Forum (http://Rechtschreibung.com/Forum/index.php)
- Rechtschreibforum (http://Rechtschreibung.com/Forum/forumdisplay.php?forumid=8)
-- Ein Vermarkter spricht (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=241)


eingetragen von Theodor Ickler am 04.08.2001 um 15.08

Ein kussechter Exzess ohne Aderlass im Schloss der deutschen Sprache

Beinahe wäre die Welt untergegangen...
einige Gedanken zur Rechtschreibreform und den neuen Schreibweisen


Dipl.-Hdl. Rainer Pirkner


Haben wir nicht alle - egal ob jünger oder weniger jünger - immer über die unlogischen Details unserer bisherigen Rechtschreibung und über das "Diktat" bzw. die Dikatatur [sic] (im wahrsten Sinne des Wortes) des bis dahin einzig und allein maßgeblichen Rechtschreibnachschlagebuches geklagt? Mussten wir nicht die vielen Ausnahmen mühsam lernen - oft nur, um sie wieder nach einiger Zeit zu vergessen und um im Falle des Falles wieder im besagten Werke nachschlagen zu müssen? Und dann kam sie endlich - die langersehnte und heißbegehrte Reform - nach jahrezehntelanger Vorbereitung - und natürlich war sie als kleines Reförmchen nicht nach dem Gusto von wirklich Jedermann und Jederfrau. So begann das große Klagen, das große Weh, das Ende (welches?) schien vielen nah, die Emotionen erreichten ungeahnte Höhen. Viele, ja fast jeder bzw. jede, wollten mitreden und anscheinend einmal NEIN sagen dürfen. Und doch blieb das Kultus-Establishment hart. Die Reform wurde ohne Wenn, Aber und Vielleicht zu allerletzt sogar durch unser höchstes deutsches Gericht abgesegnet.

Im WWW gab es in den zurückliegenden beiden Jahren sowohl eine Reihe interessanter Stimmen, so die nüchternen Erläuterungen und Infos insbesondere vom Institut für deutsche Sprache (http://www.idsmannheim.de/reform/), dem Duden (http://www.duden.bifab.de/) und etlichen Neugierigen bzw. Interessierten. Es wurden (kritische) Zusammenfassungen und Übersichten veröffentlicht, z.B. unter http://members.tripod.com/~pandagraf/index.htm (aus München) und http://www.wuerzburg.de/spec/rechtschreibreform/ortho_98.html (aus Würzburg) und http://194.209.59.2:80/rechtschreibung/index.htm (aus der Schweiz).

Sprachwissenschaftliche Überlegungen zu den Änderungen in Rechtschreibwerken wurden in einer Vergleichsstudie http://www.wuerzburg.de/spec/rechtschreibreform/ortho_98.html zusammengefasst, eine juristische Einschätzung lässt sich unter http//www.jura.uni-sb.de/FB/LS/Grupp/Faelle/rechtschreibreformfall.htm ansehen, ein Memorandum von Professor Zimmermann http://www.phil.uni-sb.de/FR/Infowiss/papers/rsreform.html) weist auf die Ungereimtheiten in den Äußerungen
vieler Kritiken hin. Die "mittelalterlichen Zustände" (auch hinsichtlich der Diskussion) betrachtet http://www.firstsurf.com/steinha7.htm, die Schwachstellen der deutschen Schriftsprache http://a2e.de/phm/defeblde.htm. Weiterhin interessant sind z.B. die Überlegungen unter
http://www.a2e.de/phm/ortogrefde.html oder http://www.uni-leipzig.de/~rotheh/rechtref.htm oder
http://www.informatik.uni-bremen.de/~werres/rechtschreibung.html oder
http://home.tonline.de/home/j.langhans/reform.htm.

Auch die Gegner äußerten sich vehement, mal mit mehr Detailkenntnissen, meist mit eher weniger (Motto:
"Stofffetzen" sollte auch weiterhin mit 2 f geschrieben werden). Diverse Links dazu finden Sie z.B. unter
http://www.deutschinfo.de/links_su.htm und http://www.wuerzburg.de/spec/rechtschreibreform/oadress.html.
Diverse Rechtschreibtests und Übungen lassen sich ebenfalls in diesen Websites finden.

