen läßt.

Sabine Schröder (SPD): Es ist eine Verkehrung der Tatsachen, den Kultusministern die Schuld am schleswig-holsteinischen Volksentscheid zuzuschieben. Die Kinder sind jetzt die Opfer, und wir sind aufgefordert, den Schaden so gering wie möglich zu halten.

Jost de Jager (CDU): Diese Reaktion ist von Hilflosigkeit geprägt. Die demokratische Pflicht der Kultusministerin ist es nicht, vor dem Volksentscheid zu schaudern, sondern ihn umzusetzen.

Irene Fröhlich (Die Grünen): Es gibt schon Eltern, die verschiedene Kinder an einer schleswig-holsteinischen und einer Hamburger Schule haben und die wegen der unterschiedlichen Schreibweise ihrerseits Verfassungsklage erwägen. Für dieses Chaos hat die CDU mit ihrer parteipolitischen Unterstützung der Initiative gegen die Rechtschreibreform gesorgt.

Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD): Ich habe es nicht geglaubt, als ich vor Monaten in Märchenform vor dem Volksentscheid warnte. Aber er endet leider auch in Wirklichkeit böse und nicht gerecht. Die Kinder werden be straft, wenn ich das Ergebnis nicht im Erlaß pädagogisch sinnvoll umsetze.

Klaus-Peter Puls (SPD): Ja, das ist die Pflicht und Schuldigkeit der Kultusministerin. Selbstkritisch sage ich allerdings, daß wir mit unserem Landtagsbeschluß über den Abstmmungszettel des Volksentscheides zur Verwirrung beigetragen haben.

Angelika Volquartz (CDU): Der Bundestag hat bereits im Februar 1997 die Überarbeitung der Schreibreform gefordert. Das Thema kommt in Bonn wieder auf die Tagesordnung.

Oppositionsführer Martin Kayenburg (CDU): Die Debatte führt leider vom Thema weg in eine parteipolitische Diskussion. Ministerin Böhrk verweigert sich der demokratischen Verantwortung, wenn sie jetzt nicht bundesweit mit ihren Kollegen Kultusministern nach einer neuen Lösung sucht. Das Dilemma nach dem Volksentscheid ist an Schleswig-Holsteins Schulen nur deshalb entstanden, weil die Ministerin in vorauseilendem Gehorsam die Rechtschreibreform vorzeitig eingeführt hat.

Ministerin Böhrk: Selbstverständlich wird der Volksentscheid in der Kultusminister-Konferenz besprochen. Ich sehe aber nicht, daß andere Länder dem Volksentscheid folgen. Der Übergang zur neuen Rechtschreibung ist 1996 von allen Kultusministern untersch[r]ieben worden. Damals gab es die Volksinitiative gegen die Reform noch gar nicht.

URS STAHL / Fotos: pae

Kieler Nachrichten 9.10.1998

[Man beachte die ersten drei Sätze: Die scheinheiligen Verfechter von „mehr Demokratie“ und „Basisdemokratie“ wollen die direkte Demokratie erschweren, damit das Volk auch nicht ausnahmsweise einmal seinen Willen bekunden kann.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 06.10.2008 um 20.17

Schreibreform wird eingeführt
Kultusminister wollen trotz Volksentscheids im Norden an umstrittenem Regelwerk festhalten


Von DIETHART GOOS

Kiel - Die Rechtschreibreform wird trotz des erfolgreichen Volksentscheids in Schleswig-Holstein nicht rückgängig gemacht. Darauf hat die Kultusministerkonferenz verwiesen.

Zugleich kündigte die Landesregierung von Baden-Württemberg an, mit Beginn des kommenden Jahres die geänderte Schreibweise bei neuen Gesetzen und Verordnungen anzuwenden.

Bürgerinitiativen in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern planen nach Kieler Vorbild Abstimmungen gegen das Reformwerk. Für die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Nordrhein-Westfalens Ressortchefin Gabriele Behler, besteht nach dem schleswig-holsteinischen Volksentscheid kein Handlungsbedarf.

Sie widersprach damit der Initiative „WIR gegen die Rechtschreibreform", wonach mit dem Votum vom 27. September im nördlichsten Bundesland das umstrittene Vorhaben bundesweit gescheitert sei. Die Abmachungen der Kultusminister sei eindeutig, erklärte die SPD-Politikerin. „Es ist viel Lärm gemacht worden um wenige kleine Änderungen."

Wie das Stuttgarter Innenministerium gestern mitteilte, werden neue baden-württembergische Gesetze und Verordnungen vom 1. Januar 1999 an in der reformierten Schreibweise abgefaßt. Für den allgemeinen Schriftverkehr der Behörden gilt eine Übergangsfrist bis zum 31. Juli 2005. Bestehende Vorschriften werden erst dann angepaßt, wenn Neufassungen oder Ergänzungen der Texte anstehen.

Zum wiederholten Mal muß sich morgen der Kieler Landtag mit dem Streit befassen. Die FDP-Fraktion hat eine aktuelle Stunde beantragt. CDU und Liberale werfen Bildungsministerin Gisela Böhrk vor, sie unterlaufe das Votum vom 27. Septenber.

Beim Volksentscheid entfielen 56,4 Prozent der abgegebenen 1,6 Millionen Stimmen auf die Initiative gegen die Rechtschreibreform. Mit einem Erlaß will die Bildungsministerin sicherstellen, daß künftig an den Schulen des Landes die Schreibweise der deutschen Sprache wieder nach den bisherigen Regeln unterrichtet wird.

Da die reformierten Bestimmungen aber schon seit Schuljahrsbeginn 1996 angewendet werden, soll die neue Schreibweise neben der alten als korrekt akzeptiert werden. Bei „schriftlichen Leistungsnachweisen" werden, wie das Bildungsministerium ankündigte, „nur solche Schreibungen als Fehler gewertet, die auch nach der Neuregelung nicht zulässig sind".

DIE WELT 7.10.1998

[Zaudernde Kultusminister waren frühzeitig zur „Reform“ beschwatzt worden mit dem Argument der notwendigen Einheit der deutschen Rechtschreibung. Der Volksentscheid hätte nun die alte Einheit erzwingen müssen. Dem hatte das parteilich agierende Bundesverfassungsgericht vorgebeugt, indem es beliebige Abweichungen zuließ, so daß die Kultusminister ungerührt weitermachen konnten. Bald darauf aber wurde die Einheit der Rechtschreibung wieder als so wichtig hingestellt, daß man dafür sogar Volksentscheide annullieren dürfe. Infolge einer Fehlkonstruktion der schleswig-holsteinischen Verfassungsgerichtsbarkeit durfte dagegen noch nicht einmal geklagt werden. ]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 04.10.2008 um 08.53

Regierungschef Stoiber entmachtet Zehetmair
Finanzminister Erwin Huber kehrt als Minister in die Staatskanzlei zurück ...


Von Alexander Gorkow und Michael Stiller

München - Der große Verlierer der Kabinettsumbildung in Bayern heißt Hans Zehetmair. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung soll Zehetmairs Ministerium, so der Planungsstand vom Montag nachmittag, geteilt und dem Ministen der Schulbereich entzogen werden. Außerdem soll der Politiker, der in wenigen Wochen seinen 62. Geburtstag feiert, das Amt des Vize-Ministerpräsidenten abgeben, das er seit 1993 bekleidet hat. Seine Nachfolgerin wird nach dem Willen Stoibers die Sozialministerin Barbara Stamm.
Eine solche Entmachtung Zehetmairs hatte sich, wie berichtet, in der vergangenen Woche angedeutet und erhärtete sich nach Informationen aus Regierungskreisen am Montag. Die Entmachtung Zehetmairs galt gestern abend nach Mitteilung von Regierungsmitgliedern und anderen CSU-Politikern als „hundertprozentig". Am heutigen Dienstag um zehn Uhr morgens wird Stoiber sein neues Kabinett der Fraktion und anschließend dem Landtag vorstellen. Gerüchte, daß Stoiber nur einige wenige Posten verändern wolle, erwiesen sich am Montag als haltlos.
Das Kultusministerium soll, so Stoibers Planung, wie schon von 1986 bis 1990, in zwei Häuser aufgeteilt werden. Die Verantwortung für die Schulpolitik wird Zehetmair dann an seine 36jährige Staatssekretärin Monika Hohlmeier abgeben müssen. Die Tochter von Franz Josef Strauß, die in der CSU seit Wochen sowohl als künftige Generalsekretärin wie auch als Münchner OB-Kandidatin im Gespräch war, erhielte damit Ministerrang in einem eigenen Schulministerium.
[…]
Am meisten Aufregung verursachte gestern die geplante Degradierung Hans Zehetmairs und die Beförderung Monika Hohlmeiers. […]
Für die Bereiche Wissenschaft und Forschung behält Zehetmair als Minister zunächst die Verantwortung. Doch plant Stoiber dem Vernehmen nach, den Erdinger Politiker in zwei Jahren ganz aus dem Kabinett zu kippen und durch einen jüngeren Nachfolger zu ersetzen. […]

Süddeutsche Zeitung 6.10.1998

[Das Scheitern der „Rechtschreibreform“ beim Volksentscheid in Schleswig-Holstein hat zweifellos Zehetmairs Absturz gefördert, wenn auch jeder Hinweis darauf vermieden wurde. Die Durchsetzung der „Reform“ wurde damit in die geschickteren Hände einer Hotelfachfrau und Parteiapparatschickse gelegt. Auch im Norden bahnte sich ähnliches an.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 03.10.2008 um 08.17

Montag, 5. Oktober 1998
BRIEFE AN DIE SÜDDEUTSCHE
Stellvertretend für das ganze deutsche Volk abgestimmt

Zum Kommentar SPRACHINSEL ZWISCHEN DEN MEEREN von Cornelia Bolesch in der SZ vom 29. September

Der Kommentar fordert heftigen Widerspruch heraus. Man stelle sich vor, ein Kommentator hätte zum Ergebnis der Bundestagswahl geschrieben: „Der glanzvolle Sieg der SPD wird so zu einem markanten Beispiel für die Schattenseiten der (direkten) Demokratie!" So abschätzig darf mit dem plebiszitären Element in den Länderverfassungen nicht umgegangen werden.
Es ist weder die Schuld noch die Torheit der Schleswig-Holsteiner, daß es bisher nur ihnen vergönnt war, über die weithin unerwünschte „Rechtschreibreform" demokratisch abzustimmen. …
Geradezu absurd wird der Kommentar, wenn er Gegner von Veränderungen der gewohnten Verhältnisse als Missionare einzustufen beliebt. Dieses Etikett trifft doch wohl eher für das kleine Häuflein ideologisch und quasireligiös motivierter Reform-Aktivisten zu, die seit langem Veränderungen der Rechtschreibung mit missionarischem Eifer betreiben und dafür selbst eine Beschädigung des Ansehens der Demokratie in Kauf nehmen. …

Sigmar Salzburg, Dänischenhagen
Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform "


… Die Kinder erlernen an den Schulen eine andere Schreibweise als sie in der übrigen Bevölkerung üblich ist (ausgenommen die nun aus dem Klammergriff der KMK befreiten und glücklich zu preisenden Schüler und Lehrer in Schleswig-Holstein). Deswegen ist es an der Zeit, die Einheitlichkeit der Orthographie schnellstmöglich wiederherzustellen.
Es ist aber eine Schande in diesem Lande, daß Bundesland für Bundesland erst „zurückerobert" werden muß, damit unser Volk wieder so schreiben kann, wie es wissenschaftlich anerkannt und üblich ist. Vielmehr sollten die Kultusminister sich an ihr eigenes Versprechen halten, das sie in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 27. Februar 1997 abgaben: „Die Kultusminister betonen, daß es für die Rechtschreibung nur eine gemeinsame Regelung in allen Ländern geben kann." Deswegen garantierte der damalige Präsident der Kultusministerkonferenz, der niedersächsische Kultusminister Rolf Wemstedt, am 25. März 1997, „daß ein Sonderweg einzelner Länder bei der Rechtschreibreform .. .nicht vorstellbar" sei. …

Stephanus Peil, Westerburg
Lehrerinitiative gegen die Rechtschreibreform Rheinland-Pfalz

[Nun, die Politiker glaubten, eine neue Einheit erzwingen zu können: Durch die Niederschlagung des Volksaufstandes gegen die „Rechtschreibreform“ in Schleswig-Holstein am 17.September 1999.]


Am 27. September ist nicht nur Bundeskanzler Kohl abgewählt worden, sondern auch die Rechtschreibreform. Dies ist das genaue Gegenteil eines „markanten Beispiels für die Schattenseiten der direkten Demokratie", nämlich ein wirklicher Sieg der Demo- über die Bürokratie.
Die Konsequenzen, an die Bürger nach Meinung Ihrer Kommentatorin nicht gedacht haben, müssen diejenigen Politiker verantworten, die diesen Kulturkampf angezettelt haben. Die Bürger in Schleswig-Holstein haben die neuen Regeln verworfen, obwohl ihnen von der Landesregierung vorgegaukelt wurde, sie würden sich damit vom Rest Deutschlands isolieren. Es kann aber nicht bezweifelt werden, daß die Bayern, Sachsen oder Hessen in dieser Frage gleich entscheiden würden. …
Die Konsequenz aus dem Volksentscheid kann daher nur sein, die Rechtschreibreform endgültig als das zu betrachten, was sie ja immer schon war: der alte Traum gelangweilter Linguisten, nichts weiter.

Reinhard Markner, Berlin
Literaturwissenschaftler


eingetragen von Sigmar Salzburg am 02.10.2008 um 10.05

Schreibreform:
Elternrat sieht Nachteile


Bonn (dpa) Der Bundeselternrat fürchtet durch den schleswig-holsteinischen Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform erhebliche Nachteile für die Kinder im nördlichsten Bundesland.


Die Unbeweglichkeit der Erwachsenen, die nicht umlernen wollten, werde fatale Auswirkungen für die Jugend haben, erklärte die Bundeselternrat-Vorsitzende Renate Hendricks gestern in Bonn. Gerade durch die jüngsten Forderungen der Wirtschaft an die Auszubildenden habe die Rechtschreibung wieder einen besonderen Stellenwert bei der Ausbildungsplatzsuche erhalten. Hätten alle betroffenen Eltern für ihre unmündigen Kinder bei dem Volksentscheid eine zusätzliche Stimme erhalten, so hätte es sicherlich ein anderes Ergebnis gegeben, meinte Hendricks. Auch der Sprecher der Bundesschülervertretung, Nils Stegemann, sagte, das Votum gegen die neuen Schreibweisen sei für die Mitschüler in Schleswig-Holstein nicht hilfreich.
Unterdessen haben die Gegner der Rechtschreibreform erklärt, daß sie eigene Vorschläge für den Übergang von den neuen zu den alten Regeln an den Schulen erarbeiten wollen. Eine Konferenz von Sprachwissenschaftlern, Lehrern und Eltern solle in der kommenden Woche über eine Übergangslösung beraten, teilte der Sprecher der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform", Matthias Dräger, mit. Hintergrund ist die massive Kritik der Reformgegner an Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD), die mit einem Erlaß den erzwungenen Stopp der Rechtschreibreform umsetzen, gleichzeitig aber das Schreiben nach den neuen Regeln nicht als falsch werten lassen will.

Kieler Nachrichten 2.10.1998

[In der mehrstufigen Konstruktion der Elternräte hatten die „fortschrittlichen“ Kräfte traditionsgemäß die Führungen in den höheren Ebenen gekapert, so daß der „Bundeselternrat“ – angeblich im Interesse der Kinder – völlig unlegitimiert genau das Gegenteil der Mehrheit der Eltern an der Basis vertreten konnte. Mit gutem Grund reihte daher der profitorientierte Verband der Schulbuchverleger den Bundeselternrat und manche Schülervertretungen in seine „Verbändeallianz“ ein.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 02.10.2008 um 09.17

Schriftliche Absage

Von DANKWART GURATZSCH

Die Bürger von Schleswig-Holstein haben mit einer klaren Mehrheit von 56,4 Prozent der Stimmen der Rechtschreibreform eine Absage erteilt. Hätte die Regierung nicht versucht, die Stimmabgabe mit irreführenden Formulierungen auf dem Stimmzettel und mit einschüchternden Behauptungen über die Folgen eines Scheiterns der Reform im nördlichsten Bundesland zu beeinflussen, wäre die Mehrheit vermutlich noch höher ausgefallen. Jetzt stehen die Kultusminister bundesweit vor einem Scherbenhaufen. Denn sie haben sich verpflichtet, die Einheitlichkeit der Schriftsprache zu wahren und zum Prüfstein für die Reform zu machen. Auf dieselbe Linie haben sich die beiden großen Parteien des Bundestags eingeschworen. Sie können jetzt gar nicht anders, als die Reform zurückzunehmen.

Die schleswig-holsteinischen Wähler haben stellvertretend für alle Deutschen ein Konstrukt gekippt, das sich am Analphabetismus und nicht an den Bildungsgütern orientiert. Sie wollen nicht die Abschaffung des „ß", der Kommasetzung, der sinnstiftenden Zusammenschreibung, der sprachgeschichtlich korrekten Silbentrennung. Sie verwahren sich gegen die Rückkehr zu Schreibweisen des 19. Jahrhunderts und des Barock, die schon 1876 nach Protesten aus allen Schichten der Bevölkerung verworfen worden war. Sie verweigern sich der Beseitigung nützlicher Differenzierungen, die die Sprachgemeinschaft in Jahrhunderten entwickelt hat.

Jetzt muß Schluß sein mit den unwürdigen Tricksereien. Die Instrumentalisierung der Kinder gegen ihre Eltern und gegen die Kulturtraditionen einer 100 Millionen Menschen umfassenden Sprachgemeinschaft muß ein Ende haben. Die Kultusminister müssen die Konsequenz aus dem Scheitern der Reform ziehen und zur gemeinsamen deutschen Schriftsprache zurückkehren. Andernfalls würde es zu immer neuen Volksbegehren, zu einer tiefgreifenden Störung des Schulfriedens und zu einer dauerhaften Aushöhlung der Glaubwürdigkeit der Kulturpolitik kommen. Daran kann auch hartgesottenen Verfechtern der neuausgedachten Schreibweisen nicht gelegen sein.

DIE WELT 29.9.1998

[ Nicht nur Guratzsch konnte damals die Hartnäckigkeit der anmaßenden Dummdreistigkeit der Kultusminister und ihrer Vor- und Hintermänner noch nicht richtig einschätzen.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 01.10.2008 um 16.43

[Bild: Leerung einer gefüllten Wahlurne]

Hohe Beteiligung: Mehr als 70 Prozent der Schleswig-Holsteiner gaben gestern ihr Votum zur Rechtschreibreform ab. Foto: bir

Eckernförder Nachrichten 28.9.1998

[Die dreisten Politiker hatten versucht, die Volksabstimmung von der Bundestagswahl zu trennen, um die Beteiligung unter 50 Prozent zu drücken (dann wäre sie, anders als eine Parlamentswahl, gescheitert). Dann hatte man eine räumliche Trennung der Wahllokale angestrebt. Durchgesetzt wurde schließlich nur die Täuschungsformulierung der Regierung auf dem Stimmzettel. Außerdem mußte jeder Wähler einzeln befragt werden, ob er (etwa) auch an der Volksabstimmung teilnehmen wolle. Es entschieden sich von den tatsächlich Wählenden jedoch 92 Prozent dafür, zur „Rechtschreibreform“ ihren Willen zu bekunden – was die Regierungspolitiker heimtückisch hatten verhindern wollen.]

