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-- Bertelsmann (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=294)


eingetragen von margel am 16.08.2003 um 10.11

Es war natürlich nicht die Duden-Sprachberatung, sondern die von Wahrig-Bertelsmann. Bitte vielmals um Entschuldigung.


eingetragen von margel am 16.08.2003 um 10.03

Denjenigen, die die reformierten Regeln anwenden oder gar interpretieren wollen, ergeht es wie einem Autofahrer, der in den Graben fährt: Rein geht´s prima, raus nur mit einem Überschlag. - Die Ratschläge und Erläuterungen der Sprachberaterinnen beweisen aufs schönste, wohin es führt, wenn man die Rechtschreibung vom "Transport semantischer Information befreien" will. - Der Tunnelblick auf das Regelwerk verleitet die Duden-Damen dazu, heillosen Unsinn von sich zu geben. - Die Steigerung von "wohl vorbereitet" soll "besser vorbereitet" sein. Das gehört aber zu "gut vorbereitet". Auch "wohlvorbereitet" läßt sich nicht sinnvoll steigern. Und so ist es mit den anderen Komposita oder meinetwegen auch Wortgruppen mit "wohl". In der Schule hat man einmal gelernt, daß es nicht heißt "wohl", "wöhler" am "wöhlsten" (im Schweizerdeutschen durchaus), und so kommt es dann zu solchen freischwebenden Erfindungen abseits des Sprachgebrauchs, wie wir sie hier lesen dürfen. - Nebenbei: "Ich fühle mich wohl" bedeutet einen höheren Grad des Wohlbefindens als "Ich fühle mich besser". Alles nicht so einfach...


eingetragen von Monika Grunert am 15.08.2003 um 18.10

Es ist zwar gemein, da die Mitabeiterinnen der WAHRIG- Sprachberatung mir sehr freundlich, schnell und ausführlich geantwortet haben, aber wenn man einer verfehlten Sache dient, muß man eben dafür einstehen. Dies ist die Rückantwort auf eine zweite Anfrage von mir, da ich mit der ersten noch nicht ganz zufrieden war. (Wo ich zitiert werde, beginnt die Zeile mit dem Zeichen >)
Träume ich, oder ist es wirklich so einfach, die Reformanhänger aufs Glatteis zu führen?


Sehr geehrte Frau Grunert,

vielen Dank für Ihre Anfrage bei der WAHRIG-Sprachberatung.

> vielen Dank für Ihre schnelle Antwort, aber seien Sie mir nicht böse,
> ich werde daraus nicht ganz schlau.
> Sie schreiben:

> "Man schreibt "wohl" nach den neuen Rechtschreibregeln vom folgenden
> Partizip getrennt, wenn der erste Teil der Fügung steigerbar ist."
> Außerdem schreiben Sie: "Wird jedoch eher der zweite Bestandteil
> gesteigert. dann wird wie bisher zusammengeschrieben."
> (Korrekt ist doch wohl :"Wird das Wort IM GANZEN gesteigert,...")

Es gibt bei Verbindungen mit "wohl" zwei Gruppen:

1. Verbindungen, in denen "wohl" steigerbar und erweiterbar ist.

wohl bekannt, besser bekannt, am besten bekannt
wohl vorbereitet, besser vorbereitet, am besten vorbereitet
wohl gesetzt, besser gesetzt, am besten gesetzt
wohl verstanden, besser verstanden, am besten verstanden

2. Verbindungen, die im Ganzen gesteigert werden.

wohlgestaltet
wohlgenährt
wohlgeraten
wohlgemerkt

> Sie behaupten, daß in den Wörtern "wohlbekannt", "wohlgemerkt" und
> "wohlvorbereitet" der erste Bestandteil gesteigert werden kann, die
> anderen im ganzen.

> Ich finde, wenn man das so sieht, kann man auch "ein besser geratenes
> Werk", "besser gesetzte Worte" und "ich fühle mich besser verstanden"
> schreiben. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen beiden
> Wortgruppen?

Die Einordnung der Verbindungen in diese zwei Gruppen ist oft
Ermessenssache.
Hier hilft nur ein Blick in die Wörterliste des IDS Mannheim oder ein
Blick
ins
Wörterbuch weiter: http://www.ids-mannheim.de/reform/wort-w.html

"wohlgeraten" wird also zusammengeschrieben, obwohl "wohl"
grundsätzlich
steigerbar ist. Bei "wohlgeraten" geht man vielleicht eher davon aus,
dass diese Verbindung im Ganzen gesteigert wird.

ein wohlgeratenes Werk
ein besser geratenes Werk (?)

ein wohlgeratenes Werk
ein wohlgerateneres Werk

Auch andere Zusammensetzungen mit "wohl-" werden weiterhin
zusammengeschrieben, obwohl auch hier "wohl-" in manchen
Zusammensetzungen
steigerbar wäre.

wohlgestaltet (besser gestaltet?)
wohlgenährt (besser genährt?)

