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-- Günter Kunert zum 80. (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=1606)
eingetragen von Sigmar Salzburg am 07.03.2009 um 14.02
Bayrischer Rundfunk
Die Unschuld des Seismografen
Fürs Süßholzraspeln war sein Scharfsinn ungeeignet. Das Leben hat Günter Kunert früh zu einem Pessimisten gemacht, und damit war er unbequem - erst im Osten, dann im Westen. Weil er außerdem mit einer blühenden Fantasie gesegnet ist, kann er heute auf 80 Lebensjahre und ähnlich viele Bücher zurückschauen.
Stand: 06.03.2009
[Bild]
Das Leben ist ein Hütchenspieler. Dreimal hob Günter Kunert den Deckel und fand dreimal nichts Aufhebenswertes: Als Kind den Nationalsozialismus; kurz darauf den Sozialismus, dem er 1945 noch erwartungsvoll entgegensah - nur, um 1979 doch in einen Westen überzusiedeln, von dem er schon keine Heilmittel gegen die Krankheiten der Zivilisation mehr erwartete.
"Wäre es falsch, Ihre Bücher (auch) als die Geschichte einer zunehmenden Verfinsterung zu lesen?", fragte 1977 Dieter Zimmer den Dichter. Antwort: "Es wäre gewiss nicht falsch, vorausgesetzt, man nimmt diese 'Verfinsterung' nicht als meine persönliche, sondern als eine allgemeine geistige und psychische: Ich bin auch bloß ein Seismograf, der fürs Erdbeben nicht verantwortlich zu machen ist."
Verpfuschte Kindheit, früher Ruhm
Was dem Dichter bleibt, ist das Schreiben: Erzählungen, etliche Aufsätze, Hörspiele und Drehbücher, viele Gedichte. Dreistellig dürfte die Zahl der Veröffentlichungen seit seinem ersten Buch mit dem Titel "Wegschilder und Mauerinschriften" demnächst sein. Mauerinschriften? Das Buch ist 1950 erschienen und warnt in schlichten Versen vor der Wiederkehr des Faschismus. Hitler hat dem Autor eine "staatlich verpfuschte Kindheit" beschert und den gesellschaftlichen Zwangsabstieg: Seine Mutter ist Jüdin, was ihn von höherer Schulbildung ausschließt.
Über einen Davongekommenen
"Als der Mensch
unter den Trümmern
seines
bombardierten Hauses
hervorgezogen wurde,
schüttelte er sich
und sagte:
nie wieder.
Jedenfalls nicht gleich."
Zum Glück auch vom Wehrdienst. Ab 1946 darf er dafür an der Ostberliner Hochschule für Angewandte Kunst Grafik studieren, was er fünf Semester lang tut. Dann weiß er, dass seine Berufung im Schreiben liegt. Der Schriftsteller und zeitweilige DDR-Kulturminister Johannes R. Becher glaubt das auch, was nicht schadet. Mit Anfang 30 zählt Kunert in der DDR zu den meistgelesenen Autoren, im Westen zu den auch gelesenen.
In den 60er-Jahren kühlt die Liaison zwischen Staat und Dichter rasch ab, was sich auch daran zeigt, dass für einige Gedichte und Erzählungen nur in der BRD genug Papier vorhanden ist. Unter den Nullpunkt fällt das Verhältnis 1976, als Kunert zu den ersten Unterzeichnern eines Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns zählt und aus der SED fliegt.
Die Sehnsucht des Schwimmers
Bildunterschrift: Knurrt beim Lachen (oder umgekehrt): Günter Kunert
Ausfabuliert klingt das so: Ein Journalist spürt Hitler in einer Heilanstalt auf und wird selbst eingewiesen. Ein Fernsehzuschauer verfällt dem strengen Blick der Nachrichtenfrau. Sportschwimmer Uwe verwandelt sich in ein Mensch-Fisch-Mischwesen und seine Frau hat Glück, "dass alle Seen rings um die Stadt keinen Abfluß in einen Strom haben, der ins Meer mündet."
Ist es Kunerts Sympathie für Sisyphos und Ikarus, die seine Fantasie befeuert? Die Liebe zu Kafka und Beckett? Oder doch der Zorn über die immer absurderen Verhältnisse im Überwachungsstaat? Ähnlich klug und, bei allem Sarkasmus, mitfühlend ist das Leben der Anderen in der DDR nicht oft betrachtet worden.
Spinner am seidenen Faden
"Warum schreiben" ist ein Text von 1976 betitelt, der mit den Worten beginnt: "Um zu leben". In jungen Jahren sei die "Anzahl der wählbaren Existenzweisen" unbegrenzt; später könne man "dem tiefen Misstrauen gegenüber dem eigenen Lebenslauf" nur noch schreibend entkommen. "Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich an dem dünnen Faden, den ich selber spann, über die täglichen Abgründe zu hangeln."
So gesehen ist es ein Glück, dass der spinnbegabte Seismograf auch im schleswig-holsteinischen Dorf Kaisborstel, wo er heute lebt, genug Abgründe und Verwerfungen um sich spürt: Die Spinndrüse versiegt nicht. Kunerts neuester Gedichtband "Als das Leben umsonst war" ist soeben bei Hanser erschienen.
Unterwegs in fremden Leben
"Wie eine Landschaft, die den Reisenden aus der Ferne lockt, bevor er angelangt ist, und von der er weiß, sie bleibt wunderbar, solange er nicht in ihr siedelt, genauso ist das Leben, das uns nicht gehört"
Günter Kunert, Tagträume (1972)
Bayrischer Rundfunk 6.3.2009
Uns hat Günter Kunert auch als vehementer Gegner der „Rechtschreibreform“ unterstützt. Wir gratulieren.
Alle angegebenen Zeiten sind MEZ
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