[Wie man liest, war die Wahlbeteiligung bei der jetzigen Bayernwahl nur 58 Prozent.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 01.10.2008 um 11.02

Wie geht's weiter nach dem Volksentscheid? Fragen an Gisela Böhrk und Matthias Dräger

Der Streit war nicht zu vermeiden

LÜBECK - Die Schleswig-Holsteiner haben sich in einem Volksentscheid gegen die neuen Rechtschreibregeln an den Schulen entschieden. Die Bildungsministerin des Landes, Gisela Böhrk (SPD), und Matthias Dräger, Sprecher der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform", standen den Lübecker Nachrichten zu der Entscheidung Rede und Antwort.

Lübecker Nachrichten: Was bedeutet der Volksentscheid für Sie?

Gisela Böhrk: Die Schleswig-Holsteiner haben sich für die Sprachinsel entschieden. Ich bedauere dies Wahlergebnis. Es ist ein Ergebnis auf Kosten der Schülerinnen und Schüler. Jetzt müssen wir versuchen, den Schaden für die Schulen so gering wie möglich zu halten.

Matthias Dräger: Die Rechtschreibung in den Schulen schließt sich wieder an die Rechtschreibung in der Gesellschaft an; damit bleibt die Einheitlichkeit der Rechtschreibung gewahrt

Wie geht es jetzt weiter?

Böhrk: Die Schulgesetzänderung wird umgesetzt. Ich werde noch in dieser Woche mit den Elternverbänden, den Lehrerverbänden und der Landesschülervertretung die erforderlichen Schritte diskutieren.

[Bild: Böhrk]
Gisela Böhrk: „Es ist ein Ergebnis auf Kosten der Schülerinnen und Schüler."
[Bild: Dräger]
Matthias Dräger: „Die Einheitlichkeit der Rechtschreibung bleibt gewahrt."


Dräger: Da allen Beteiligten klar war, daß sich die sogenannte Rechtschreibreform nur bundeseinheitlich oder gar nicht durchsetzen läßt, muß jetzt den führenden Persönlichkeiten unserer Gesellschaft klar sein, daß das „Experiment Rechtschreibreform" beendet werden muß.

Hätte der ganze Streit um die Rechtschreibung nicht anders gelöst werden können?

Böhrk: Ich glaube nicht, daß der Streit hätte gelöst werden können, weil die Positionen nicht vereinbar sind. Die Sicht der Erwachsenen, die umlernen müssen, ist eine ganz andere als die Sicht der Kinder, die neu lernen. Ich hätte mir gewünscht, der Streit wäre zugunsten der Kinder gar nicht erst entstanden.

Dräger: Wie denn? Die Kultusminister haben trotz aller Bedenken und Warnungen versucht, die Rechtschreibreform durchzuziehen. Hier ist klar geworden, daß nur noch juristische oder gesetzliche Mittel etwas bewirken können. Selbst das Votum des Deutschen Bundestages – „Die Sprache gehört dem Volk" – ist von den Kultusministern ignoriert worden.

Was werfen Sie der Gegenseite vor?

Böhrk: Ich kritisiere die Gegenseite in zwei Punkten: Der Protest kam zu spät. Es mag ja sein, daß ich in diesem Punkt etwas altmodisch bin. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß es eine Verläßlichkeit von Beschlüssen und Vereinbarungen geben muß, um tragfähig Politik machen zu können. Ein partei-, länder- und staatenübergreifendes Verfahren mit einem klaren Votum des Bundesverfassungsgerichts kann man nicht mal eben kippen. Mein Hauptvorwurf besteht darin, daß die Gegenseite die Öffentlichkeit irregeführt hat. Sie hat immer wieder behauptet, mit dem Volksentscheid werde über Pro und Kontra zur Rechtschreibreform abgestimmt. Als Bildungsministerin kann ich es nur schwer ertragen, daß die Kinder in diesem Prozeß instrumentalisiert worden sind, um Interessen von Erwachsenen durchzusetzen.

Dräger: Die Rechtschreibreform ist die faule Frucht einer unheilvollen Allianz aus dilettantischen Reformern, geschäftstüchtigen Wörter- und Schulbuchverlegern und eitlen Kulturministern. Die zahlreichen Tricks, die für die Durchsetzung der Rechtschreibreform angewandt wurden, reichen von bewußter Irreführung der Öffentlichkeit bis hin zu Wahlmanipulation, indem wahrheitswidrige Gegenvorschläge aufgestellt wurden.

Haben Sie in der Auseinandersetzung Fehler gemacht?

Böhrk: Aus meiner Sicht hat das Bildungsministerium alles getan, um die Bürgerinnen und Bürger über mögliche Konsequenzen einer erfolgreichen Volksinitiative aufzuklären.

Dräger: Wir haben die durch den Stimmzettel angerichtete Verwirrung anfänglich unterschätzt. Insbesondere die suggestive Wirkung des berüchtigten Feldes 3 „Ablehnung". Aus unserer Sicht gab es hier keine Einwirkungsmöglichkeit. Da dieses Feld auf dem Stimmzettel erst durch den völlig unnötigen Gegenvorschlag der Landesregierung entstand, trifft den Landeswahlleiter, der von der Wirkung dieses Feldes ebenso überrascht war wie wir, hierzu keine Schuld.

Lübecker Nachrichten 28.9.2008


[Anmerkung: Auch 1996 kam der Widerstand schon „zu spät“. Nach Art des alten Trickrufs der Taschendiebe „Haltet den Dieb!“ wirft Gisela Böhrk der Bürgerinitiative Instrumentalisierung der Kinder vor, wogegen die Reform-Parteien für sich in Anspruch nehmen, deren Interessen zu vertreten. Tatsächlich aber haben sie die Kinder mißbraucht, um die unerwünschten Reformideen in der Gesellschaft durchzusetzen – und zwar unter Verletzung des Elternrechts. Letzteres wiederum hat das politisch agierende Bundesverfassungsgericht vorsätzlich nicht erkennen wollen, um die „Rechtschreibreform“ nicht zu gefährden und damit – entgegen den Drägerschen Hoffnungen – weitere Gerichte bewogen, sich auch noch zehn Jahre später als Büttel der inkompetenten Reformpolitik herzugeben.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 01.10.2008 um 09.33

„Provinzposse": Votum macht Schulen Sorgen
KIEL
(sh:z)
In vielen Schulen Schleswig-Holsteins stieß das Votum gegen die Rechtschreibreform gestern auf Unverständnis. Als „Provinzposse" bezeichnete die Leiterin der Husumer Iven-Agßen-Grundschule, Marion Menzdorf, das Ergebnis des Volksentscheids „Das bringt uns in große Schwierigkeiten. Wir werden jetzt abwarten müssen, was der neue Erlaß der Kultusministerin bringen wird", sagte sie. Günter Bielenberg, Leiter des Gymnasiums in Marne, nannte die Situation „etwas schizophren." Er reagierte gestern auf das Ergebnis des Volksentscheids, indem er vor der Klausur des Deutsch-Leistungskurses Duden mit den alten Schreibregeln verteilte. Und Hildegard Pontow, Rektorin der Klaus-Groth-Schule in Bad Oldesloe, hat ihren Lehrern gestern geraten, nur noch Rechtschreib-Themen zu unterrichten, bei denen sich durch die Reform nichts geändert hat.
Auch die Schulen der deutschen Volksgruppe in Dänemark sind verunsichert. Der Schulrat des Deutschen Schul- und Sprachvereins für Nordschleswig, Franz Christiansen, schloß in Apenrade nicht aus, daß die Eltern extra befragt werden müßten — zumal die Schulen der deutschen Minderheit im Nachbarland von einem Privatschulsystem getragen werden.
Auch Schüler äußerten sich gestern kritisch zum Reformstopp. „Jetzt müssen wir das alles noch mal umlernen", klagt Hannah Fiedler (12) aus der sechsten Klasse der Kieler Hebbelschule. Und Klassenkameradin Sina Jannowsky (11) berichtet: „Meine Eltern wollten die Reform nicht, aber sie haben dafür gestimmt, weil die anderen Bundesländer auch nach den neuen Regeln unterrichten."

Schleswig-Holsteinische Landeszeitung 29.9.1998

[Anmerkung: Subtile Propaganda der SH:Z gegen den Volksentscheid. Meine Tochter war in derselben Klasse: Die hatte noch keine einzige Reformregel gelernt, und bei einer Probeabstimmung in der Deutschstunde hatte sich die Mehrheit gegen die „Reform“ ausgesprochen. Daraufhin hatte sich der Deutschlehrer auch als Anhänger der klassischen Rechtschreibung „geoutet“.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 01.10.2008 um 09.09

CDU: Dreiste Ministerin soll gehen

Die Schleswig-Holsteiner haben die Rechtschreibreform gestoppt — jetzt eskaliert der politische Streit. Bildungsministerin Gisela Böhrk soll zurücktreten, forderten gestern unisono die Landes-CDU und die Reformgegner.

KIEL Christian Hauck
[Bild: Böhrk]
„Ich bedaure das Ergebnis."

Nach dem klaren Nein der Schleswig-Holsteiner zur Rechtschreibreform gerät Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD) immer stärker unter politischen Druck. Der Sprecher der Volksinitiative „Wir gegen die Rechtschreibreform", Matthias Dräger, warf Böhrk vor, die neue Rechtschreibung zu früh eingeführt zu haben. In den Grundschulen wird die neue Schreibweise bereits seit zwei Jahren gelehrt. Dräger: „Wer solche gravierenden Fehlentscheidungen zu verantworten hat, sollte besser auf einen anderen Posten versetzt werden." Den Ausgang der Abstimmung bezeichnete Dräger als „urdemokratische Entscheidung mit Signalwirkung" auch für andere Bundesländer.

Die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, Angelika Volquartz machte Böhrk für die zu erwartenden Probleme an den Schulen verantwortlich. „Frau Böhrk hat die Schüler und Lehrer sehenden Auges in die neuen Rechtschreibregeln getrieben. Sie ist Schuld daran, daß insbesondere die Kinder in den Grundschulen jetzt wieder umlernen müssen," erklärte Volquartz. Auch der CDU-Landesvorsitzende Peter Kurt Würzbach forderte Böhrks Rücktritt, weil die Bildungsministerin gestern angekündigte, daß künftig neben der neuen auch die alte Schreibweise an den Schulen erlaubt sein soll. „Frau Böhrk setzt damit die Spielregeln der Demokratie auf unverschämteste Weise außer Kraft. Die Schleswig-Holsteiner sollen offenbar für dumm verkauft werden. Diese Ministerin muß abtreten," sagte Würzbach.

Böhrk räumte ein, daß das Ergebnis der Volksabstimmung den 312 000 Schülern Nachteile bringen wird. „Ich bedauere das Ergebnis. Ich akzeptiere aber das Votum der Schleswig-Holsteiner," stellte die Ministerin fest und kündigte einen Erlaß an, der voraussichtlich Mitte November in Kraft treten wird. Danach soll künftig die neue und die alte Rechtschreibung als korrekt anerkannt werden. Gelehrt und geübt werden jedoch nur noch die alten Regelungen und Schreibweisen. Ein ernstes Problem stellt nach den Worten der Ministerin jetzt die Versorgung mit Schulbüchern dar. Böhrk sagte, daß bereits 90 Prozent der in den Schulen vorhandenen Lehrbücher nach den neuen Regeln geschrieben sind.

[Anmerkung: Das war ganz klar gelogen. Noch acht Jahre später waren nur 50 Prozent der Bücher an den Gymnasien „reformiert“.]

Die Ablehnung der Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein wird nach Angaben der Kultusministerkonferenz (KMK) keinen Dominoeffekt auf die anderen Bundesländer haben. Aus dem Kieler Volksentscheid resultiere keine bindende Wirkung für die anderen Bundesländer, sagte gestern ein KMK-Sprecher in Bonn.

[Anmerkung: Dafür hatte das Bundesverfassungsgericht am 14.7.1998 gesorgt. Die scheinbar milde Toleranz des Gerichtes diente in Wirklichkeit der Rettung der Reform und war ein Freibrief für die übrigen Kultusminister, ungestört weiterzumachen – während sie vorher immer die Pflicht aller Länder betont hatten, zur Erhaltung der Einheit mitzumachen. Der bayrische Kultusminister Zehetmair wollte deswegen sogar Volksentscheide verbieten lassen.]

Eventuelle Volksentscheide über die Rechtschreibreform in weiteren Bundesländern blieben allerdings abzuwarten.

Schleswig-Holsteinische Landeszeitung 29.9.1998


eingetragen von Sigmar Salzburg am 14.09.2008 um 18.15

Streitgespräch mit Bildungsministerin Gisela Böhrk und Matthias Dräger, Initiator des Volksentscheids

Wie der Norden schreiben soll


LÜBECK - In elf Tagen werden die Schleswig-Holsteiner zweimal zur Urne gerufen. Neben der Bundestagswahl wird in einem Volksentscheid darüber abgestimmt, ob die Schüler im Norden weiter nach den neuen Rechtschreibregeln lernen - oder nicht. Die Lübecker Nachrichten haben zum Streitgespräch geladen: Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD) und Matthias Dräger,
Sprecher der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform", trafen zum einzigen Mal vor dem 27. September direkt aufeinander. Mit scharfer Zunge wurde argumentiert. Als die Mikrofone schon ausgeschaltet waren, ging das Wortgefecht der beiden Kontrahenten noch eine halbe Stunde weiter. Das Streitgespräch moderierten die LN-Redakteure Jürgen Adamek und Lars Fetköter.


[Bild]
„Sie benutzen die Kinder!" - SPD-Bildungsministerin Gisela Böhrk (53) befürchtet, daß Schleswig-Holstein im Falle eines erfolgreichen Volksentscheides zur Rechtschreib-lnsel wird. Die neuen Regeln hätten den Kindern das Schreiben erleichtert.

LN: Herr Dräger, warum lehnen Sie die Rechtschreibreform so vehement ab?
Matthias Dräger:
Weil sie keine Reform ist. Sie vereinfacht nicht, sie ist unlogisch, sie erzeugt neue Schwierigkeiten bei der Schreibung. Diese gravierenden Mängel habe ich Frau Böhrk schon im Oktober 1994 in einem Brief aufgezeigt.

Gisela Böhrk: Die Volksinitiative will ja nicht wissen, ob wir die neue Rechtschreibung gut finden, sondern sie will das Schulgesetz ändern. Falls Sie mit Ihrer Initiative Erfolg hätten, bedeutete dies, daß die Kinder aus Schulbüchern lernen müssen, die bereits fast zur Gänze den neuen Regeln entsprechen, sie diese Regeln aber nicht anwenden dürfen. Schleswig-Holstein würde zur Rechtschreib-Insel, denn kein anderes Bundesland würde zur alten Schreibung zurückkehren. Die Rechtschreibreform ist länger als zehn Jahre vorbereitet worden, und Sie sagen mir, sie hätten mir 1995 geschrieben. Da sind sie mit ihrem Protest zu spät gekommen, und auch die Dichter sind mit ihrem Protest zu spät gekommen. Und dafür sollen jetzt nicht die Verantwortlichen bestraft werden, sondern die Kinder.

Dräger: Der breite Protest gegen die Reform konnte erst losgehen, als die Wörterbücher auf den Markt geworfen wurden. Vorher konnte kein Mensch sagen, was die Reform überhaupt bedeutet. Das sehen Sie auch an den zahlreichen Abweichungen in den versch iedenen Wörterbüchern. Deren Redaktionen hatten ja Probleme, das Regelwerk einheitlich auszulegen.
Böhrk: Wer sich frühzeitig über diese Reform informieren wollte, konnte dies tun. Und die Erfahrung der letzten beiden Jahren zeigt, daß sie den Kindern das Schreibenlernen erleichtert.
Dräger: Aber Lehrer behaupten das Gegenteil. Die Kinder machen wegen der Reform sogar mehr Fehler.
Böhrk: Das ist doch absurd! Wir haben genausoviele Lehrer, die das Gegenteil behaupten.

Dräger: Wir müssen das Schulgesetz erweitern, weil wir die Rechtschreibreform nicht als Einzelfaktor angehen können.
Böhrk: Dafür benutzen Sie die Kinder.
Dräger: Wenn wir nur diese Reform per Gesetz stoppen wollten, könnte es uns passieren, daß die Kultusminister uns in fünf oder zehn Jahren die nächste Rechtschreibreform vorsetzen wollen. Davor wollen wir Kinder und Erwachsene schützen.

Herr Dräger, Sie sagen doch selbst, daß diese Reform Fehler hat. Warum sollten wir die nicht in einer weiteren Reform in zehn Jahren ändern?

Dräger: Meine Angst vor einer neuen Reform ist gar nicht weit hergeholt. Heide Simonis hat selbst gesagt, daß der Landtag das Votum des Volkes korrigieren könnte.

Frau Böhrk, was passiert, wenn der Volksentscheid Erfolg hat?

Böhrk: Dann wird die Ministerpräsidentin das Gesetz unterzeichnen. Es wird nach drei bis vier Wochen in Kraft treten. Das bedeutet, daß die neue Rechtschreibung nicht mehr gelehrt wird.

Dräger: Im Augenblick lernen die Kinder eine Rechtschreibung, die in der Bevölkerung nicht üblich ist.
Böhrk: Aber der Umstellungsprozeß ist überall im Gange...

Herr Dräger, was machen Sie, wenn die Wähler am 27. September entscheiden, daß die Kinder die neue Rechtschreibung erlernen sollen?

Dräger: Die Initiativen in anderen Bundesländern machen weiter. Zudem stehen noch Klagen ins Haus. Wenn Erwachsene erstmal gezwungen werden, die neue Rechtschreibung anzuwenden, wird es weitere Verfahren geben.

Frau Böhrk, wenn die Reform gekippt wird: Haben Sie einen Plan in der Schublade, mit dem eine Rechtschreib-lnsel im Norden dennoch verhindert werden kann?

Böhrk: Wir zerbrechen uns in der Tat den Kopf darüber, wie wir den Schaden von Kindern abwenden könnnen. Aber es gibt eine solche Möglichkeit nicht. Wenn der Gesetzentwurf so beschlossen wird, muß er umgesetzt werden ...

Der nächste Landtag kann das Gesetz wieder ändern.

Böhrk: Natürlich kann jedes Gesetz wieder geändert wer den. Aber wir können doch nicht Volksinitiativen ad absurdum führen, indem wir jedes Gesetz, das uns mißfällt, wieder ändern. Jetzt möchte ich aber Sie mal etwas fragen, Herr Dräger: Kein Erwachsener braucht nach der Rechtschreibreform anders zu schreiben als bisher. Auch die Herren Grass und Lenz können so weiterschreiben wie bisher. Nur die Kinder erlernen einfachere Schreibweisen. Hier geht es doch einfach um die Frage: Wie tolerant sind die Erwachsenen den Kindern gegenüber?

Dräger: Wenn wir schon bei
Toleranz sind: Was sagen Sie denn dazu, daß 70 Prozent der Erwachsenen diese Reform nicht wollen?