> Die Tatsache, daß von Ihnen "wohlvorbereiteter" und "besser
> vorbereitet" angegeben wurden, d. h. in beiden Gruppen vorkommend,
> darf ich so verstehen, daß wir also die Grundform, den Positiv, in
> jedem Falle so schreiben können, wie wir wollen, d.h., wie wir die
> Form interpretieren?

"wohlvorbereitet" findet sich (ebenso wenig wie "wohlbekannt") nicht
mehr in den Wörterbüchern. Es findet sich nur noch die
Getrenntschreibung. Die Zusammenschreibung dieser Wörter gilt nicht
mehr als korrekt.

wohl vorbereitet
wohl bekannt

> Noch eine Anmerkung: "wohlgemerkt" meinte ich eigentlich in einem
> anderen Sinne: "Er hatte wohlgemerkt keinen Schimmer, worum es
> überhaupt ging." (Zufällig gefundenes Beispiel) Wie wird hier
> geschrieben und warum?

Bei manchen Verbindungen gibt es aber eine Bedeutungsdifferenz zwischen
der Zusammenschreibung und der Getrenntschreibung.

Das Adverb "wohlgemerkt" im Sinne von 'das merke man sich, das sei
betont' wird zusammengeschrieben.

Er hatte wohlgemerkt keinen Schimmer, worum es überhaupt ging.

Handelt es sich bei "gemerkt" in "wohl gemerkt" um eine Flexionsform
von "merken", wird getrennt geschrieben. Dies kann man unter anderem
daran erkennen, dass "wohl" dann wegfallen kann.

Er hatte wohl gemerkt, dass etwas nicht stimmt.
Er hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmt.

> Noch eine Frage: Inwieweit finden Sie, daß diese Regelung eine
> Verbesserung zur früheren darstellt?

Die Reform hat sich bemüht, die Rechtschreibung einfacher und
einheitlicher zu gestalten. In den meisten Fällen dürfte dies geglückt
sein. Bei Verbindungen mit "wohl" scheint es jedoch weniger gelungen
zu sein. Es bleibt abzuwarten, was bei der "Re-Reform" von 2005
letztendlich in die Rechtschreibung eingeht.


Mit freundlichen Grüßen

XXX (Name tut wohl nichts zur Sache)
WAHRIG-Sprachberatung




__________________
m.g.


eingetragen von margel am 10.07.2003 um 17.44

Liest sich ja wie ´ne Inselgruppe. Aber nachdem mir das Korrekturprogramm für "Madeleine" mal "Malediven" vorgeschlagen hatte, bin ich auf alles gefaßt...


eingetragen von Theodor Ickler am 10.07.2003 um 15.25

Der Verlag Lübbe wirbt für einen skurrillen Krimi. (LESART, wo aber innen eine sehr schöne ganzseitige Anzeige vom Oreos-Verlag für "Deutsch - eine Sprache wird beschädigt" zu finden ist.)
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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 11.04.2003 um 04.26

Antisemitismus, Parteischädigung, undurchsichtiges Spendengebahren - Jürgen Möllemann ist wieder ins Gerede gekommen.

(Random House Internetseite, Werbung für das neue Buch von J. W. M.)
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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 01.04.2003 um 03.01

Unter seiner neuen Adresse "Wahrig.de" bietet Bertelsmann auch einen Schnellkurs zur neuen Rechtschreibung. Daraus folgendes Beispiel:

"Neue deutsche Rechtschreibung

Die 10 wichtigsten neuen Regeln auf einen Blick

4. Treffen in Zusammensetzung drei gleiche Buchstaben aufeinander, so werden sie künftig immer alle geschrieben, also z. B.

bisher / jetzt auch
Orthographie / Orthografie
Varieté / Varietee
Delphin / Delfin
Megaphon / Megafon
Photosynthese / Fotosynthese
Portemonnaie / Portmonee
"

Diese Seiten scheinen gar nicht besucht zu werden, sonst hätte doch sicher jemand den Irrtum bemerkt.

Unter der Rubrik neue Schreibungen fehlen wieder die Stichwörter hoch-, wieder- und wohl-. Da scheint sich durch die Reform gar nichts geändert zu haben.


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Th. Ickler


eingetragen von Martin Reimers am 27.08.2002 um 14.55

Dieser Tage erzählt mir ein Bekannter, daß in Hamburger Schulen der letzte Duden per Sammelbestellung bereits schon für 15,- Euro angeboten wird.