Was hat sich nun tatsächlich geändert?

Wir dürfen künftig (mehr oder weniger) schreiben, wie wir sprechen - was der/die eine oder andere wohl schon immer getan hat. Kommas werden künftig weniger streng reglementiert (etwa 10% der bisherigen Regeln blieben
übrig). Die Groß- und Kleinschreibung verschiebt sich zu Gunsten der Großschreibung (fast alles was irgendwie
substativartig verwendet wird, wird mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben). Wir dürfen/sollen/müssen mehr auseinander schreiben, insbesondere bei der Verknüpfung unterschiedlicher Wortarten. Die typisch deutschen
Bandwurmwörter (vulgo: zusammengesetzte Substative wie z. B. das berühmte "Donaudampfschifffahrtsetcusw_") dürfen fast beliebig lang geschrieben werden, allerdings ist die (sinnvolle) Unterteilung mit Bindestrichen, die ab
sofort generell vermehrt verwendet werden dürfen, künftig ausdrücklich erwünscht. Die kuriosen und sinnentstellenden Trennbeispiele in vielen Anti-Reform-Äußerungen sind meist völlig falsch, weil in den neuen Regeln ausdrücklich auf die Verständlichkeit Bezug genommen wird, d. h. die Regeln sollen in Richtung Klarheit interpretiert werden und unklare Trennungen und Schreibweisen sind schlicht und einfach falsch. Wortübernahmen aus fremden Sprachen sollten mehr den deutschen Gepflogenheiten angepasst werden als bisher. Und unser gutes "urdeutsches" (in Wirklichkeit eher ein typografisches Kuriosum) scharfes ß (ANSI-Code 0223) wird auch weiterhin erhalten bleiben, zum einen in Form von "ss" nach einem kurzen Vokal und zum anderen als "ß" nach
langem Vokal (ausser in der Schweiz, die es schliesslich nur noch zum Doppels anpasst). Die Schreibung des
Fachwortschatzes (z. B. medizinisch oder juristisch) ändert sich ebenfalls nicht grundlegend. Künftig gilt jedes
Rechtschreibnachschlagewerk als richtig, sofern es sich an den neuen Regeln orientiert.

Irgendwie ist seit dem 1. August die Welt doch nicht untergegangen (ähnlich wie seinerzeit nach der Umstellung
auf die 5-stelligen Postleitzahlen) und man/frau stellt sich langsam auf das Neue ein. Die ersten Werbeanzeigen
verwenden die neuen Regeln, die Zeitungen werden sie ab Sommer 1999 generell berücksichtigen; DIE WOCHE
ist schon seit über einem Jahr darin Vorreiterin. Schulen stellen sich darauf ein, die Softwarefirmen ebenfalls.
Umwandlungsprogramme sind noch nicht perfekt, werden aber besser. Aber waren die ganze Aufregung und das
ganze Heckmeck nicht doch irgendwie schön und spannend?

Die Literaturliste der Gesellschaft für deutsche Sprache unter http://www.wuerzburg.de/spec/rechtschreibreform/gfdslit.html bietet einen guten Überblick über "Paperware" und
Software. Das Umlernen dürfte auch für Erwachsene keine große Herausforderung mehr sein, da es inzwischen
preiswerte Spezialtitel für vielen Bereiche gibt (z. B. auch für kaufmännischen, medizinische, juristische und
technische Berufe).

Einer meiner Berufsschüler fasste letztes Jahr die ganze Reform so zusammen: "Ich schreibe weiter wie bisher -
nur ist das jetzt meistens richtig und die Noten sind besser!" In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen positiven Umgang mit den neuen Regeln.

Dipl.-Hdl. Rainer Pirkner
Lehrkraft an der Berufsschule für Versicherungswesen in München
Website http://www.deutschinfo.de/
Email: pandagraf@deutschinfo.de

__________________
Th. Ickler


Alle angegebenen Zeiten sind MEZ   

Rechtschreibung.com – Nachrichten zur Rechtschreibfrage