Böhrk: Aber die können doch weiter schreiben wie bisher.
Es sei denn, sie sind Beamte, und es kommt ein Erlaß über die Amtssprache. Oder sie sind Redakteure. Aber die Dichter dürfen weiterhin schreiben wie sie wollen. Im übrigen sind der Bundeselternrat, die meisten Landes-Elternvertretungen, die Landes-Schülervertretung und die Bundes-Lehrerverbände für die Reform.

Frau Böhrk, sind Sie denn glücklich darüber, wie der Stimmzettel jetzt aussieht? Wir werden jeden Tag von Briefwählern angerufen, die an dem komplizierten Ding verzweifeln.

Böhrk: Der Text der Volksinitiative ist ja schon sehr kompliziert. Der Punkt zwei ist die Alternative, die der Landtag beschlossen hat. Wir sagen da, daß als allgemein üblich jene reformierte Rechtschreibung gilt, die für alle übrigen Länder in den Schulen verbindlich ist.

Dräger: Was da steht, entspricht nicht der Wahrheit: Da steht, in den Schulen wird die allgemein übliche deutsche Rechtschreibung unterrichtet. Aber die allgemeine Rechtschreibung ist nicht die reformierte. Da schauen Sie sich doch mal an, wie das, was wir hier sagen, in der Zeitung geschrieben wird...

Aber wir reden doch über die Rechtschreibung in den Schulen ...

Dräger: Nein, wir reden über Rechtschreibung.
Böhrk: Herr Dräger, Sie reden tatsächlich über Rechtschreibung, und sie benutzen die Kinder. Ich rede über Schulen, weil die das Ziel ihrer Initiative sind.


[Abbildung: Verwirrender Stimmzettel]

Lübecker Nachrichten v. 16.9.1998

[Der erfolgreiche Volksentscheid wurde nach nicht einmal einem Jahr durch ein Parteienkomplott im Kieler Parlament annulliert. Der Wille des Volkes hatte schulisch nur 9 Monate Gültigkeit – vom 10.12.98 bis zum 21.09.1999. Nach sechs Jahren brachen große Teile der Unfugsreform dennoch zusammen – aber nicht wegen demokratischer Regungen der Politiker, sondern weil der ausgestiegene Springer-Konzern „zurück ins Boot“ sollte.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 07.09.2008 um 10.59

Volksentscheid: Streit um verwirrenden Stimmzettel

Kiel (US) Die schwer verständlichen Formulierungen auf dem Abstimmungszettel für den Volksentscheid zur Rechtschreibreform lassen sich nicht mehr korrigieren. Die Zettel sind bereits im Druck, erklärte gestern Landeswahlleiter Dietmar Lutz. Auch inhaltlich gebe es nach der Zustimmung der Landtagsverwaltung und der Rechtschreibinitiative keine Änderungsmöglichkeit.


Unterdessen ist die Diskussion über die „Schuldigen" entbrannt. Der CDU-Landes Vorsitzende Peter Kurt Würzbach macht Reformgegnerin Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) dafür
verantwortlich. Er wirft ihr vordemokratisches Denken und Störmanöver gegen den Volksentscheid vor. Das Problem sei durch einen von SPD und Grünen mit Simonis' Stimme beschlossenen Alternativtext pro Rechtschreibreform entstanden, der absichtlich die Verwirrung ausgelöst habe.
Das bestreitet Regierungssprecherin Susanne Bieler-Seelhoff. Für die Volksabstimmung sei allein der Landtag zuständig. Die Ministerpräsidentin habe nur den zuständigen Landtagspräsidenten auf die mißverständliche Formulierung hingewiesen.
Dem widerspricht Joachim Köhler, Sprecher von Landtagspräsident Heinz-Werner Arens (SPD): Die besonders umstrittene Formulierung auf dem Abstimmungszettel stamme vom Landeswahlleiter. Der sei Beamter des Innenministeriums. Es sei verwunderlich, daß sich Simonis bei Arens über das Handeln einer ihr unterstehenden Regierungsabteilung beklage.
Der Streit dreht sich um die vom Wahlleiter formulierte dritte Alternative, die neben der Ablehnung und der Befürwortung der Reform zur Abstimmung steht. Sie lautet: „Ablehnung - Ich lehne den Gesetzentwurf der Volksinitiative und die Vorlage des Schleswig-Holsteinischen Landtages ab." Dies bedeutet aber keineswegs die Ablehnung der Rechtschreibreform, sondern die Ablehnung der Volksabstimmung und damit automatisch ein Ja zur Neuschreibung.

Kieler Nachrichten, 08.08.1998


eingetragen von Sigmar Salzburg am 07.09.2008 um 10.54

Volksentscheid - Stimmzettel stellt Wahlvolk vor Rätsel

Bürger können zwischen drei Varianten wählen

Heide (ut) Wieder klopft es an der Tür von Sven Borchers und seinen Kolleginnen. Borchers ist im Heider Rathaus für die Organisation von Bundestagswahl und Volksentscheid zuständig. Ein Mann kommt herein, um im Amt per Briefwahl abzustimmen. Die Lektüre des grau-blauen Stimmzettels für den Volksentscheid „WIR gegen die Rechtschreibreform“ ist eine Aufgabe für sich. Nachdem der Besucher einige Zeil gelesen und bekannt hat, daß die Formulierungen „ein bißchen verwirrend" seien, kommt ihm eine von Borchers' Mitarbeiterinnen zu Hilfe: „Wenn Sie für die Reform sind, müssen Sie ganz oben ankreuzen, wenn sie dagegen sind." – und so weiter.
Auch bei Wahl-Profi Borchers sorgte der Stimmzettel zum Volksentscheid zuerst für Verwirrung". Erst recht haben Bürger, die sich nicht beruflich mit dem Thema Wahlen beschäftigen, so ihre Probleme. Borchers: „Viele fragen, wo sie ihr Kreuz machen sollen."
Borchers befürchtet, daß sich am 27. September wegen erheblichen Erklärungsbedarfs in den Wahlkabinen Warteschlangen bilden werden. Wegen der Doppel-Wahl wurde die Zahl der Wahlhelfer von sechs auf zehn pro Bezirk aufgestockt - auf insgesamt 130. 90 sind es sonst.
Hier eine Wahlhilfe:

• Wer gegen die Reform ist, mache sein Kreuz bei Nummer eins: „In den Schulen wird die allgemein übliche Rechtschreibung unterrichtet. Als allgemein üblich gilt die Rechtschreibung, wie sie in der Bevölkerung seit langem anerkannt ist und in der
Mehrzahl der lieferbaren Bücher verwendet wird.“
• Wer für die Rechtschreibreform ist, entscheide sich für Nummer zwei: „In den Schulen wird die allgemein übliche deutsche Rechtschreibung unterrichtet. Als allgemein üblich gilt die Rechtschreibung, wie sie in den übrigen Ländern der Bundesrepublik Deutschland für die Schulen verbindlich ist.
• Wer weder fiir das eine noch das andere ist, wähle Nummer drei: „Ich lehne den Gesetzentwurf der Volks-Initiative und die Vorlage des Schleswig-Holsteinischen Landtages ab."

Dithmarscher Landeszeitung 2.9.1998

[Nicht erwähnt: Das Kreuz bei „drei“ wirkte als Befürwortung der „Reform“.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 07.09.2008 um 10.46

400000-Mark-Kampagne für die Rechtschreibreform
Offensive der Reform-Befürworter
KIEL
Carsten Maltzan
Im Streit um die Rechtschreibreform hat sich jetzt eine breite Front der Reformbefürworter gebildet. Mit dem Verband der Schulbuchverlage an der Spitze unterstützen 14 bundes- und landesweite Eltern-, Lehrer- und Schülerorganisationen die neue Schreibweise. Der Vorsitzende des Verbandes der Schulbuchverlage, Fritz von Bernuth, stellte gestern in Kiel die Kampagne vor, die der Reform am 27. September beim Volksentscheid zum Durchbruch verhelfen soll.
Aus Sicht der Verlage könne „das Rad nicht mehr zurückgedreht werden", begründete von Bernuth die 400000 Mark teure Initiative der Befürworter. Die Schulbücher seien mittlerweile zu fast 100 Prozent auf die neuen Schreibregeln umgestellt. „Die Verlage haben bereits 15 Millionen Mark in die Umstellung investiert", erklärte der Verbandsvorsitzende weiter. Falls Schleswig-Holstein zur alten Schreibweise zurückkehren sollte, könnten die Verlage den Norden nicht mehr mit Schulbüchern versorgen. Außerdem dürfe der Föderalismus in Deutschland durch das Ausscheren des Nordens „nicht lächerlich gemacht werden", sagte er.
Die Vorsitzende des Bundeselternrates, Renate Hendricks, rief die Reformgegner auf, ihr „Engagement lieber in die Verbesserung des Bildungssystems" als in den Kampf gegen die Reform zu investieren. Ein Stoppen der Reform ginge „eindeutig zu Lasten der Kinder".
Die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, Rita Wittmaack, und der Vorsitzende des Schulleiterverbandes, Michael Doppke, berichteten übereinstimmend, daß die Schüler seit Einführung der neuen Regeln „viel weniger Fehler machen". Doppke betonte zudem, daß die schleswig-holsteinischen Schulen eine Rückkehr zu den alten Regeln nicht bezahlen könnten. Jede Schule müßte knapp 25 000 Mark in eine Umstellung auf die alte Schreibweise investieren. „Für dieses Geld könnte man vier Jahre lang eine Hausaufgabenhilfe beschäftigen", sagte Doppke. Die Kampagne besteht vor allem Anzeigen in Tageszeitungen und Werbespots in regionalen Radiosendern. Außerdem wurden ein Info-Angebot im Internet unter der Adresse [http ...] und eine Telefon-Hotline 0621/ 1581-124, montags bis donnerstags 16 bis 19 / freitags 9 bis 12 Uhr) eingerichtet.
Die Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform", die den Volksentscheid durch eine Unterschriftenaktion in Gang gebracht hat, meinte dagegen, der Verband der Schulbuchverlage sehe seine Felle davonschwimmen. „Es ist klar, daß jetzt aus durchsichtigen pekuniären Gründen agiert wird", meinte Mitinitiator Matthias Dräger.

Eckernförder Zeitung 1.9.1998

[Acht Jahre später konnte die „Reform“ dann doch zurückgedreht werden, aber nicht wegen der demokratischen Entscheidung des Volkes, sondern weil der Springer-Konzern ausgestiegen war. Aus Rechthaberei und Machterhalt der Politiker mußten jedoch die neuen ss und weitere unwürdige Vorschriften als Geßlerhut erhalten bleiben.]

[Selbstverständlich hatten die „14 bundes- und landesweiten Eltern-, Lehrer- und Schülerorganisationen“ ebenso wie der Bundeselternrat der Renate Hendricks keinerlei Mandat der Elternmehrheit, in ihrem Namen für die „Reform“ zu einzutreten.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 04.09.2008 um 08.15

Lehrer gegen Rechtschreibreform

Von G. SCHOMAKER
Berlin - Der Widerstand wächst. Und immer mehr Lehrer weigern sich, nach neuen Rechtschreibregeln zu unterrichten. Trotz massiven Drucks auf die Reform-Rebellen.

Eine Lehrerin zur BZ: „Das Landesschulamt will das umstrittene ,Neu-Deutsch' auf Biegen oder Brechen an Berlins Schulen durchsetzen. Notfalls über Disziplinarmaßnahmen gegen uns."
Denn die Pädagogen begehren auf. Wollen nicht aus Schulbüchern unterrichten, in denen es von Fehlern wimmelt. Bis zu 10 000 sollen sich in die Lehrtexte eingeschlichen haben.
Eine Tempelhofer Pädagogin (will wegen der Strafandrohung anonym bleiben): „Ungefähr die Hälfte der Berliner Lehrer ist gegen die Rechtschreibreform. Obwohl wir die Anweisung mit drei Seiten Info-Text von Schulsenatorin Stahmer auf dem Tisch haben."
Wer öffentlich dagegen protestiert, dem drohen Disziplinarmaßnahmen: Maulkorb gegen Reform-Rebellen. Die Lehrerin: „Als Beamte sind wir zur Ausführung der Anweisung verpflichtet. Trotzdem unterlaufen viele Lehrer die Reform stillschweigend."
Die Bürgerinitiative „Wir sind das Rechtschreibvolk" sammelte auf dem Alex Unterschriften gegen das neue Regelwerk. 1000 Berliner unterstützten allein gestern den Protest. Gernot Holstein: „Wir stoppen die Reform. Anfang September wird das Verwaltungsgericht über meinen Eilantrag entscheiden."

BZ am Sonntag 24.08.1997

Der Eilantrag war erfolgreich. Jedoch kam dann das politisch orientierte Bundesverfassungsgericht dem Bundesverwaltungsgericht zuvor, das unter der Leitung des Schulrechtsexperten Prof. Norbert Niehues die nichtsnutzige „Reform“ endgültig zum Scheitern gebracht hätte. Die Verfassungsrichter aber erklärten die ungesetzliche Reformierung für „unwesentlich“ – und zwar so parteinehmend, daß noch zehn Jahre später obrigkeitsgefällige Gerichte dies als Freibrief für jede Narretei der Kultusminister auslegen konnten.

Während in Berlin (wie in Schleswig-Holstein) reformgegnerische Lehrer disziplinarisch verfolgt wurden, organisierte die linke Lehrer-GEW ‚Menschenketten’ zur Verhinderung der Unterschriftensammlung. Die Berliner Regierung tat schließlich alles, um das folgende Volksbegehren durch Verhinderung von Werbung und Minimierung der Unterschriftenstellen zu behindern. Dagegen durfte beispielsweise der Verband der Schulbuchverleger eine halbe Million DM locker machen, um in Schleswig-Holstein in den Volksentscheid einzugreifen.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 03.09.2008 um 19.46

„Die Fehlerquote in Diktaten wird steigen"
Für die Deutschlehrerin Elke Loubier ist die Rechtschreibreform ein unerträglicher Unsinn


Elke Loubier aus Marne hofft, daß der Rechtschreibreform beim Volksentscheid am 27. September, eine klare Absage erteilt wird. Die seit kurzem pensionierte Deutschlehrerin sieht in der Reform keinen Fortschritt und befürchtet ein Ansteigen der Fehlerquote bei Diktaten.

Frage: Warum sind Sie gegen die Rechtschreibreform?

Loubier: Es wird nichts geändert, was geändert werden müßte. Im Gegenteil, die Schüler hätten noch größere Rechtschreibschwierigkeilen als bisher.

Frage: Zum Beispiel?

Loubier: Seit Jahren analysiere ich Diktattexte von Realschülern. Dabei komme ich immer wieder zu denselben Ergebnissen.

Erstens: Die meisten Rechtschreibfehler machen unsere Schüler in der Groß- und Kleinschreibung. Mit dieser Schwierigkeit haben übrigens nur die deutschen Schüler zu kämpfen.

Zweitens: Viele Fehler in der Schreibung des „s"-Lautes, weil es hier drei Möglichkeiten gibt.

Drittens: In der Zusammen-und/oder Getrenntschreibung werden sehr häufig Fehler gemacht. Allein in diesen drei Bereichen wird es durch die „Reform" die Rechtschreibung viel komplizierter. Die Rechtschreibreform schafft Verwirrung.

Frage: Warum? Die Schriftsprache soll durch die Reform doch vereinfacht werden?

Loubier: Wird sie aber nicht, Im Gegenteil: Vieles verwirrt. Vor allem werden in den unterschiedlichen Wörterbüchern unterschiedliche Schreibweisen als richtig ausgewiesen (s. Beispiel unten, d. Red.). Auch wird in vielen Fallen die Herkunft der Wörter ignoriert. So ist die neue Schreibweise „einbläuen" falsch. Das Wort ist keine Ableitung von „blau", sondern von „bleuen", einem mittelhochdeutschen Wort für „schlagen". Richtig ist daher die bisherige Schreibweise „einbleuen". Die neue Schreibweise „belämmern" ist ebenfalls falsch. Das Wort kommt nicht von „Lamm", sondern aus dem Mittel-Niederdeutschen „belemmern", es bedeutet „hindern", „hemmen" oder „beschädigen".

Hier anderes Beispiel: Nach der Rechtschreibreform heißt es statt „haltmachen" „Halt machen". Aber „kehrtmachen" wird nicht verändert. Oder: Aus „Muß" wird „Fluss", aber „fließen" bleibt unverändert,
Diese Liste mit Beispielen ließe sich endlos fortsetzen. In der Rechtschreibreform stecken so viele Unsinnigkeiten, daß es nicht zu ertragen ist.

Frage: Verwirrend ist auch der Stimmzettel. Eigentlich weiß niemand so recht, was anzukreuzen ist. ...

Loubier: Ich finde ihn sehr verwirrend, besonders wegen des dritten Kästchens. Dort steht unter dem fettgedruckteil Wort „Ablehnung": „Ich lehne den Gesetzesentwurf der Volksinitiative und die Vorlage des Schleswig-Holsteinischen Landtages ab". Warum diese unnötige Verunsi-
cherung des Wählers? Es hätte genügt, wenn die Frage „Sind Sie für die Rechtschreibreform?" mit „Ja", „Nein" oder „Enthaltung" beantwortet werden müßte. Wichtig ist daher: Wer gegen die Rechtschreibreform ist, muß sein Kreuz im oberen Kästchen machen. Und zwar nur dort.

Frage: Kommt das Volksbegehren nicht zu spät? Immerhin wird in den Grundschulen bereits seit zwei Jahren mich der neuen Rechtschreibung unterrichtet.

Loubier: Das stellt aus pädagogischer Sicht kein Problem dar. In der Grundschule lernen die Kinder allenfalls in der vierten Klasse die „s"-Laute. Alle weiteren von der Rechtschreibreform betroffenen Bereiche werden erst in den weiterführenden Schulen unterrichtet.

Frage: Und die Kosten? Eine Rücknahme der Reform erfordert wieder neue Schulbücher.

Loubier: Zur Zeit sind erst etwa 30 000 von über 700 000 Büchern umgestellt. Die eigentlichen Kosten kämen also erst, wenn die Rechtschreibform bleibt und zwar in Milliardenhöhe.

Frage: Offenbar fällt Ihnen kein Grund ein, die Rechtschreibreform zu befürworten?

Loubier: Ich behaupte: Wer für die Rechtschreibreform ist, weiß nicht, worum es geht.

Frage: Angenommen die Schleswig-Holsteiner lehnen die Rechtschreibreform ab: Werden die Schüler nicht bundesweit in eine orthographische Außenseiterrolle gedrängt?

Loubier: Falls der Volksentscheid in Schleswig-Holstein ein Erfolg wird, ziehen andere Bundesländer nach: Eine ähnliche Initiative sieht etwa in Bayern schon in den Startlöchern. Das Ergebnis in Schleswig-Holstein führt daher zu keiner „Insel-Lösung" für die Schüler, sondern zu einer Kettenreaktion in der Bundesrepublik.

Das Gespräch führte Henning Voß

Dithmarscher Landeszeitung 10.09.1998 Seite 25

Auch nach zehn Jahren ist Hauptaussage der erfahrenen Deutschlehrerin noch gültig und wurde durch die Untersuchung von Prof. Harals Marx und erst kürzlich wieder durch Dr. Uwe Grund bestätigt.