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Martin Reimers


eingetragen von J.-M. Wagner am 27.08.2002 um 14.23

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler (im Strang "Wörterbücher"):
Ich habe schon lange den Verdacht, daß der Bertelsmann-Konzern die Rechtschreibreform nur benutzt, um die Konkurrenz plattzumachen und seine Herrschaft zu festigen.
Das kann natürlich sehr gut so sein, andererseits wundert es mich, daß die Bertelsmann-Rechtschreibung (Wahrig; 2002) nicht im Bertelsmann-Club erhältlich ist -- suchen Sie mal die Webseiten von www.derclub.de danach ab! Interessanterweise gibt es aber den Duden (2000) für nur 16,80 Euro (Ausgabe ohne CD-ROM) -- lt. Angabe 4,70 Euro unter dem Verlagspreis.
Alles weitere ist Spekulation...
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Jan-Martin Wagner


eingetragen von Theodor Ickler am 01.08.2002 um 07.55

"Der Kauf von Random House und die Integration in die gesamte Buchverlagsgruppe, die ich zu verantworten hatte, machen deutlich, in welchem Ausmaß ich an das gedruckte Wort und das Buch glaube." (Thomas Middelhoff im Gespräch mit der FAZ, 2.8.2002)

Der Zusammenhang legt nahe, daß Middelhoff an das Englische glaubt. Die deutsche Sprache und das deutsche Buch haben unter seiner Mitwirkung schweren Schaden gelitten.
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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 31.07.2002 um 08.22

Bei Google findet man 301 Belege für Dasselfliege, 100 für Dasselkrankheit und nur 15 für Dasselbeule. Trotzdem hat Bertelsmann-Wahrig nur die Dasselbeule aufgenommen, was mich in der Ansicht bestärkt, daß mit der statistischen Auswertung eines großen Korpus etwas nicht stimmen kann.
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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 14.06.2002 um 03.18

Herr Melsa hat die Lage wieder einmal ausgezeichnet dargestellt. Duden und Bertelsmann-Wahrig begehen den Fehler, außer der im jeweiligen Kasten gegebenen Information, die letzten Endes auf die hier wie dort abschließende "Toleranzregel" reduziert werden kann (völlige Freigabe), auch noch eine ganze Reihe Einzelfälle aufzulisten, für die eine bestimmte Schreibweise ohne Ausweichmöglichkeit festgelegt wird. Da jedoch schon die Theorie unklar ist, ist es erst recht ihre Anwendung. Schon der Begriff "bedeutungsmindernd" ist ein Mißgriff. Wie mindert man denn eine Bedeutung? Was im Duden rot, im Wahrig 2002 blau gedruckt ist, kann sich kein Mensch merken, aber leider ist, wie gesagt, die Toleranzregel auch nicht anwendbar, eben wegen der Einzelfallregelung.
Die Toleranzregel ist problematisch, weil sie darauf abstellt, daß man nicht entscheiden kann, ob Wortgruppe oder Zusammensetzung vorliegt, diese beiden Begriffe aber nicht definiert sind. Duden macht es ganz knapp: "In Zweifelsfällen kann sowohl zusammen- als auch getrennt geschrieben werden." Aber gerade in Zweifelsfällen schlägt man doch nach! Dann wird in den Einzeleinträgen gewissermaßen von höchster Stelle entschieden, daß halbgar usw. solche Zweifelsfälle sind. Die Regel ist also gar keine Regel, denn man darf sie nur auf Fälle anwenden, auf die die Wörterbuchmacher sie noch nicht angewendet haben, und das ist eine Sache des Zufalls und des Umfangs des jeweiligen Wörterbuchs.
(Ich erinnere daran, daß die von vornherein aus der Beobachtung gewonnene Fakultativität in meinem Wörterbuch etwas ganz anderes ist als diese "Freigabe" aus Verlegenheit. Die Reformer stellen eine - ziemlich schiefe -Theorie über den Grund der GZS auf und müssen dann zugeben, daß sie nicht anwendbar ist. Bei mir steht das Material zunächst einmal so da, wie es vorgefunden wird, und als "Theorie" nur der wohl unbestreitbare Hinweis: "betontes Erstglied in zusammengesetzten, meist klassifizierenden Adjektiven". Unter jedem Einzeleintrag ist auf den Artikel "halb" verwiesen.)
Übrigens ist gerade dieser Teil offensichtlich mit der Kommission abgesprochen, sonst wäre die große Übereinstimmung zwischen den beiden Wörterbüchern nicht zu erklären.
Zum Schluß noch: Die Substantivierung des neuen halb nackt ergibt den halb Nackten: Ein halb Nackter saß auf der Wiese.. Na, ich weiß nicht ...