Auch die Hoffnung, daß andere Bundesländer nachziehen könnten, war berechtigt. Aber nach Niedersachsen wurden die Volksbegehren in Berlin, Bremen, Mecklenburg u.a. von den Politikern – gewitzt durch ihre Niederlage in Schleswig-Holstein – mit verfeinerten Methoden abgewürgt. Als dann doch die neue konservative Regierung in Niedersachsen unter Christian Wulff einen Umschwung einleiten wollte, kam der beschämendste Widerstand aus dem Lande des erfolgreichen Volksentscheids – von der Regierung, deren Parteien hauptverantwortlich für die antidemokratische Annullierung des Volkswillen waren.



eingetragen von Sigmar Salzburg am 28.07.2008 um 19.47

Freizeit Revue Prominente Meinungen

Seit 1. August gilt die neue Rechtschreibreform
FREIZEIT REVUE fragte dazu Prominente


Volker Brandt, 62: Für Portemonnaie nur Portmonee? Ziemlich unelegant. Schwimmmeister?! Nee, der schwimmt mir zu langsam! Das Motto „Öfter mal was Neues!" bedeutet nicht unbedingt mehr „Niwoo"!

Carolin Reiber, 57: Ich selbst werde garantiert nie Portmonee schreiben. Da nehme ich lieber das Original. Rechtschreibung ist doch auch eine Sache der Ästhetik! Die deutsche Sprache ist ästhetisch. Beim Briefeschreiben macht man sich doch Gedanken über die Formulierung.

Günter Strack, 69: Ich frage mich, ist das wirklich notwendig ,,Schifffahrt" mit drei „f“ zu schreiben? Lexika müssen geändert werden. Kippt die Reform doch noch, muß alles rückgängig gemacht werden. Was das kostet. Ich hätte es begrüßt, wenn das Volk befragt worden wäre.

Roberto Blanco, 61: Meiner Meinung nach gäbe es Reformen, die wichtiger wären! Das ist alles ein Schmarrn! Da müßten so viele Gesetze dringend reformiert werden, z. B. Kinderpornographie. Darüber sollte man sich die Köpfe zerbrechen. Ich bin Deutscher und werde schreiben wie bisher.

Uschi Dämmrich von Luttitz, 42:
Ich denke überhaupt nicht daran, mich nach den neuen Regeln zu richten. Gott sei Dank war es immer ein Zeichen von Bildung, z. B. das Wort Rhythmus richtig zu schreiben. Wenn schon Reform, dann sollte doch gleich jeder so schreiben, wie er will.

Dieter Thomas Heck, 60:
Die ganze Geschichte finde ich absurd. Was machen solche Menschen später im Leben, die heute eine solche Schreibweise lernen? Ich halte das für einen „Geniestreich" von den Kultusministern der Länder. Und das alles ist absoluter Unsinn!

Sunnyi Melles Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein, 39:
Ich finde es eine Unmöglichkeit, Portemonnaie künftig Portmonee schreiben zu müssen. Meinen Kindern bringe ich die richtige Schreibweise bei. Mit der Reform macht man nicht nur die deutsche, sondern auch noch die französische Sprache kaputt.

Heinz G. Konsalik, 77:

„Stresssituation“ und „Grafologe" - schon diese beiden Beispiele beweisen, daß die sogenannte Reform erstens unsinnig ist und zweitens überflüssig wie ein Kropf. Glücklicherweise bin ich in der Lage, verfügen zu können, daß meine Werke nicht auf die neue Schreibweise umgestellt werden dürfen. Und auch meine Manuskripte werde ich weiterhin in der deutschen Sprache verfassen, die mir von frühester Jugend an die Weltliteratur erschlossen hat. Mich läßt der Verdacht, nicht los, daß wir diese „Erneuerung" Rechtschreibbehinderten - auch akademischen - zu verdanken haben. Bedauern habe ich nur mit den verstorbenen Dichtern, die sich nicht gegen die Reformierung wehren können. Goethe, Kleist, Lessing auf modern getrimmt; eine Horrorvorstellung. Die Folge wird sein, daß man in spätestens zehn Jahren auf Auktionen für Klassiker-Ausgaben, die vor der Reform gedruckt wurden, Höchstpreise zahlen wird.

[Es gibt aber auch mustergültige Untertanen :]

Marianne & Michael. 45/48: Da wir allem Neuen gegenüber aufgeschlossen sind, werden wir uns - wohl oder übel – der Rechtschreibreform anpassen. Für unsere Nachkommen ist sie eine Erleichterung.

Freizeit Revue 1.8.1998


– geändert durch Sigmar Salzburg am 29.07.2008, 07.27 –


eingetragen von Sigmar Salzburg am 28.07.2008 um 19.32

28.7.2008
Kata Kottra
VOR 10 JAHREN ...

Als aus daß dass wurde

1. August 1998: Die Rechtschreibreform tritt in Kraft


Nach jahrelanger Vorarbeit von Germanisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und endlosen Diskussionen waren sich die Kultusminister der deutschen Länder einig: Vom 1. August 1998 an sollte im deutschsprachigen Raum eine reformierte Rechtschreibung gelten, allerdings mit einer langen Übergangszeit bis 2007. Aus dem "daß" wurde, wie zuvor schon in der Schweiz üblich, ein "dass".
Schüler, Journalisten und Schriftsteller protestierten lautstark gegen den vermeintlichen Traditionsbruch. Bis vor das Bundesverfassungsgericht zogen die Kläger, weil sie dem Staat einen Eingriff in die Grundrechte von Schülern und Eltern vorwarfen. Dabei hatte es in den Jahren zuvor viel drastischere Vorschläge gegeben: Radikalreformer wollten die Kleinschreibung der Substantive durchsetzen, wie sie in den meisten Sprachen üblich ist - ein Vorschlag ohne Chance auf Verwirklichung. Vor zwei Jahren schließlich milderte der "Rat für deutsche Rechtschreibung" die Reform etwas ab und erlaubte in vielen Fällen das Nebeneinander von alter und neuer Schreibweise.
Um alle zu beruhigen, die noch mit den neuen Regeln kämpfen: Ins Gefängnis kommt in Deutschland wegen nicht befolgter Kommaregeln oder der eigenwilligen Schreibweise von Fremdwörtern niemand. Der Staat darf zwar Regeln erlassen, an die sich Beamte, Schüler und Richter halten müssen, doch als Gesetze gelten diese nicht. Im Brief an die Oma, in der Geburtstagseinladung oder in Menükarten muss sich - rein rechtlich - keiner an die neue Rechtschreibung halten. Und viele tun es ja auch nicht - bewusst oder unbewusst.
Das Parlament Nr. 31 / 28.7.2008
http://www.bundestag.de/dasparlament/2008/31/Kehrseite/21891305.html

Danke, daß wir nicht ins Gefängnis müssen. Aber gebildete Schüler, die wissen, warum sie „Quentchen“ schreiben, bekommen die Fehlerkeule zu spüren. Wir sollen dankbar sein, daß die „Reform“ nicht noch radikaler daherkam. Dennoch konnte man den Reformhumbug nur durchsetzen, weil ein politisch motiviertes Verfassungsgericht in der Geiselnahme der Schüler nicht eine Verletzung von Grundrechten sah, sondern sie zum vorbildhaften „Hineinwirken in die Gesellschaft“ umfirmierte. Zehn Jahre schon lang hatten die Kultusminister den gröbsten Unfug in die Hirne der Schüler hämmern lassen, als 2006 nicht etwa der demokratische Volksentscheid vom 27.9.1998, nicht der Parlamentsbeschluß „Die Sprache gehört dem Volk“ vom 26.3.1998 , sondern der Ausstieg des Springerkonzerns aus der flächendeckenden Zwangsmissionierung einen Teilrückzug der banausischen Kulturpolitiker erzwang, ohne daß die Vernunft jedoch wieder voll zugelassen wurde.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 18.07.2008 um 09.25

Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis kündigt an, einen Volksentscheid gegen die „Rechtschreibreform“ durch ein Gesetz annullieren zu wollen.

Focus, 20 Juli 1998:

„Der Lächerlichkeit preisgegeben“

Ministerpräsidentin Heide Simonis wehrt sich gegen einen Stopp der Reform in Schleswig-Holstein


Von Jürgen Marks

FOCUS: Frau Simonis, der Volksentscheid im September könnte die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein kippen. Regieren Sie bald eine einsame Sprachinsel?

Simonis: Das ist gar nicht lustig. […]

Simonis: Es gibt nur einen vernünftigen Weg, den Unsinn abzuwenden: Wir müssen noch einmal mit den Initiatoren des Volksentscheids reden und ihnen verdeutlichen, daß sie mit dem Referendum nicht Heide Simonis schaden, sondern ihren eigenen Kindern. Wir hoffen, daß die Gegner zugänglich sind.

FOCUS: Das sieht derzeit nicht so aus.

Simonis: Dann könnten wir das per Volksentscheid zustande gekommene Gesetz durch ein neues korrigieren. Folge wäre vermutlich eine erneute Klage. Und das Spiel geht so lange, bis die Schleswig-Holsteiner der Lächerlichkeit preisgegeben sind.

Focus 20.07.1998


Die dreiste Ministerpräsidentin ist also von Anfang an bereit, Volkswillen und Demokratie zu mißachten, um die „Rechtschreibreform” in ihrer minderwertigsten Urform an den Schulen aufrechtzuerhalten. Noch zeigt die Nord-CDU größte Empörung. Doch bald finden sich auch dort in dem frisch importierten Gegenkandidaten Volker Rühe und dem Fraktionsvorsitzenden Martin Kayenburg Gleichgesinnte, die die Landtagsfraktion in die Unterstützerszene einreihen.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 16.07.2008 um 09.32

Bereits 1997 hatte der ehemalige Verfassungsrichter Prof. Ernst Gottfried Mahrenholz geschrieben:

„In der Neuregelung der Daß-Schreibweise haben die Minister ihre Kompetenz überschritten. Hier hat die Kommission - und ihr folgend die Ministerriege sich so gesehen, als habe sie zwischen zwei möglichen Gebrauchsformen des „ß“ zu wählen. Es ging aber doch um die Wahl zwischen einer alten und bewährten Praxis und einem neuen Modell. Hier kann ein Eingriff, der die bisherige Funktion eines Buchstabens betrifft, eine Veränderung seines überlieferten „Ortes“, nicht aus der Kompetenz für Schulfragen gerechtfertigt werden. Und um es gleich zu sagen, dies kann auch kein Landtag (der Bundestag ohnehin nicht).“

(Süddeutsche Zeitung 23./24. 08.1997)

Um so skandalöser ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes v. 14.7.1998, in dem die Verfassungsrichter unbedenklich die Mär der Kultusminister von der Geringfügigkeit der Änderungen übernahmen – und insbesondere die Verharmlosungsstrategie, die ss-Regelung herauszurechnen:

Der Änderungsumfang der Neuregelung sei gering. Sehe man von der Änderung der ß-Schreibung ab, betreffe die Neuregelung nur rund 0,5 vom Hundert des Wortschatzes. Schon angesichts dieses Umfangs bedürfe es für die Einführung der neuen Rechtschreibregeln in den Schulunterricht keiner speziellen gesetzlichen Grundlage.

Gerade für die Einführung der „neuen“ ss-Regel hätte es eines besonderen Gesetzes bedurft. Sie ist der allgegenwärtige Geßlerhut der „Reform“: Mit ihr wird eine 600jährige Tradition der Schreibung des Deutschen vernichtet, die Schreibgemeinschaft über die Indoktrination der Schüler erpreßt und ganze Bibliotheken künstlich veraltet. Schließlich wird nachweislich die Fehlerträchtigkeit erhöht und damit das Gegenteil der vorgeblichen Absicht der „Reform“ erzeugt. All das hätte in den Länderparlamenten zu einer Ablehnung dieser nichtsnutzigen, aber kostenträchtigen Änderung führen müssen – wie ihr schon im Volksentscheid v. 27.9.1998 eine deutliche Abfuhr erteilt worden worden ist.

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Sigmar Salzburg


eingetragen von Sigmar Salzburg am 16.07.2008 um 07.13

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 14.7.1998 hatte ich schon vor viereinhalb Monaten angemerkt anläßlich seiner Kreation eines „Computer-Grundrechts“:

Richter erfinden das Computer-Grundrecht
[…]
Das letzte Mal, dass die Verfassungsrichter ein neues Grundrecht definierten, war vor fast 25 Jahren. Damals erfand Karlsruhe im Volkszählungsurteil das Grundrecht auf "informationelle Selbstbestimmung" – …
Spiegel online 27.02.2008

Bekanntlich konnte (oder besser wollte) das Bundesverfassungsgericht jedoch nichts in der Verfassung finden, was die Geiselnahme der Schüler zum Zwecke der Durchsetzung einer „Rechtschreibreform“ verbieten könnte. Daß das aber nur mangelnder Wille war, beweist es wiederum mit diesem Urteil.

Auch sonst machten die (bekanntlich durch die großen Parteien gewählten) Verfassungsrichter Politik, ohne sich durch die Verfassung allzusehr gebunden zu fühlen:

Am 6.7.1999 hat das Verfassungsgericht – ohne Grundlage in der Verfassung – den KZ-Hühnern ihren Käfig um 240 cm² auf 690 cm² vergrößert. – Die geistige Käfighaltung von 12 Millionen Schülern und ihr Mißbrauch als Kindersoldaten gegen die herkömmliche Rechtschreibung konnte es aber angeblich mangels Verfassungsgrundlage nicht verhindern.

Dagegen hätte das Bundesverfassungsgericht am 11.12.2001 entscheiden müssen, daß die gemeinsame Werteerziehung des brandenburgischen Schulfachs Lebenskunde-Ethik-Religion verfassungkonform ist. Stattdessen verfolgte es mit einem „Vergleichsvorschlag“ das Ziel, das Fach durch einseitig-konfessionelle Religionsunterweisung ersetzbar zu machen.

Auch am 14.07.1998 betraten die Verfassungsrichter „juristisches Neuland“. Sie entschieden, obwohl die Kläger die Klage zurückgezogen hatten – und zwar so nebulös, daß die Kultusminister sich (auch in der parteiischen Deutung nachfolgender Gerichte) jede Narrenfreiheit glauben herausnehmen zu dürfen, obwohl ausdrücklich im Urteil steht:


„Der Staat kann die Sprache deswegen aber nicht beliebig regeln.“

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Sigmar Salzburg


eingetragen von Sigmar Salzburg am 13.07.2008 um 09.40

Ein scheinbarer Freibrief für die Kultusminister

Am 14. Juli 1998 wies das Bundesverfassungsgericht (damals: Präsidentin Jutta Limbach, SPD; Vorsitzender des Ersten Senats Hans-Jürgen Papier, CSU) eine Beschwerde gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Schleswig v. 13. August 1997 zurück, wonach es für die Einführung der sogenannten Rechtschreibreform an den Schulen Schleswig-Holsteins keines parlamentarischen Gesetzes bedürfe:

Bundesverfassungsgericht:
Pressemitteilung Nr. 79/98 vom 14. Juli 1998

BVerfG: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen
"Rechtschreibreform"



Der Erste Senat des BVerfG hat auf die mündliche Verhandlung
vom 12. Mai 1998 mit Urteil vom 14. Juli einstimmig folgendes
entschieden:

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) gegen die Einführung der Neure-
gelung der deutschen Rechtschreibung in den Schulen (sogenannte
Rechtschreibreform) ist unbegründet. Die Vb wird zurückgewiesen.

Begründung (Zusammenfassung)
:

1. Die Rücknahme der Vb ist unwirksam.

2. Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, Regelungen
über die richtige Schreibung der deutschen Sprache für den Unterricht
in den Schulen zu treffen.

3. Entsprechende Regelungen fallen in die Zuständigkeit der Länder.

4. Für die Einführung der "Rechtschreibreform" in Schleswig-Holstein
bedurfte es keiner über die allgemeinen Lernzielbestimmungen
des Landesschulgesetzes hinausgehenden gesetzlichen Grundlage.

5. Grundrechte von Eltern und Schülern werden durch diese Neuregelung nicht verletzt.


http://uploader.wuerzburg.de/rechtschreibreform/v-BVG.html

Damit kam das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich einer anstehenden Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Berlin zuvor, die sachbezogen das Aus für die „Rechtreibreform“ bedeutet hätte.

Der Arbeitsrichter Dr. Wolfgang Kopke, ein anerkannter Fachmann der juristischen Seite von Rechtschreibreformen, schrieb in der Neuen Juristischen Wochenschrift Nr. 49/2005:

Nicht nur die dürftige Argumentation, sondern auch die Umstände des Verfahrens zeigen, dass es dem BVerfG nicht um unbefangene Rechtsfindung, sondern darum ging, der KMK beizuspringen: Beim BVerwG war nämlich die Sprungrevision gegen ein die Zulässigkeit der Reform verneinendes (Hauptsache-)Urteil des VG Berlin nicht nur anhängig, sondern bereits kurz vor der Terminierung. Während das BVerfG ansonsten nicht müde wird, unter Hinweis auf seine Überlastung die Rechtsuchenden aufzufordern, zuerst die Fachgerichtsbarkeit zu bemühen, hatte man es hier ganz eilig, dem BVerwG zuvorzukommen. Denn hätte dieses in Fortsetzung seiner bisherigen Schulrechtsprechung das wohlbegründete Urteil des VG Berlin bestätigt, wäre die Reform erledigt gewesen, da die Senatsverwaltung hiergegen nicht vor das BVerfG hätte ziehen können und die Verfassungsbeschwerde dann schon vor einer mündlichen Verhandlung des BVerfG zurückgenommen worden wäre.
(NJW 49/2005)

Die genannte „Dürftigkeit der Argumentation“ ist besonders von Dr. Wolfgang Roth, Bayerische Verwaltungsblätter v. 1. Mai 1999 untersucht worden „Zur Verfassungswidrigkeit der Rechtschreibreform“.
http://www2.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/SOVsRSR/ArchivSO/WRoth.htm

Nachgetragen sei, daß das, was das BVerfG euphemistisch darstellt …

Zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule gehört es nach der Formulierung in § 4 Abs. 1 und 3 SchulG, Schülerinnen und Schüler durch Vermittlung der dafür benötigten Kenntnisse und Fertigkeiten zu befähigen, in einer sich ständig wandelnden Welt ein erfülltes und erfolgreiches Leben in Staat, Gesellschaft und Beruf zu führen. Die Schule wirkt von daher notwendig nach außen, beeinflußt Verhaltensweisen des Einzelnen und schafft Werte auch für das soziale Miteinander der Menschen.

… im Falle der „Rechtschreibreform“ den Mißbrauch der Schulkinder zur Erzwingung der Schreibveränderung in der Gesellschaft bedeutet, mithin eine erhebliche Verletzung des Elternrechtes und des Persönlichkeitsrechtes ihrer Kinder.

Dr. Kopke schreibt in der genannten Veröffentlichung weiter:
Wodurch auch immer letztlich motiviert, das Urteil des BVerfG hat nur eine begrenzte Reichweite. Es stellte lediglich fest, dass die Durchführung der Rechtschreibreform von 1996 keiner besonderen (landes-)gesetzlichen Regelung bedurfte. Damit steht es einem landesrechtlichen Anspruch von Eltern und Schülern auf Unterweisung in der bisherigen neben der reformierten Schreibung nicht entgegen.

Dies ist auch vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg am 13.9.2005 so beschlossen worden, allerdings immer noch nicht abschließend verkündet.

Der zweite Weg, nach den Vorgaben des BVerfG „sprachliche Richtigkeit“ einzuklagen und dabei „Gemeinwohl“ und „Akzeptanz“ zu berücksichtigen, war am 6.2.2008 beim Verwaltungsgericht Schleswig in der ersten Instanz vorerst erfolglos, weil infolge der (bewußt?) verschwommenen Formulierung der BVerfGE das Gericht den Verzicht auf eine landesgesetzliche Regelung gleichsetzte mit der Erlaubnis, jede beliebige Schreibveränderung vorzunehmen – sofern nur eine Verständigung noch möglich wäre („Narrenfreiheit für die Kultusminister“).

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Sigmar Salzburg


eingetragen von Sigmar Salzburg am 30.06.2008 um 14.14

Reform-Justiz

Anfang Juli 1998 kursierten schon seit längerem Gerüchte, das Bundesverfassungsgericht (Präsidentin Jutta Limbach, SPD; Vorsitzender des Ersten Senats Hans-Jürgen Papier, CSU) werde die erlaßweise Einführung der „Rechtschreibreform“ billigen. Das Zusammenwirken von Politik und Justiz wurde offenbar, als acht Tage vorher, am 6. Juli, das Magazin Focus die wesentlichen Entscheidungsgründe des Gerichts nach Bonner Quellen veröffentlichte. Die Kläger zogen daher am gleichen Tage die Klage zurück, weil ein unparteiisches Urteil nicht zu erwarten sei. Der damalige bayerische Kultusminister Zehetmair, CSU, ließ daraufhin in einer Presseerklärung verbreiten:

7. Juli 1998
Kultusminister Zehetmair bedauert Rückzieher der Reformgegner
Bayerns Kultusminister Zehetmair hat die Rücknahme der Verfassungsbeschwerde gegen die Rechtschreibreform bedauert. Damit solle eine Möglichkeit verhindert werden, endlich Rechtssicherheit zu gewinnen, die die Schulen, aber auch die Verlage so dringend bräuchten, sagte der Minister nach Bekanntwerden der Entscheidung. Kritik übte Zehetmair an der Begründung für die Rücknahme. Ohne die Karlsruher Entscheidung oder gar deren Begründung überhaupt zu kennen, würden Vorwürfe wie "krasses Fehlurteil", "Parteilichkeit" und "eine auf fragwürdigen Argumenten basierende höchstrichterliche Entscheidung" geäußert. Wer das Bundesverfassungsgericht nur dazu benutzen wolle, um anderen seine eigene Meinung aufzuzwingen, zeige ein fragwürdiges Rechtsverständnis.
Bayerisches Staatsministerium
für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst
Toni Schmid, Pressereferent

Das zeigte Wirkung: Das Bundesverfassungsgericht beschloß, trotz der Rücknahme der Klage „juristisches Neuland“ zu betreten und sein parteiisches Urteil zu verkünden.

Nachfolgend der Focus-Artikel:


Aus FOCUS Nr. 28 (1998)
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
Die Rechtschreibreform kommt
Das Bundesverfassungsgericht gibt nächste Woche den Weg für die Rechtschreibreform frei. In einem Urteil, das am 14. Juli in Karlsruhe verkündet werden soll, weist der Erste Senat die Verfassungsbeschwerde des Lübecker Anwaltsehepaares Thomas Elsner und Gunda Diercks-Elsner zurück, wie FOCUS aus zuverlässiger Quelle in Bonn erfuhr. Damit kann das umstrittene Reformwerk wie geplant zum 1. August eingeführt werden.

Die Eltern können sich nicht dagegen wehren, so das Gericht, daß seit einem Erlaß an den Schulen Schleswig-Holsteins die neuen Schreibregeln gelten und ihre beiden Söhne danach unterrichtet werden. Das Grundrecht der Eltern auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und eigenverantwortliche Kindererziehung werde nicht verletzt.

Statt durch einfachen Erlaß die Rechtschreibreform mit Hilfe eines Gesetzes einzuführen, halten die Richter nicht für erforderlich. Es handle sich eben nicht um eine „wesentliche“ Entscheidung, die nur der Gesetzgeber treffen dürfe. Die Reform halte sich im Rahmen der bisherigen langjährigen Entwicklung der Schreibweise, und sie beschränke sich darauf, widersprüchliche Regelungen zu beseitigen. Von 12 000 Eintragungen im Wörterverzeichnis des Regelwerks änderten sich nur 185 Wörter.
Schon bei der Verhandlung im Mai hatte der Vorsitzende des Ersten Senats, Hans-Jürgen Papier, erklärt, daß sich das Gericht nicht als „sprachwissenschaftlicher Obergutachter“ einmischen wolle. Die Reform war 1996 in Wien nach mehr als zehnjähriger Beratung in einer Kommission von Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein sowie Ländern mit deutschsprachigen Minderheiten beschlossen worden.

Focus 6.7.98


Zum Vergleich folgen die entsprechenden Passagen aus dem Urteil v.14.7.98:

… Nach diesen Maßstäben ist für die Einführung der neuen Rechtschreibregeln im Schulunterricht der Länder eine besondere gesetzliche Grundlage nicht erforderlich.
Die Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern nach der reformierten Rechtschreibung ist für die Ausübung des Elternrechts nicht von wesentlicher Bedeutung.

Regulierende Eingriffe, die Widersprüche im Schreibusus und Zweifel an der richtigen Schreibung beseitigen oder - etwa aus Vereinfachungsgründen - bestimmte Schreibweisen erstmals festlegen, sind ihm [dem Staat] ebenfalls grundsätzlich erlaubt…

Der Änderungsumfang der Neuregelung sei gering. Sehe man von der Änderung der ß-Schreibung ab, betreffe die Neuregelung nur rund 0,5 vom Hundert des Wortschatzes. Schon angesichts dieses Umfangs bedürfe es für die Einführung der neuen Rechtschreibregeln in den Schulunterricht keiner speziellen gesetzlichen Grundlage.

Die im Focus-Text genannten 185 Änderungen in 12000 Eintragungen im Wörterverzeichnis ergeben 1,5 Prozent. Aus Günden der weiteren Verharmlosung hat man anscheinend im endgültigen Urteilstext die ß-Schreibung herausgenommen.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 16.06.2008 um 18.12

Die dreisten Kultusminister kündigen ihre Nichtbeachtung des Volksentscheids von Schleswig-Holstein an und beharren auf Fortführung der „Rechtschreibreform“ in ihrer minderwertigsten Form:

KMK-Pressemitteilung
Bonn, 18.6.1998

1. Vizepräsident der Kultusministerkonferenz, Staatsminister Prof. Dr. Meyer, warnt vor Fehlinformationen bei der Rechtschreibreform


Mit Blick auf aktuelle Berichterstattung in einigen deutschen Zeitungen zum angekündigten Volksentscheid in Schleswig-Holstein warnt der 1. Vizepräsident der Kultusministerkonferenz, Staatsminister Prof. Dr. Hans Joachim Meyer (Sachsen), vor weiteren Fehlinformationen bezüglich des Verhaltens der Länder, falls der Volksentscheid in Schleswig-Holstein sein Ziel erreichen sollte:

"Die Kultusministerkonferenz hat zwar immer die Wahrung der Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache betont und ist sich darin einig mit allen Partnern der Wiener Absichtserklärung, der Bundesregierung und den deutschsprachigen Nachbarstaaten. Deshalb wurde die Neuregelung im deutschen Sprachraum gemeinsam erarbeitet und gemeinsam verabschiedet. Der gemeinsame Sprachraum braucht eine gemeinsame Schriftsprache.

Das Prinzip der Einheitlichkeit bedeutet jedoch nicht, daß die Kultusministerkonferenz und die anderen Länder die Einführung der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zwangsläufig stoppen werden, wenn in einem der 16 Länder eine besondere Situation eintritt.
Es kann keine Rede von einer bindenden Wirkung für andere Länder sein, wenn in Schleswig-Holstein der Volksentscheid sein Ziel erreichen würde!"

"Weitere Spekulationen sind fehl am Platze, sie haben auch keinerlei Grundlage." Staatsminister Prof. Dr. Meyer gibt zu bedenken, daß es gerade solche Spekulationen sind, die als immerwährendes Rätselraten mit zur Verunsicherung beigetragen haben. "Über einen Stopp der Reform ganz allgemein zu spekulieren ist gegenüber den Schulen nicht zu verantworten. Es gilt jetzt vor allem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 14. Juli dieses Jahres abzuwarten. Dieses wird Klarheit schaffen."

Für die obsessive Schaffung vollendeter Tatsachen durch die Kultusminister gebrauchte die FAZ schon am 24.7.97 das Wort „dummdreist“ und die WELT am gleichen Tage „Dreistigkeit“.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 02.06.2008 um 20.48

Mittwoch, 3. Juni 1998, 13:59 Uhr

Gegner der Rechtschreibreform setzten Volksentscheid im Norden durch

Kiel (dpa) – In Schleswig-Holstein haben die Gegner der geplanten Rechtschreibreform einen Volksentscheid durchgesetzt. Nach Angaben des Landesabstimmungsleiters wurden bisher im Volksbegehren rund 160.000 gültige Unterschriften gezählt, das sind rund 55.000 mehr als für einen Volksentscheid erforderlich. Die Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform“ hofft, den Volksentscheid mit der Bundestagswahl am 27. September verbinden zu können. In Niedersachsen war das Volksbegehren gegen die umstrittene Reform gescheitert.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 20.05.2008 um 13.54

Am 22.Mai 1998 wird in Niedersachsen das Volksbegehren
gegen die Rechtschreibreform zum Scheitern gebracht.


Obwohl die Bürgerinitiative über 600000 Unterschriften gesammelt hat, wird durch den Landeswahlleiter Strelen mehr als die Hälfte für ungültig erklärt, u.a. weil die Bürger Formulare aus Zeitungen kopiert hatten, die ein „V.i.S.d.P.“ trugen oder weil der Samstag kein Werktag sei. (Jahre später entschied ein Gericht in anderer Sache: Samstag ist ein Werktag!) usw. usw.

Die Vorgehensweise der politischen Verwaltung wird in einem Leserbrief von Tobias Loew, Göttingen, in der FAZ v. 27. Mai 1998 deutlich:

Die Tücken eines Volksbegehrens in Niedersachsen
„Das Volksbegehren gegen die Rechtschreibreform in Niedersachsen ist gescheitert", liest man in der F.A.Z. vom 23. Mai. Nach Aussage des Landeswahlleiters hätten nur 277 213 der benötigten 593 000 Bürgerinnen und Bürger ihre Unterschrift für das Volksbegehren geleistet. Die Bürgerinitiative wolle sich mit einer Petition an den Landtag wenden und die Auszählung der Unterschriftenliste rechtlich überprüfen lassen, heißt es in Ihrer Meldung. Über die Hintergründe dieser Aussage erfährt man allerdings nichts. Kein Wort über die Gesamtzahl der abgegebenen Unterschriften, kein Wort über die Anzahl ungültiger Unterschriften und erst recht kein Wort darüber, warum die Unterschriften für ungültig erklärt worden sind.

Kennt man ebendiese Hintergründe, stellt man fest, daß nicht das Volksbegehren gegen die Rechtschreibreform, sondern das Instrument „Volksbegehren" an sich in Niedersachsen gescheitert ist. Und dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, die in den Bestimmungen zur Durchführung eines Volksbegehrens im Land Niedersachsen liegen.

277 213 Stimmen gegen die Rechtschreibreform erkennt der Landeswahlleiter an. Nach Schätzungen der Bürgerinitiative wurden jedoch mindestens 600 000 Stimmen abgegeben. Die Stimmenauszählung in der Landeshauptstadt Hannover ergab, daß von 30 000 abgegebenen Stimmen nur rund 14 000 anerkannt wurden. Das legt den Schluß nahe, daß bei vergleichbarer Auszählungspraxis landesweit etwa 720 000 Stimmen gegen die Rechtschreibreform vorgelegen haben, wenn man weitere rund 90 000 gültige Unterschriften in angeblich nicht zugelassenen Formularen hinzuzählt.

Bleibt noch die Frage zu beantworten, ob die Niedersachsen quasi über Nacht ein Volk von Analphabeten geworden sind. Oder wie läßt sich die Quote von über 50 Prozent ungültig abgegebenen Stimmen sonst noch erklären?

Die Antwort ist einfach: Zwar ist es in Niedersachsen erlaubt, Eintragungsformulare zum Volksbegehren frei zu verteilen, die Eintragung in diese Listen darf aber nicht ebenso frei erfolgen. In eine Unterschriftenliste, so die Bestimmungen, dürfen sich nur Bürger aus ein und derselben Gemeinde eintragen, ansonsten fallen ihre eigentlich gültigen Unterschriften bei der Prüfung als „nicht gültig abgegeben" unter den Tisch. Da sich aber gemischte Eintragungen bei einem sonst wenig formalisierten Verfahren wohl kaum vermeiden lassen, werden die Bürger durch das den Gemeinden erteilte Verbot, Unterschriftenlisten mit Eintragungen von Bürgern anderer Gemeinden an ebendiese weiterzuleiten, faktisch entmündigt.

Wenn man dann auch noch erfährt, daß der Landeswahlleiter erst im Februar das endgültige Eintragungsformular für das Volksbegehren freigegeben hat, obwohl ohne dieses nach Gesetzestext praktisch keine Eintragung möglich war und die Halbjahresfrist des Volksbegehrens bereits seit November lief, drängt sich einem der Verdacht auf, daß von offizieller Seite alles unternommen wurde, um ein unliebsames Volksbegehren nach Kräften zu behindern.

Tobias Loew, Göttingen


In Schleswig-Holstein hätte auch die dezimierte Unterschriftenzahl bei bürgerfreundlicher Auslegung für die Einleitung der Volksabstimmung ausgereicht. Dort schritt man nach erfolglosen Behinderungsversuchen bis September 1998 deshalb nach knapp einem Jahr, am 17.9.1999, zur parlamentarischen Niederschlagung des Volksaufstandes gegen die „Rechtschreibreform“.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 10.05.2008 um 10.31

Mündliche Verhandlung zur "Rechtschreibreform" am 12. Mai 1998

Der Erste Senat des BVerfG hat mit Beschluß vom 10. März 1998 in dem Verfassungsbeschwerde-Verfahren zur "Rechtschreibreform" Termin zur mündlichen Verhandlung auf
Dienstag, den 12. Mai 1998, 10.00 Uhr,
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
Schloßbezirk 3, Karlsruhe
anberaumt.
Hinsichtlich des Sachverhalts wird auf die in der Anlage beigefügte Pressemitteilung vom 27. August 1997 Nr. 77/97 Bezug genommen.
Karlsruhe, den 16. März 1998

(Pressemitteilung des BVerfG)

Verhandelt wurde die Klage eines Lübecker Elternpaars gegen die erlaßweise Einführung der „Rechtschreibreform“ an den Schulen durch das Kieler Bildungsministerium. Es habe für einen solchen wesentlichen Eingriff eines parlamentarischen Gesetzes bedurft. Das Bundesverfassungsgericht war in dieser Sache keineswegs unparteiisch. Unter der Leitung von Jutta Limbach, ehemals Justizsenatorin des Berliner SPD-Senats, und unter der Federführung des seinerzeitigen Vorsitzenden des Ersten Senats, Hans-Jürgen Papier, Parteifreund des damaligen CSU-Kultusministers Zehetmair, entschied das Gericht bekanntlich am 14.7.98 gegen einen „Gesetzesvorbehalt“ – mit weitreichenden Folgen: Die Entscheidung konnte mühelos als Freibrief für die Kultusminister mißbraucht werden, unter „Geiselnahme“ der Schüler die Schreibgewohnheiten der Sprachgemeinschaft zu verändern.

Amtsrichter Dr. Wolfgang Kopke, juristischer Experte für die Rechtschreibreform, schrieb in der Neuen Juristischen Wochenzeitung:

Nicht nur die dürftige Argumentation, sondern auch die Umstände des Verfahrens zeigen, dass es dem BVerfG nicht um unbefangene Rechtsfindung, sondern darum ging, der KMK beizuspringen … (NJW 49/2005)

Diese Absicht kam schon in der Einladungspolitik des Gerichtes zum Ausdruck. Theodor Ickler berichtete: „Ich bin damals trotz dieser trüben Aussichten nach Karlsruhe gegangen, wo ich zusammen mit dem Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Christian Meier, gegen rund fünfzig Experten der Reformerseite antrat, die vom Gericht in geradezu grotesker Überzahl eingeladen war.“ (IBW-Journal 4/2002) IBW-Journal

In der mündlichen Verhandlung am 12.5.1998 erklärte der Vorsitzende Richter Hans-Jürgen Papier ausdrücklich, das Gericht werde sich nicht als „sprachwissenschaftlicher Obergutachter“ betätigen. Dennoch tat das Gericht genau das, indem es den Kultusministern kritiklos folgte: „ … nach der Darstellung in der Stellungnahme der Kultusministerkonferenz, die in diesem Punkt in der mündlichen Verhandlung nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen worden ist, betrifft die Reform quantitativ, abgesehen von der Änderung der bisherigen ß-Schreibung, nur 0,5 vom Hundert des Wortschatzes.“ Im schriftlichen Urteil heißt es zwar: „Der Staat kann die Sprache deswegen aber nicht beliebig regeln …“ – allerdings so wenig justiziabel, daß es in den folgenden fast zehn Jahren bisher nicht gelang, die offenkundige Beliebigkeit, Willkür und Nichtsnutzigkeit dieser 0,5-Prozent-Reform gegen sie selbst zu verwenden.

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Sigmar Salzburg


eingetragen von Sigmar Salzburg am 18.04.2008 um 06.33

Freie Bürger
Zu: „Professoren protestieren gegen Rechtschreibreform"; WELT vom 4. April

Der Rechtschreibreform wird am 12. Mai vor dem Bundesverfassungsgericht niemand widersprechen, denn der Erste Senat hat weder die „Vereinigungen der Germanisten" noch die „Verbände der Schriftsteller und Journalisten" (laut Bundestagsbeschluß unbedingt zu Beteiligende) nach Karlsruhe eingeladen. Dort werden die aus ideologischen oder kommerziellen Gründen an der Rechtschreibreform Interessierten praktisch unter sich sein. Es ist jetzt schon abzusehen, wie der Spruch des Bundesverfassungsgerichts lauten wird. Ob verfassungsrechtlich bedenklich und sprachwissenschaftlich mißlungen oder nicht: Zwei Jahre nach der vorgezogenen Einführung hat die Rechtschreibreform die normative Kraft des Faktischen auf ihrer Seite. Wäre in Deutschland die Ablehnung staatlicher Willkür so verbreitet wie in Frankreich, könnte man trotz dieser skandalösen Umstände zur Tagesordnung übergehen. Unsere westlichen Nachbarn jedenfalls haben die verhältnismäßig milde „Rechtschreibreform" von 1990 dadurch gestoppt, daß sie sie mit Verachtung straften. Der übermütige Staat mag Lehrer und andere Beamte zu absurdem Verhalten zwingen können, das Millionenheer der freien Bürger ist seinem Zugriff entzogen.

Prof. Dr. Helmut Jochems, 57223 Kreuztal

DIE WELT 17.04.98

Eins hat Prof. Jochems (†) aber damals nicht voraussehen können:
Die Bereitschaft der Medienmächte, sich freiwillig dem Unfugsdiktat der Kultusminister zu unterwerfen und die allgemeine Zwangsmissionierung für den Staat zu übernehmen. Aber anders wäre auch wohl kaum genügend bekanntgeworden, was den Schulkindern hinter den Schulmauern angetan wird.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 30.03.2008 um 06.39

Rechtschreibreform: Länder bleiben hart

Frankfurt
(ap) Die Proteste gegen die Rechtschreibreform kommen für mindestens sechs der 16 Ministerpräsidenten zu spät. Die SPD-Regierungschefs von Schleswig-Holstein, Hessen und Rheinland-Pfalz wandten sich in einer Umfrage der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" ebenso wie die CDU-Kollegen aus Baden-Württemberg, Thüringen und Bayern dagegen, die Neuerungen noch einmal zu überdenken.
Hessens Ministerpräsident Hans Eichel sagte, der Protest von Schriftstellern wie Siegfried Lenz, Martin Walser und Günter Grass komme zu spät. Die Kieler Regierungschefin Heide Simonis sagte, die Neuerungen seien lange erörtert worden, die kritischen Stimmen hätten also viel Zeit gehabt, sich zu äußern.
Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber mahnte der Zeitung zufolge: „Auch in einem demokratischen Prozeß [?] gibt es irgendwann einen Schluß der Debatte, ob man die Entscheidung innerlich akzeptiert oder nicht."

Kieler Nachrichten 21.10.1996


eingetragen von Sigmar Salzburg am 27.03.2008 um 15.06

Schreibreform: Ministerium reagiert verhalten
Bonn (dpa) Nach dem Bundestagsvotum gegen die Rechtschreibreform geht das juristische Tauziehen um die neuen Schreibweisen weiter.

Das Bundesinnenministerium reagierte gestern verhalten auf die Aufforderung des Parlamentes, die neuen Regeln im Schriftverkehr der Bundesbehörden vorerst nicht anzuwenden. Die Amtssprache müsse der Schulsprache folgen und könne sich nicht anders entwickeln, sagte ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage. Endgültige Klarheit wird jetzt vom Bundesverfassungsgericht erwartet, das am 12. Mai seine Beratungen aufnimmt und bis zum Sommer eine Entscheidung treffen will. Der Bundestag hatte am späten Donnerstag abend. in spärlicher Besetzung von der Bundesregierung einen vorläufigen Verzicht auf die Einführung der neuen Schreibregeln in den Amtsstuben verlangt. Auf ihre ursprüngliche Forderung nach völliger Ablehnung der neuen Regeln hatten die Rechtschreibreformgegner jedoch verzichtet. Die Initiatoren des Antrags verlangten eine weitere Überprüfung der Reform unter Einbeziehung von Schriftstellern und Journalisten.

Kieler Nachrichten v. 28.3.1998

Als nach der Bundestagswahl von 98 Otto Schily Innenminister wurde, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als die „neue“, total verkorkste Reformschreibung unter Mißachtung des Bundestagsbeschlusses und des repräsentativen Volksentscheids von Schleswig-Holstein bei den Bundesbehörden einzuführen. Nebenher entblödete er sich nicht, mit der SPD zu „mehr Demokratie“ aufzurufen.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 25.03.2008 um 09.41

Bundestagssitzung 224 vom 26. März 1998
Rechtschreibreform


[…] Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Kleinert (Hannover), Norbert Geis, Reinhold Robbe und weiterer Abgeordneter

Rechtschreibung in der Bundesrepublik Deutschland […]

Joachim Gres (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Sprache gehört dem Volk. Dieser eigentlich selbstverständliche Kernsatz des heute zur Abstimmung anstehenden Gruppenantrags gehört an den Anfang unserer heutigen Diskussion und bedarf der ausdrücklichen Betonung, da diese Erkenntnis offenbar nicht überall verbreitet ist. Die deutsche Sprache ist jedenfalls keine Verfügungsmasse der Kultusbürokratie, die sich beliebig der Sprache bemächtigen könnte; denn das Regelwerk der deutschen Sprache entspringt der Übereinstimmung in der Sprachgemeinschaft, was als gebräuchlich und richtig anzusehen ist. […] Bei der Rechtschreibreform, über die wir heute diskutieren müssen, ist aber genau das Gegenteil geschehen. […] Um in der Öffentlichkeit keine breiter angelegte Diskussion über die sprachliche Sinnhaftigkeit der sogenannten Reform aufkommen zu lassen, sollte die Rechtschreibreform in den Schulen in einer höchst intransparenten Form über kultusministerielle Erlasse eingeführt werden, im Vertrauen auf die normative Kraft des Faktischen. Aber genau hier ist die Grenze des rechtsstaatlich Hinnehmbaren erreicht bzw. überschritten, eine Grenze, die den Deutschen Bundestag auf den Plan rufen muß. […] Die Kultusminister haben in einer kaum nachvollziehbaren Beharrlichkeit an der ihnen letztlich von den eigenen Bürokraten als Kuckucksei unterschobenen Rechtschreibreform festgehalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie sind Opfer der Geister geworden, die sie riefen, aber jetzt nicht mehr loswerden. […]

Peter Enders (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich bedauere ich es, daß der Antrag überhaupt gestellt wurde. Er hat nämlich die Verunsicherung in der Bevölkerung erhöht, […]

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): […] Unsere Fraktion bejaht grundsätzlich das Ziel der Rechtschreibreform, die deutsche Schriftsprache zu vereinfachen und schwer einsehbare Regeln zumindest nicht mehr mit dem Rotstift in den Schulen durchsetzen zu wollen. Ich denke, das dient den Schülerinnen und Schülern beim Erlernen der Schriftsprache. Das macht die deutsche Sprache auch im Ausland wieder etwas attraktiver, die gemeinhin als viel zu schwer erlernbar gilt. […]

Ministerin Anke Brunn (Nordrhein-Westfalen): […] Es ging darum, daß Kinder und Jugendliche -- das darf man auch in der Debatte im Bundestag nicht vergessen -- die deutsche Rechtschreibung besser und einfacher lernen können. Das war der Ausgangspunkt.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es ging ferner darum -- meine Damen und Herren, das halte ich ebenfalls für wichtig --, daß die deutsche Sprachgemeinschaft auch bei der Schreibweise zusammenbleibt. Deshalb hat sich die Kultusministerkonferenz, hier vor allem als Schulministerkonferenz verstanden, dieses Themas angenommen. […] Unsere österreichischen Freunde, die die neuen Regeln schon etwas länger praktizieren, haben jedenfalls berichtet, daß die Schüler bei ihnen 50 Prozent weniger Kommafehler und 10 Prozent weniger Schreibfehler machen. […] Zwar bleibt es der deutschen Bundesregierung vorbehalten, zu entscheiden, welche Schlußfolgerungen und Konsequenzen sie aus dem Beschluß des Bundestages zu ziehen gedenkt. Wenn sie aber die Neuregelung nicht zuließe, dann wäre sie die einzige Unterzeichnerin der Wiener Absichtserklärung vom 1. Juli 1996, die die damit eingegangenen Verpflichtungen nicht termingerecht einführte. […]

Staatsminister Dr. Hans-Joachim Meyer (Sachsen): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute fiel schon das Wort "Groteske". In der Tat, der Sturm gegen die Neuregelung der Rechtschreibung wird einmal in die historische Erinnerung als eine der Grotesken der deutschen Geschichte eingehen. […] Die jetzige Neuregelung der Rechtschreibung ist ja nicht, wie hier behauptet wurde, von der Kultusbürokratie ersonnen worden. Dies ist das Werk von Fachleuten.

(Horst Eylmann [CDU/CSU]: Das ist der Fehler!) […]

Die weitverbreitete Übellaunigkeit, weil dieses Land unübersehbar vor großen Veränderungen steht, der generelle Mißmut, weil Besitzstände auf den Prüfstand gehören, die Verdrossenheit über Politik und Politiker, das allgemeine Nörgeln gegen "die da oben", dazu noch die nie ausgelüfteten Ressentiments gegen Schule und Lehrer:

(Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Es reicht!) […]

Nicht um die Neuregelung der Rechtschreibung geht es in Wahrheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Es geht um die Frage, ob diese Gesellschaft veränderungsfähig und veränderungswillig ist. […] Wenn es schon bei einem Reförmchen wie diesem zu solchen Reaktionen kommt, was soll dann erst geschehen, wenn es wirklich ernst wird mit Veränderungen in Deutschland?

(Lachen und Beifall bei der SPD und der PDS -- Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie Verräter! -- Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Realsatire!)

Daher, meine Damen und Herren: Setzen Sie ein positives Zeichen, daß dieses Land nicht veränderungsscheu ist! Lehnen Sie diesen Antrag ab! Ich danke Ihnen. […]

Erika Steinbach (CDU/CSU): Herr Kultusminister! Frau Kultusministerin! Ein parlamentarisches Gremium ist allerlei gewöhnt. Allerdings muß ich eines sagen: Eine solche Arroganz und Überheblichkeit gegenüber einem Parlament ist mir in den sieben Jahren meiner Abgeordnetentätigkeit noch nicht vorgekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der F.D.P. -- Widerspruch bei der SPD und der PDS) […]

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): […] Nehmen Sie doch diesen Geßler-Hut von der Stange, ehe die Leute ihn herunterschießen. Es gibt im ganzen Land Prozesse über diese Frage; es gibt Volksbegehren über diese Frage. Ihrer eigenen Kommission laufen die vernünftigen Sachverständigen davon. […]

Vizepräsidentin Michaela Geiger: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses […]
-- Nach Ansicht des gesamten Präsidiums ist die Mehrheit eindeutig gewesen. Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

http://www-aix.gsi.de/~giese/rsreform95/13224o.html


eingetragen von Sigmar Salzburg am 18.03.2008 um 12.28

Leserbrief aus dem Kultusministerium:

Warten auf den Gebrauch der Schreibgemeinschaft

In der Berichterstattung der F.A.Z. zum Rücktritt von Professor Peter Eisenberg (F.A.Z. vom 18. März) werden die Leser in wesentlichen Punkten unzutreffend informiert: Die Einrichtung der Zwischenstaatlichen Kommission ist Teil der Neuregelung und in der Wiener Absichtserklärung vereinbart. Ihre Aufgabe .ist, die Umsetzung der Reform zu begleiten, die Sprachentwicklung zu beobachten und gegebenenfalls Anpassungsvorschläge zu machen. Deshalb ist es falsch, den Eindruck zu erwecken, die Kommission sei wegen der an der Neuregelung geübten Kritik oder als Reaktion darauf gebildet worden.
Die Kultusminister haben die Vorschläge der Kommission auch nicht zurückgewiesen, sondern haben auf die von den angehörten Verbänden vorgebrachten Warnungen vor übereilten Regeländerungen und auf den Übergangszeitraum verwiesen, an dessen Ende der richtige Zeitpunkt für die Prüfung von Regeländerungen ist. In der Zwischenzeit kann sich zeigen, welchen Gebrauch die Schreibgemeinschaft, auf die sonst so häufig und gern verwiesen wird, von der Neuregelung macht.
Die angebliche „Verbesserung", die sich Professor Eisenberg zuschreibt, hätte in dem zitierten Beispiel „schwer fallen" bedeutet: für „schwer fallen" im Sinne von „schwer stürzen" wäre Getrenntschreibung vorgeschrieben gewesen, in der übertragenen Bedeutung „Probleme haben mit" (oder „sich schwertun") hätte die Wahl zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung bestanden. Der Bedeutungsunterschied wäre also gerade nicht an der Schreibweise ablesbar gewesen, denn für die eine Bedeutung wären beide Schreibweisen möglich gewesen.
Vielleicht liegt der tiefere Grund für Eisenbergs Resignation doch darin, daß er die Kommission, die die Umsetzung der Reform begleiten soll (was eine positive Einstellung dazu voraussetzt), in eine Kommission zur Änderung der Reform umfunktionieren wollte, was ihrem Auftrag widersprochen hätte und deshalb nicht gelingen konnte. Als Arbeitgeber wäre man im Gewerkschaftsvorstand eben fehl am Platz. Wenn er allerdings tatsächlich Zweifel an der Kompetenz des Staates zur Regelung der Rechtschreibung gehabt hätte, hätte er die Berufung in die Kommission ablehnen müssen. Da er dies nicht tat, sind alle entsprechenden Erklärungen jetzt unglaubwürdig.
Christoph Stillemunkes,
Kultusministerium Wiesbaden

FAZ 23./24.03.1998 (Briefe an die Redaktion)

(Erst nach zehn Jahren Machtarroganz wurde der Kultusbürokatie ein Teilrückzug aus der „Reform“ abgetrotzt – und damit ihre völlige Inkompetenz dokumentiert. Die verbliebene Restreform dient nur noch der Gesichtswahrung, der Aufrechterhaltung des Machtanspruchs und der Sicherung des Wohlwollens der profitierenden Medienmächte.)


eingetragen von Sigmar Salzburg am 17.03.2008 um 18.08

Eisenberg tritt aus der Rechtschreibkommission aus
Reu. FRANKFURT, 17. März. Der Potsdamer Germanist Eisenberg ist aus der zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung ausgetreten. Damit protestiert er gegen die Behauptung der Kultusminister, die Neuregelung der Rechtschreibung in der Fassung von 1996 habe „einer kritischen Überprüfung standgehalten". Eisenberg sieht nicht nur im Bericht der Kommission und den darin enthaltenen Korrekturvorschlägen einen Gegenbeweis. Er erinnert auch daran, daß die Kultusminister die Kommission 1997 nicht eingesetzt hätten, wenn sie die öffentliche Kritik an der Reform nicht wenigstens teilweise für berechtigt gehalten hätten. Jetzt ließen die Minister die Kommission „im Regen stehen". Eisenberg spricht ihr jede Perspektive ab. (Siehe Seite 6.)

FAZ 18.03.1998


eingetragen von Sigmar Salzburg am 16.03.2008 um 07.56

Eine Konferenz als Raubvogel

Zu Kurt Reumanns Leitartikel „Etwas mehr Geist" (F.A.Z. vom 26. Februar):
Die Kultusministerkonferenz (KMK) ist so schwerfällig, weil sie zu lange Entscheidungswege in ihrer Hierarchie von Beratungsgremien, Fachausschüssen. Amtschef- und Ministerkonferenz hat; ihre Ergebnisse sind oft so unbefriedigend, weil sie konträre politische Auffassungen zu Kompromissen zusammenflickt – dennoch kann sie viel durchsetzen, weil sie jeder unmittelbaren politischen Kontrolle entzogen ist. A- und B-Länder sind hier zu einer dauerhaften Koalition vereint, einer ewig währenden Kohabitation, die keiner gewählt hat und keiner abwählen kann, weil es die KMK verfassungsrechtlich gar nicht gibt. Sie ist ein Kuckucksei im Nest unserer Verfassung, das sich zu einem Raubvogel ausgewachsen hat. Dies hat zuletzt ihr Umgang mit der deutschen Rechtschreibung gezeigt: Gegen alle Proteste der Öffentlichkeit, gegen die sachbezogene Kritik aller Fachwissenschaftler, gegen drohende Volksentscheide und angesichts unmittelbar bevorstehender Urteile der höchsten deutschen Gerichte setzt sie ihren Herrschaftswillen mit bürokratischer Verordnungsmacht durch. Ihre Repräsentanten schrecken auch nicht vor der Unverfrorenheit zurück, die mühsam erarbeiteten Korrekturvorschläge der eigens eingesetzten zwischenstaatlichen Rcchtschreibkommission schlichtweg zu verwerfen und frech zu behaupten, die Rechtschreibreform halte allen Einwendungen stand. Mit dieser Auffassung steht sie allein. Aber das stört sie nicht. Es geht längst nicht mehr darum, was aus der deutschen Schriftsprache wird, sondern um eine machtvolle Demonstration, daß Beschlüsse der KMK sakrosankt sind. Ihr fünfzigjähriges Bestehen sollte Anlaß sein, über ihre baldige Pensionierung nachzudenken.

Professor Dr. Horst Haider Munske,
Erlangen

04.03.1998 F.A.Z. (Briefe an die Redaktion)


eingetragen von Sigmar Salzburg am 14.03.2008 um 15.29

DIE ANDERE MEINUNG

Wenn Reformen zum Rohrkrepierer werden

Von HORST HAIDER MUNSKE
Die neue, im März 1997 begründete Kommission für die deutsche Rechtschreibung hat „Vorschläge zur Präzisierung und Weiterentwicklung aufgrund der kritischen Stellungnahmen zur Neuregelung der Rechtschreibung" vorgelegt. Sie sollen Grundlage einer kurzfristig anberaumten Anhörung von etwa 30 Verbänden sein und die Entscheidung der Kultusminister vorbereiten. Was die Kommission „Präzisierung", „Weiterentwicklung", „Erläuterung" oder „Kommentar" nennt, ist in Wahrheit ein Schritt zurück zur geltenden Rechtschreibung. Neben den am heftigsten kritisierten und belachten Neuschreibungen sollen künftig die alten Schreibungen weitergelten. Die Kommission behält sich allerdings vor, nach einiger Zeit zu entscheiden, welche Varianten sich durchgesetzt hätten. Damit macht sie sich die Forderung ihrer Auftraggeber zu eigen, das neue Regelwerk sowenig wie möglich zu ändern. Kein Wunder, denn die meisten Mitglieder der neuen Kommission waren an der Ausarbeitung der Neuregelung beteiligt. Nun richten sie in eigener Sache über ihre Kritiker und finden die meisten Einwendungen unbegründet oder gar nicht der Rede wert. Der Druck der öffentlichen und wissenschaftlichen Kritik veranlaßt sie jedoch in wesentlichen Bereichen zum Rückzug, auch wenn sie das in Kommentaren verstecken. Da sie zu ihren neuen Vorschlägen kein entsprechend geändertes Wörterverzeichnis vorlegt, bleibt es für den Laien im dunkeln, wieviel sich tatsächlich ändert. Wahrscheinlich weiß es die Kommission selber nicht, da entsprechende Untersuchungen mangels Geld und Zeit unterbleiben. Doch läßt sich schätzen, daß zu den schon vorhandenen zahlreichen Varianten wie zum Beispiel Standingovations/Standing Ovations etwa 500 bis 1000 neue allein in der Fremdwortschreibung und der Getrennt- und Zusammenschreibung hinzukommen. Solche Varianten, die allein durch das verbiesterte Festhalten an den kritisierten Regeln zustande kommen, zerstören die Einheitlichkeit und die Lehrbarkeit der deutschen Rechtschreibung. Auch die Wörterbuchverlage werden nicht umhinkommen, diesen Variantenwust aufzunehmen. Mag die Kommission noch so sehr beteuern, die Wörterbücher behielten ihre Gültigkeit. Wer wird sie kaufen, wenn sie nicht alle erlaubten Schreibungen enthalten? Keine Zeitung, kein Verlag kann es sich leisten, daß der eine Autor so, der andere anders schreibt. Sie werden gezwungen, Hausorthographien zu entwickeln, sofern sie nicht einfach bei der vertrauten Rechtschreibung bleiben. Auch die Schulen werden eindeutige Entscheidungen verlangen. Damit sind wir wieder beim Stand des 19. Jahrhunderts, als Duden seine erfolgreiche Arbeit begann.

Dies alles dient dem Zweck, einer Ideologie des Vereinfachens für Schüler und sogenannte „Wenigschreiber" zum Durchbruch zu verhelfen. Nicht gefragt wurden die Träger deutscher Schriftkultur, die Journalisten und Schriftsteller, Wissenschaftler, Juristen, Verleger. Mit dem Trojanischen Pferd der Verordnung für die Schule soll ihnen eine Rechtschreibung aufgezwungen werden, nach der keiner verlangt hat und die die allermeisten ablehnen.

Die nun vorgelegten Vorschläge sind ein hilfloser Versuch, vieles, was die Kritik empört hat, zu ändern, ohne viel zu ändern. Denn das Regelwerk soll mit all seinen Unzulänglichkeiten, seinen sprachplanerischen Einschnitten in die Rechtschreibung, seinem schwerverständlichen Regelungschinesisch bei wenigen Retuschen - bleiben, wie es ist. Als unverzichtbarer Begleiter dient jetzt der Kommentar, in dem allerdings die Zeichensetzung noch fehlt. Das will die Kommission im Mai erörtern. Dann sollen die deutschen Kultusminister bereits ihre erneute Zustimmung erteilt haben, auf eine passable Kommaregelung kann man nicht mehr hoffen. Doch dazu dürfte es gar nicht kommen. Diese Vorschläge der Kommission sind ein Rohrkrepierer. Die Kommission hat ihre wichtigste Aufgabe, „auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung . im deutschen Sprachraum hinzuwirken" (Artikel III der Wiener Erklärung), grob verletzt.

Um weiteren Schaden abzuwenden, müssen die Verordnungen zur Einführung der Rechtschreibung in den Schulen storniert werden. Dann kann man in einem Kreis, dem vor allem Vertreter der .schreibenden Berufe angehören, beginnen, eine konsensfähige Darstellung der deutschen Orthographie zu finden. Anders ist der Rechtschreibfriede nicht wiederherzustellen.

[Bild]
Der Erlanger Sprachwissenschaftler Professor Horst Haider Munske verließ im Herbst aus Protest die Rechtschreibkommission

DIE WELT 20.1.1998


eingetragen von Sigmar Salzburg am 05.03.2008 um 07.52

Kritiker der Schreibreform verlassen CSU

München (dpa) Drei der aktivsten Kritiker der Rechtschreibreform, die bayerischen Lehrer Friedrich Denk, Manfred Riebe und Norbert Schäbler, sind aus Protest gegen die „schüler- und bürgerfeindliche Sprachpolitik der CSU" aus der Partei ausgetreten. In einer gemeinsamen Erklärung warfen sie der CSU „Verrat eigener Grundsätze" und „Mißachtung ihrer Wähler" vor. Denk, Deutschlehrer im oberbayerischen Weilheim, hat die Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform" im Oktober 1996 begründet. Vor allem die CSU mit ihrem Kultusminister Hans Zehetmair sei dafür verantwortlich, daß die Kultusministerkonferenz die umstrittene Reform in den Schulen und in den Behörden durchboxen will. Das Kultusministerium wies die Vorwürfe als absurd zurück.

Meldung der Kieler Nachrichten v. 7.3.1998


eingetragen von Sigmar Salzburg am 19.02.2008 um 12.32

Streit um neuen Vizepräsidenten dauert an
Die weit gewichtigere Richterpersonalie, die Wahl des neuen Vizepräsidenten des höchsten deutschen Gerichts, blieb jedoch auch nach der Sitzung offen. Sie war schon vorher von der Tagesordnung genommen worden. Beim Kamingespräch mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatten sich die Unions-Länderfürsten am 14.02.2008 auf ihr Nein zur Wahl des Würzburger Rechtsprofessors Horst Dreier endgültig festgelegt. …
Gerade Dreiers Position zum Embryonenschutz wird aber mittlerweile von einer ganzen Schar von Unions-Politikern geteilt, wie erst am 14.02.2008 die Stammzellen-Debatte im Bundestag gezeigt hatte. Die katholische Kirche betrachtet dies jedoch äußerst kritisch. Den Unions-Länderfürsten ist das nur zu gut bewusst. Und so wird unter der Hand als Grund für die Ablehnung Dreiers angeführt, dass die Ministerpräsidenten das Verhältnis zur katholischen Kirche nicht noch weiter belasten wollen.

14.2.2008
http://rsw.beck.de/rsw/shop/default.asp?docid=252742&docClass=NEWS&site=Beck%20Aktuell&from=HP.10


eingetragen von Sigmar Salzburg am 19.02.2008 um 11.40

„Das Sprachvolk als natürlicher Sachwalter der Sprache“

Eilentscheidung gegen die Rechtschreibreform in Sachsen / Gericht: Verletzung des Demokratieprinzips / Von Peter Carstens

Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat eine Eilentscheidung gegen die Rechtschreibreform getroffen, die am Montag bekanntgegeben wurde. Ein sieben Jahre alter Schüler aus Freiberg, dessen Eltern vor dem Verwaltungsgericht Dresden gegen die Rechtschreibreform geklagt hatten, darf somit bis zu einer abschließenden Entscheidung dieses Gerichts nicht nach den neuen Regeln der deutschen Sprache unterrichtet werden (Aktenzeichen: 2 S 610/97). Das Oberverwaltungsgericht in Bautzen wies eine Beschwerde des Freistaates Sachsen zurück, der - vertreten durch das Kultusministerium - erzwingen wollte, daß der Schüler weiter nach diesen Vorgaben unterrichtet wird. Dies hätte, so das Gericht, sowohl das Persönlichkeitsrecht des Kindes als auch das Erziehungsrecht der Eltern verletzt. Das sächsische Kultusministerium erklärte zu dem Beschluß sein Bedauern und teilte mit, es halte - wie auch die anderen Bundesländer - an der Einführung der „vereinfachten Rechtschreibung" fest. In seiner Begründung des Beschlusses geht das Gericht davon aus, daß Kind und Eltern auch mit ihrer Klage in der Hauptsache vor dem Verwaltungsgericht Dresden Erfolg haben werden. Diese Annahme begründen die Richter zweifach: Zum einen hätte der Staat zur Rechtschreibreform in Anbetracht einer so wesentlichen schul-und bildungspolitischen Grundentscheidung allgemeiner Art zumindest eine gesetzgeberische Leitentscheidung fällen müssen. Ein Gesetz gebe es aber nicht. Deshalb verstoße die Rechtschreibreform gleichermaßen gegen das Rechtsstaatsprinzip und gegen das Demokratieprinzip. Die Reform war von den Kultusministern der Länder ausgehandelt und dann von der Konferenz der Ministerpräsidenten gebilligt worden. Schließlich hatte das Bundeskabinett den Beschluß zur Kenntnis genommen.

Zum anderen bezweifelt das Gericht die Kompetenz des Staates, die Regeln der Rechtschreibung zu bestimmen. Hierzu verweist der Beschluß auf das sogenannte ..Sprachvolk" und dessen Aufgabe als Sachwalter der Sprache: „Abweichungen der überkommenen Sprache gehen (dabei) in der Regel von einzelnen Menschen in einzelnen Sprechakten aus. Dadurch, daß sie nachgeahmt werden und allgemein durchdringen, verändern sie den Sprachgebrauch der Gemeinschaft (...). Danach vollziehen sich Veränderungen der Sprachgestalt innerhalb der Sprachgemeinschaft. Das heißt, sie gehen vom Sprachvolk als dem natürlichen Sachwalter der Sprache und nicht vom Staat aus. Für die Schriftsprache gilt im Ergebnis nichts anderes." Der Staat habe, so das Gericht, die Aufgabe der Sprachpflege. Die Beeinflussung der Sprache durch eine Planung von Sprachentwicklung, beispielsweise durch eine Rechtschreibreform, sei durch diesen Auftrag nicht erfaßt. Somit habe der Staat „vermutlich den Bereich verlassen", in dem er sich noch der deutschen Sprache annehmen dürfe. Er bewege sich mangels Kompetenz voraussichtlich nicht im Rahmen der verfassungsgemäßen Ordnung.

Es bestünden nämlich, so das Gericht, derzeit keine Anhaltspunkte dafür, daß die einschneidenden Veränderungen der Orthographie „ihren Ursprung in einem sich dahin entwickelnden Schreibverhalten des deutschen Sprachvolkes haben". Der Bitte des Antragstellers - des Freistaates Sachsen -, den Schüler bis zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Dresden in der Hauptsache in der neuen Rechtschreibung zu unterrichten, weil deren Auswirkungen im ersten Schuljahr sich lediglich auf sechs neue Schreibweisen bezögen (isst, esst, muss, musst, müsst, müsste), kam das Oberverwaltungsgericht nicht nach. Es hielt entgegen, daß nicht die Zahl der Veränderungen wesentlich sei, sondern die Häufigkeit des Gebrauchs der Wörter. Und die sei „besonders bei dem in Schule und Alltag gebräuchlichen Wort ,müssen' ohne Zweifel groß".

F.A.Z., 4. NOVEMBER 1997

[Solche juristische Vernunft wurde durch die sprachpolitisch dilettantische und schließlich antidemokratisch wirkende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ohnmacht verurteilt – kein Wunder, wenn man weiß, daß dessen Besetzung fast ausschließlich von Gnaden zweier Bundesparteien geschieht.]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 10.02.2008 um 16.18

Kuss oder Kuß
Verleger widersprechen Ministern
Der Verband der Schulbuchverlage hat dem „Bekenntnis" der Kultusminister zur Reform der deutschen Rechtschreibung widersprochen. Diese hatten nach ihrer Konferenz in der vergangenen Woche verbreiten lassen, durch die neunjährige Ubergangsfrist für die Neuregelung könnten die Schulbücher „weitgehend im normalen Erneuerungsturnus ersetzt werden". Der Verband weist demgegenüber darauf hin, daß die ihm angeschlossenen Verlage bis zum Ende dieses Jahres 45 Millionen Mark für die Reformierung von Schulbücher aufwenden. Der zusätzliche Gesamtaufwand, den die Branche für „Kuss" statt „Kuß" aufbringen müsse, liege nach wie vor bei etwa 300 Millionen Mark. Der finanzielle Mehrbedarf allein für die Umsetzung der Reform in der ersten und fünften Klasse liege bei 63 Millionen Mark. Die Kultusministerien flüchteten sich angesichts die Zahlen in „die Illusion, die Reform wäre kostenneutral zu haben". Dabei habe zum Beispiel das Bundesland Nordrhein-Westfalen bereits für 130 Millionen Mark Informationsbroschüren gedruckt, um die Reform amtlich bekannt zu machen. Nicht mitgerechnet werden dabei die Ausgaben für neue Wörterbücher. Allein diese Kosten, die ja zum größten Teil von den Privathaushalten getragen werden, belaufen sich bei einer geschätzten Auflage von über zwei Millionen Exemplaren auf mindestens siebzig Millionen Mark. Die Kultusminister hatten sich in ihrer Erklärung auch darauf berufen, daß die Neuregelung „ausschließlich das Schreiben in Behörden und Schulen betrifft". Wie sie sich eine Reform vorstellen, die nur das Schreiben in den Behörden und Schulen betrifft, wurde nicht bekannt. stei

FAZ 29.10.1996

[Fett vom Einsetzer]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 09.02.2008 um 15.46

Briefe an die Redaktion

Verweigern!
Zum Thema „ Rechtschreibreform"

Als ob wir nicht genügend andere Sorgen hätten: Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Euro-Einführung, Umwelt und Kriminalität. Nun kommt gegen den Willen der Bevölkerung und der Schriftsteller die überflüssige Rechtschreibreform. Rechtschreibung ist ein sensibles Thema. Jeder Mensch identifiziert sich mit seinen Rechtsehreibkenntnissen, er ist stolz, wenn er fehlerfrei schreiben kann. Die Identität eines Menschen ergibt sich auch aus der Sprache, der darin enthaltenen Kultur und dem Schriftbild der Sprache. Der Beliebigkeit und der Verwirrung sind Tür und Tor geöffnet. Es sind schon jetzt die Eltern und Lehrer zu bedauern, die ihren Kindern diesen pseudowissenschaftlichen Unsinn beibringen müssen. Die Sprache ist etwas, das wächst, das sich allmählich verändert. Mit der Rechtschreibreform greifen einige Wissenschaftler und Minister in das Leben aller Deutschen ein. Wegen der außergewöhnliehen Bedeutung hätte es einer breiten vorherigen Information bedurft, auch einer Volksabstimmung. Daß die Rechtschreibreform einen massiven Eingriff darstellt, läßt sich allein daran messen, mit welchem Aufwand sie betrieben wird. Nun müssen wir uns mit den gravierenden Folgen auseinandersetzen. Tun wir dies, indem wir uns verweigern.
Dr. med. Holger Bertrand Flöttmann

[Der folgende Leserbrief schien zunächst wenig Zusammenhang mit dem Thema „Rechtschreibreform“ zu haben. Herr Baldauf konnte nicht ahnen, daß in Kiel drei Jahre später von allen Parteien ein antidemokratisches Schurkenstück aufgeführt werden sollte, das alle Erwartungen übertraf.]

Zeit abgelaufen?
Zum Artikel „Becker spaltet Stuttgarter SPD" Als Kieler liest man Ihren Bericht teils mit Vergnügen und teils mit Fassungslosigkeit. Da bewirbt sich nun tatsächlich ein Kommunalfachmann für das höchste Amt der Stadt Stuttgart, und er bewirbt sich im Rahmen eines dafür eingeführten demokratischen Wahlverlfahrens, bei dem Direktkandidaten unmittelbar vom Volk gewählt werden können und sollen. Der dieser Art an einer Demokratie teilnehmende Bewerber soll von der eigenen Partei, der er angehört, aus deren Kreisen ausgeschlossen werden. Da wird die Frage zu stellen sein, ob die Zeit der Parteien gänzlich abgelaufen ist. Daß Parteien bisweilen ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie zeigen, war schon bekannt, daß aber demokratisches Verhalten zum Ausschluß aus einer Partei führen soll, ist eine neue Qualität.
Der Verfasser dieses Leserbriefes stellt erleichtert fest, daß sich Vergleichbares in Kiel nicht abzeichnet. Das wird hoffentlich so bleiben.
Helmut Baldauf
24114 Kiel


eingetragen von Sigmar Salzburg am 09.02.2008 um 14.24

Gericht in Hessen sieht Grundrechte verletzt

Rückschlag für die Schreibreform

Wiesbaden (dpa) Erstmals hat ein deutsches Gericht die Rechtschreibreform gestoppt und damit die geplante Einführung der neuen Regeln am 1. August 1998 in Frage gestellt. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden untersagte gestern auf Eil-Antrag eines Vaters aus Marburg die weitere Umsetzung der neuen Regeln in den hessischen Schulen. Nach Ansicht der Richter ist die Reform ein so deutlicher Eingriff in die Bildungsziele, daß sie nur mit einem Gesetz und nicht durch einen Erlaß beschlossen werden kann. Die Gegner der Reform rechnen nun mit dem Scheitern des gesamten Vorhabens. Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU): „Das Kind ist nun endgültig in den Brunnen gefallen."


Der Mann aus Marburg hatte beantragt, das Gericht solle Kultusminister Hartmut Holzapfel (SPD) vorläufig die Umsetzung der Rechtschreibreform untersagen (Az.:6G715/97(l)) Vertreten wurde er von dem Jura-Professor Rolf Gröschner, der bereits vor dem Bundesverfassungsgericht vergeblich gegen die Reform vorgegangen war. Das Kultusministerium in Wiesbaden will in den nächsten 14 Tagen entscheiden, ob es in die Berufung geht. Wenn das Land vor den Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel zieht, wäre damit der Beschluß des Verwaltungsgerichts außer Vollzug. Noch in dieser Woche will auch das Verwaltungsgericht Weimar seine Entscheidung über eine ähnliche Klage bekanntgeben.
Der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Hermann Otto Solms, und die SPD-Abgeordnete Liesel Hartenstein forderten indessen erneut eine Entscheidung des Bundestages. Solms: „Den Kultusministern fehlt die Kompetenz für die Rechtschreibreform." Eine Zustimmung des Parlaments werde es aber vermutlich nicht geben. Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) betonte, das weitere Verfahren müsse in der Kultusministerkonferenz abgestimmt werden. Bayern peile keinen Sonderweg an.

Das schleswig-holsteinische Kultusministerium hält an der Reform fest. Staatssekretärin Gyde Köster (SPD) erklärte, man wolle zunächst ein für Anfang August angekündigtes Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig abwarten. Hierbei geht es ebenfalls um einen Antrag auf einstweilige Verfügung gegen die Reform. Während SPD und Grüne im "Landtag für einen „langen Atem" plädierten, verlangte die CDU, die Rücknahme der Reform vorzubereiten.

Kommentar / mehr S. 2/3

Kommentar
Nach dem Wiesbadener Urteil
Rechtschreibreform stoppen

Es wird immer deutlicher: Die Kultusminister haben wahrscheinlich ihre Kompetenz überschritten, als sie die Rechtschreibreform an den zuständigen Parlamenten vorbei in Schulen durchpaukten. Ein erstes vorläufiges Stoppsignal hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden jetzt gestellt. Ähnliches droht möglicherweise in wenigen Tagen vom Oberverwaltungsgericht Schleswig. Ohnehin untersagt längst eine Reihe namhafter Schriftsteller den Verlagen, ihre Texte durch „Neuschreib" zu verändern. Und im Volk löst die Reform mehrheitlich Kopfschütteln aus.
Sie ist nichts Halbes und nichts Ganzes geworden. Ungewöhnlich lang ist die Liste der Sündenfälle, mit denen die Kultusminister die von einigen Germanisten ausgedachte und von ihren Fachkollegen inzwischen heftig kritisierte Orthographie-Veränderung unter Mißachtung aller Übergangsfristen durchgesetzt haben: Das wichtige Thema der Groß- und Kleinschreibung wurde ausgeklammert, dafür manch Nebensächliches mit neuen Regeln überzogen. Die Reformer gestalten vieles anders, aber nicht einleuchtender. Das betrifft Fremdwörter, die Groß- und Kleinschreibung sowie die Zusammen- und Getrenntschrei bung. Und es endet beim famosen Einfall, einige Rechtschreibregeln überhaupt nicht mehr verbindlich vorzuschreiben.
Inzwischen hat sich sogar herausgestellt, daß die Reform in den flugs erschienenen Wörterbüchern in über 2000 Fällen gegensätzlich ausgelegt wird. Nachträglich bastelt jetzt eine Kommission an den Pannen. Die Schüler müssen also ohnehin wieder umlernen. Die Sache ist „besorgniserregend". Oder ist sie „Besorgnis erregend"? Jedenfalls sollte sie gestoppt werden – zumal die Fachleute immer noch nicht wissen, ob man das nun zusammen oder getrennt schreibt. URS STAHL


eingetragen von PL am 09.02.2008 um 14.03

Die Formulierung: „… neben dem Rechtsweg auch die Möglichkeiten der Volksgesetzgebung zur Abwehr der Rechtschreibreform zu nutzen …“ dünkt mich noch immer aberwitzig. Ich dachte bisher, Recht und Gesetz sollten vom Volke ausgehen, damit beide ihren Namen verdienen. Urteile werden ja ‚im Namen des Volkes‘ gesprochen, nicht wahr? Die Rechtschreibreform fand jedoch nicht in Volkes Namen statt, sondern wider es. Sie verstößt, wie in vielen Umfragen und Abstimmungen festgestellt wurde, gegen das Rechtsempfinden der überwältigenden Mehrheit des Volkes. Anstatt unermüdlich ‚Milliardengräber‘ zu schaufeln, könnte man, wie Willy Brandt meinte, „mehr Demokratie wagen“; zum Beispiel die Demokratie insofern reformieren, daß der Rechtsweg in Fällen, die die Allgemeinheit betreffen, ohne finanzielles Wagnis eingeschlagen werden kann.


eingetragen von Detlef Lindenthal am 09.02.2008 um 08.34

Zitat:
Sigmar Salzburg schrieb:
Hier sollten vor allem ältere Meldungen mit Substanz stehen.
... mitsamt den sich aus ihnen ergebenden Fragen und Überlegungen.
__________________
Detlef Lindenthal


eingetragen von Sigmar Salzburg am 08.02.2008 um 22.27

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Detlef Lindenthal:
... ist bekannt, was Professor Wassermann inzwischen macht, außer daß er (vermutlich und naturgemäß) seine Rente verschleckert, ... Neue Rentenregeln braucht das Land.
Hier sollten vor allem ältere Meldungen mit Substanz stehen.
__________________
Sigmar Salzburg


eingetragen von Detlef Lindenthal am 08.02.2008 um 19.52


Sigmar Salzburg schrieb:

Peter Lüber schrieb:
... von Gartenzwergen niemals verstanden …
Wassermann (Jahrgang 1925) steht sicher himmelweit darüber.
Weil es mir nicht recht gelingen will, diese geheimnisvollen Mitteilungen zu deuten und einzuordnen, erlaube ich mir zu fragen: Was berechtigt zu der Hoffnung, daß Prof. Wassermann himmelweit über den Gartenzwerghorizonten steht? Könnte in diesem Zusammenhang auch die Frage meines Bruders

Norbert Lindenthal schrieb:
Was, guter Herr Wassermann, denken Sie heute, 12 Jahre später? Oder schauen Sie einfach weg? Nun haben Sie Zeit, viel Geld. Machen Sie doch mal was aus Ihrer Zivilcourage.
ihrer Beantwortung etwas näher gebracht werden – ist bekannt, was Professor Wassermann inzwischen macht, außer daß er (vermutlich und naturgemäß) seine Rente verschleckert, in Spiegel und F.A.Z. die vielen Artikel in „Reform“schreibe liest und ansonsten mit seiner vielen Zeit und seinem vielen Geld keine Bemühungen für Sprache und Rechtschreibung unternimmt?

Neue Rentenregeln braucht das Land.
__________________
Detlef Lindenthal


eingetragen von Sigmar Salzburg am 08.02.2008 um 07.54

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Peter Lüber
... von Gartenzwergen niemals verstanden …“
Lieber Peter,
Wassermann (Jahrgang 1925) steht sicher himmelweit darüber. Aber damals konnte sich niemand die Mühen und Hürden (und die Tricksereien der Politiker), die vor einen bundesdeutschen Volksentscheid gesetzt sind, vorstellen. Und noch weniger konnte man sich vorstellen, daß die deutliche Entscheidung in einem Bundesland von den Kleinkönigen der übrigen Länder schlicht ignoriert und nach nicht einmal einem Jahr von sogenannten Volksvertretern annulliert wird.
__________________
Sigmar Salzburg


eingetragen von PL am 07.02.2008 um 19.35

Das Unterscheiden ist eine hohe Kunst, die von Gartenzwergen niemals verstanden wird.

„… neben dem Rechtsweg auch die Möglichkeiten der Volksgesetzgebung zur Abwehr der Rechtschreibreform zu nutzen …“


eingetragen von Norbert Lindenthal am 07.02.2008 um 15.52

Was, guter Herr Wassermann, denken Sie heute, 12 Jahre später? Oder schauen Sie einfach weg? Nun haben Sie Zeit, viel Geld. Machen Sie doch mal was aus Ihrer Zivilcourage.

Unser Kind ist noch nicht ertrunken. Und für Deutschland wäre es gut, wenn der normale Menschenverstand gestärkt aus diesem Staatsangriff herauskäme.
__________________
Norbert Lindenthal


eingetragen von Sigmar Salzburg am 07.02.2008 um 15.28

Die Rechtschreibreform beschäftigt die Gerichte

Verstoßen die Kultusministererlasse zur Neuregelung der Orthographie gegen die Verfassung? / Von RUDOLF WASSERMANN


Die Sprache, so Theodor Fontane in „Unwiederbringlich", ist das Menschlichste am Menschen. Vorher schon sprach Wilhelm von Humboldt davon, daß der Mensch nur durch die Sprache Mensch ist. An Stimmen, die betonen, daß das Denken an Sprache gebunden und Sprache Teil unserer kulturellen Integrität ist, fehlt es auch heute nicht.

Um so erstaunlicher mutet es an, daß die 1994 auf der Wiener Orthographiekonferenz vereinbarte und 1995 von der Kultus- und der Ministerpräsidentenkonferenz gebilligte Rechtschreibreform zunächst kaum Widerspruch fand. Erst das Aufbegehren des Deutsch-Lehrers Friedrich Denk vom Gymnasium in Weilheim und die von ihm initiierte „Frankfurter Erklärung" namhafter Schriftsteller, Verleger und Journalisten haben die Öffentlichkeit wachgerüttelt.

Daß die Kultusminister wegen dieser Proteste auf die Verwirklichung des ihnen von einer Reformkommission angedienten Projekts verzichten, ist allerdings nicht zu erwarten. Denjenigen, die wissen, was es mit dieser vermeintlich unwichtigen Reform auf sich hat, bleibt daher, wenn sie sich nicht mit dem behördlichen Eingriff in die Sprache abfinden wollen, nichts anderes übrig, als die Gerichte anzurufen.

Die Verfassungsbeschwerde des Jenaer Rechtsprofessors Gröschner blieb, da verfrüht, ohne Erfolg. Denn Konferenzbeschlüsse, in denen sich die Repräsentanten der Länder gegenseitig dazu verpflichten, die neuen Rechtschreibregeln als verbindliche Unterrichtsgrundlagen einzuführen, greifen nicht gegenwärtig und unmittelbar in die Grundrechte ein, wie das Bundesverfassungsgericht befand.

Inzwischen haben jedoch in mehreren Ländern - wie etwa Rheinland-Pfalz - Verwaltungsvorschriften zur Einführung der neuen Rechtschreibregeln bewirkt, daß dort nach den reformierten Regeln unterrichtet wird. Deshalb sind die Betroffenen nicht mehr gehindert, die Verwaltungsgerichte anzurufen. Anhängig sind Verfahren wegen der Rechtschreibreform bei den Verwaltungsgerichten in München, Weimar und Mainz. Die Kläger sind sämtlich die Eltern von Schülern, in München der „Rebell" Denk als Vater einer Schülerin. In Mainz ist Prozeßbevollmächtiger der Rechtsanwalt Kopke, der über die Rechtschreibreform eine brillante, in Fachkreisen hochgerühmte juristische Dissertation geschrieben hat.

Die Aussichten der Kläger, von den Gerichten recht zu bekommen, stehen nicht schlecht. Von der Reform betroffen sind nicht nur die Schüler, Lehrer und Verwaltungsbeamten, über die die Exekutive Regelungsgewalt beansprucht, sondern letztlich ist es auch die gesamte Bevölkerung. Unumwunden hat das der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair eingeräumt, als er - zu Recht! - feststellte, der Konferenzbeschluß regele für viele Jahre, „wie das deutsche Volk schreibt.".

Es geht also nicht bloß um eine Lehrplanänderung, für die die Exekutive zuständig wäre, sondern um eine politische Entscheidung von allgemeiner Bedeutung. Solche Entscheidungen aber sind nach der sogenannten Wesentlichkeitstheo-rie des Bundesverfassungsgerichts dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber in einem öffentlichen Willensbildungsprozeß vorbehalten. Es ist die wohlbekannte Arroganz der Macht, wenn hier die Exekutive die Kompetenz über die richtige Schreibweise an sich reißt, anstatt den Parlamenten die Entscheidung zu überlassen.

Es kommt hinzu, daß die Rechtschreibreform auch unverhältnismäßig in Grundrechte eingreift, nämlich in das elterliche Erziehungsrecht aus Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes und in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches die Integrität der menschlichen Person in geistig-seelischer Hinsicht schützt. Kein geringerer als der renommierte Verfassungsrichter Kirchhof leitet daraus das Recht des Bürgers ab, sich gegen Sprachlenkung und Sprachbeeinflussung zu wehren (so im Handbuch des Staatsrechts Band I). Das gilt auch für die Reform der Schreibweise. Die Parlamente beklagen sich oft über die Aushöhlung ihrer Kompetenzen durch die moderne Rechtsentwicklung. Um so erstaunlicher ist ihr Desinteresse daran, ihre Kompetenz zur Rechtschreibreform gegenüber der Exekutive zu wahren.

Deshalb kann es nicht verwundern, daß Bürger und Bürgerinnen versuchen, neben dem Rechtsweg auch die Möglichkeiten der Volksgesetzgebung zur Abwehr der Rechtschreibreform zu nutzen. In Bayern werden Stimmen für ein Volksbegehren gesammelt, in Schleswig-Holstein ist das Verfahren der Volksinitiative eingeleitet. Sollten da nicht die Landesparlamente die Materie an sich ziehen und den Eifer der Kultusministerien bremsen, der uns eine Reform auferlegt, die ebenso überflüssig ist wie ein Kropf?

[ Rudolf Wassermann, Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig bis 1990,
1974 bis 1980 Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen.
1976 bis 1990 Präsident des Niedersächsischen Landesjustizprüfungsamtes,
und Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs.
]


eingetragen von Sigmar Salzburg am 07.02.2008 um 06.36

Vorher

Mit Rechtschreibreform gesteigerte Lust am Schreiben
Jean-Marie Zemb, streitbarer Kollege am College de France, gibt keine Ruhe: Erneut will er in seinem Artikel „Wer ohne Hindernis lernt, lernt nichts" (F.A.Z.-Feuilleton vom 27. Oktober) denen heimleuchten, die die Rechtschreibung der deutschen Sprache für reformbedürftig halten. Schlimm nur, daß ihn der missionarische Eifer dazu verführt, sein Zerrbild für die Realität zu halten. […] Zemb baut Pappkameraden auf- aus eigener Unwissenheit oder auf die Unwissenheit der Leser hoffend -, um sie dann mit Getöse abzuschießen. Perfid ist im übrigen seine Schlußpassage: Wenn er feststellt, daß vom ursprünglichen Reformvorschlag nur noch ein Rest übriggeblieben ist, so hat er leider recht. Um der Redlichkeit willen hätte er freilich hinzufügen müssen, daß dies, unter anderem, seiner emotionalisierten Argumentation zuzuschreiben ist, der viele Laien - zumal unter den Politikern - auf den Leim gegangen sind.
Ich bin gern bereit, mit Zemb und seinen geistigen Freunden in Schulen oder Büros zu gehen und vor Ort über Probleme mit der derzeitigen Rechtschreibnorm zu diskutieren. Am besten ließe sich das anhand eines Diktates bewerkstelligen, das die ganze Absurdität des jetzigen Systems erhellte. Ich freue mich im übrigen darauf, daß jetzt mehr Menschen Gelegenheit haben werden, sich zu den geplanten Änderungen zu äußern. Die Reform der Rechtschreibung der deutschen Sprache will nicht mehr und nicht weniger, als daß unsere Landsleute wieder Lust am Schreiben haben und keine Angst, Fehler zu machen, um dann als unintelligent oder noch schlimmer abgekanzelt zu werden. Wenn diese Reform nicht gelingt, überlassen wir das Feld den von Zemb offensichtlich heißgeliebten Computern und ihren Rechtschreibregeln. Mir graust vor dieser Alternative.

Professor Dr. Lutz Götze, Saarbrücken

F.A.Z. 10.11.1995

Nachher:

Am 12.12.2001 schrieb Friedrich Denk in rechtschreibung.com

Prof. Götze: „Zum Niedergang der deutschen Sprache beigetragen“

Spät, aber immerhin

Am 4. Oktober 2001 - es ist schon eine Weile her, aber noch immer interessant - sprach mich im Münchner Literaturhaus ein Herr an, den ich nicht gleich erkannte, obwohl ich ihm des öfteren begegnet war, und sagte mir ganz unvermittelt, er habe sich leider geirrt

„Wir haben mit der Rechtschreibreform zum Niedergang der deutschen Sprache beigetragen.“




eingetragen von Sigmar Salzburg am 07.02.2008 um 02.24

Nachrichten von 1998 auch hier:
http://nachrichtenbrett.de/v/Heft.php?boardid=1&sortfield=starttime&sortorder=DESC&daysprune=&sid=0b7aaf67ceaa94d41466dcbb7302cd48&page=265

(Von hier aus sonst schwer zugänglich)
__________________
Sigmar Salzburg


eingetragen von Sigmar Salzburg am 06.02.2008 um 19.17

Stammtischmehrheit

Zehetmair zur Rechtschreibreform

Die geplante Rechtschreibreform wird trotz aller Proteste weder angetastet noch aufgeschoben. Das hat Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair in der Berliner Morgenpost erklärt: „Juristisch und technisch ist die Reform nicht mehr zurückzuholen." Er wies damit die „Frankfurter Erklärung" von 300 Schriftstellern, Verlegern und Wissenschaftlern gegen das Inkrafttreten der Rechtschreibreform zurück. Es sei unverständlich, warum sich die deutschen Dichter und Denker über die Reform aufregten, sagte der Minister. „Die können doch schreiben, wie sie wollen, da sie literarische Freiheit genießen. Auch nach dem Jahr 2005, wenn die neuen Regeln verbindlich gelten." Im Zusammenhang mit dem augenscheinlich großen Widerstand gegen die Reform in der Bevölkerung sprach Zehetmair von einer „Stammtischmehrheit". dpa

Süddeutsche Zeitung, 16.10.1996


eingetragen von Sigmar Salzburg am 05.02.2008 um 07.53

Eine Bemerkung in Th. Icklers „Regelungsgewalt“
auf Seite 33:

Seit der meistverkauften 1. Ausgabe hat sich das Wörterbuch von Bertelsmann in Hunderten von Fällen stillschweigend an das Leitwörterbuch Duden angeglichen -besonders in der 10. Ausgabe (nicht „Auflage" - es war immer noch die erste!), die immerhin den winzigkleinen Vermerk „neu durchgesehen" trägt. Mehr als eine Million Bertelsmann-Käufer wußten nicht, daß sie ein längst überholtes Wörterbuch besaßen. (Im März 1999 erschien eine zweite Auflage, durch die 1,8 Mill. Bände der ersten endgültig wertlos wurden.)

Und wo blieb der wertlose Schrott? Von der CDU kam die

Pressemitteilung Nr. 117/99 vom 3. März 1999

Jost de Jager:
Unwissenheit des Ministeriums über Wörterbuch-Verteilaktion ein starkes Stück


Als ein „starkes Stück“ hat der bildungspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Jost de Jager, die Tatsache bezeichnet, daß an schleswig-holsteinischen Schulen 10.000 umstrittene Wörterbücher ausgeschüttet werden … Vielmehr sei die Verteilaktion von GEW und Bertelsmann rechtzeitig zum Wahlkampf um die Personalräte dazu angetan, den Volksentscheid zur Rechtschreibung in Schleswig-Holstein zu unterlaufen, kritisierte de Jager.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 04.02.2008 um 20.11

Kieler Nachrichten, 14. August 1997
Kommentar von Urs Stahl

Gedanken-Akrobatik

Der Streit um die Rechtschreibreform wird zur Hängepartie. Zwar hat die Eilentscheidung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig vorläufige Klarheit für die Schulen im Lande gebracht. Aber der Rechtsstreit in anderen Bundesländern und schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht ist noch lange nicht ausgestanden. Außerdem ist die Reform durch mehrere Volksbegehren bedroht.

Vor allem aber bleibt fraglich, ob der Schleswiger Spruch die anderen Gerichte der Republik beeindrucken kann. Denn er entbehrt nicht einiger halsbrecherischer Gedanken-Akrobatik. Die Kultusminister hatten die Forderung nach einer gesetzlichen Absicherung der Reform mit der Behauptung heruntergespielt, es handele sich nur um eine schul- und behördeninterne, nicht allgemeinverbindliche Regelung. Schleswig stellt das Gegenteil fest. Es sei eine Reform für den deutschen Sprachraum überhaupt. Somit wäre die Änderung aber nicht nebensächlich, sondern „wesentlich". Alle „wesentlichen" Grundrechtsfragen aber müssen durch Gesetz geregelt werden.

Wie Schleswig zum gegenteiligen Ergebnis kommt, bleibt Geheimnis der 3. Kammer. Mehr noch: Da der Staat nach Schleswiger Auffassung eigentlich keine rechtlichen Normen für die Orthographie setzen darf, interpretieren die Richter den Rechtschreiberlaß in eine Art „Absichtserklärung" um. Die Minister seien dazu wegen der vorangegangenen kompetenten fachlichwissenschaftlichen Diskussion berechtigt. Hier irrt Schleswig gewaltig. Die wissenschaftlichen Empfehlungen der Linguisten sind in der Fachwelt nicht nur gewissen Zweifeln, sondern fundamentaler Kritik ausgesetzt. Ihre neuen Regeln mögen die Anfängertexte in Grundschulfibeln vereinfachen. Sie haben aber in den neu erschienenen Wörterbüchern tausendfach zu gegensätzlichen Auslegungen geführt.
URS STAHL
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Anmerkung am 4.2.08 (Sa): Das Bundesverfassungsgericht machte sich 1998 die falsche Gedankenakrobatik der Schleswiger Richter zu eigen, nämlich daß sich „die Schule lediglich allgemein zu erwartenden Rechtschreibänderungen anpasse“. Da wichtige Teile der „Reform“ von 1996 im Jahre 2006 zurückgenommen werden mußten, ist diese These falsifiziert worden. Sie machte aber die „Reform“ als Angriffswaffe auf die gewachsene Schreibkultur scharf. Diesen Spruch konnten die Kultusminister als Freibrief für die Umsetzung jedes reformerischen Gedankenfurzes ausgeben, und die Zeitungen mit ihren vorauseifernden Nachrichtenagenturen konnten der Öffentlichkeit vorerzählen, das Gericht habe die Rechtschreibreform „ohne Wenn und Aber“ gebilligt (Focus). Leider ist zu erwarten, daß die in Kürze wieder damit befaßten niederen Instanzen sich hinter dem unfehlbaren Karlsruher Vatikan verstecken werden, obwohl der nur darüber zu urteilen hatte, ob überhaupt erlaßweise (geringe) Schreibveränderungen vorgenommen werden dürfen.

Das eben ist der Fluch der bösen Tat, das sie fortzeugend Böses muß gebären. (Friedrich Schiller)


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