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Th. Ickler


eingetragen von Christian Melsa am 13.06.2002 um 22.16

In Reformpropaganda wird die alte Rechtschreibung gern damit dämonisiert, zu erzählen, wie sich im Laufe der Zeit lauter Detailvorschriften angesammelt hätten, bis das Gesamtregelwerk völlig unüberschaubar geworden sei.

Wegen der Schwächen der amtlichen Neuregelung hat die neue Rechtschreibung die alte in dieser Hinsicht längst übertroffen. Sowohl Duden als auch Bertelsmann rühmen sich, ihre aktuellen Rechtschreibwörterbücher mit hunderten von Infokästen im Stichwortbereich ausgestattet zu haben. Aus ergonomischer Sicht des Wörterbuchnutzers sind die auch ganz praktisch. Allerdings sind an diesen Stellen lauter Zusatzregeln untergebracht. Sie dienen normalerweise als Begründung für Schreibweisen, die im Wörterbuch anders eingetragen sind als eigentlich aus der echten Neuregelung zu folgern sein müßte. Manchmal sind aber sogar noch auf Basis dieser Ergänzungen Widersprüche zu den Wörterbucheinträgen zu entdecken.

Ein paar Beispiele:

Im brandneuen Wahrig steht auf S. 460 ein Kasten zum Umgang mit dem Zusatz "halb". Wann wird zusammen, wann getrennt geschrieben?

"Zusammensetzungen des Adverbs halb mit einem Adjektiv schreibt man zusammen, wenn halb als bedeutungsmindernd verstanden wird: halbamtlich, halbleinen, halbseiden. §36 (5)
Ansonsten gelten mehrteilige Ausdrücke mit halb als getrennt zu schreibende Wortgruppen (halb leer, halb nackt, halb offen, halb voll) mit der Einschränkung, dass Getrennt- oder Zusammenschreibung möglich ist, wenn nicht eindeutig erkennbar ist, ob es sich um eine Wortgruppe (halb gar) oder um eine Zusammensetzung handelt (halbgar). §36"


Das geht zwar mit der amtlichen Neuregelung konform, aber trotzdem fragt man sich doch, warum halb bei den nur so angegebenen Lemmata halb nackt, halb verhungert oder halb wach nicht bedeutungsmindernd sein soll. Schließlich ist im Gegensatz zu etwa halb leer bei ihnen nicht gemeint, daß der Zustand genau zur Hälfte zutreffe.

Das mysteriöse Kriterium, das hier zur Geltung kommen könnte, steht dagegen in Dudens Infokasten zum selben Thema auf Seite 446: "Getrenntschreibung, wenn 'halb' als Gegensatz zu 'ganz' aufgefasst wird". Als Beispiele dafür dienen die halb leere Flasche, das halb offene Fenster und ein halb verhungerter Vogel. Das ist also ein bedeutungsorientiertes Kriterium, das in der amtlichen Neuregelung nirgends vorkommt. Mehr noch: Komischerweise gibt der Duden z.B. die Schreibungen halbdunkel, halbbitter und halblaut an, die der eigenen Regelung offensichtlich nicht entsprechen. Daß Zusammenschreibung eintreten soll, wenn halb als bedeutungsschwächender Zusatz aufgefaßt wird, erwähnt der Duden zwar auch, aber natürlich lassen sich die angeführten Beispiele beliebig beiden Fällen zuordnen. Oder anders gesagt, es ist bedeutungsmindernd, wenn halb als Gegensatz zu ganz aufgefaßt wird, was sonst? Wahrscheinlich beruht der "ganz"-Notbehelf auf der Überlegung, daß man zwar schreiben kann das Glas ist ganz leer, im Gegensatz zu das Glas ist *ganzleer, aber genauso kann man natürlich auch schreiben es war ganz dunkel, trotzdem soll nicht halb dunkel die richtige Schreibung sein, sondern halbdunkel. In Zweifelsfällen, schließt daher Dudens Infokasten, sei sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich. Vor dem beschriebenen Hintergrund sind allerdings eigentlich alle Fälle Zweifelsfälle. Als Beispiele für Zweifelsfälle nennt der Duden nur halb_gares Fleisch und halb_links stehen. Warum die freie Wahl ausgerechnet bei diesen Fällen besteht, bei anderen gleichartig gelagerten jedoch nicht, das bleibt ein Geheimnis.

Zur Frage, wann der Zusatz wieder mit dem folgenden Wort zusammen und wann getrennt geschrieben werden soll, bietet der neue Wahrig nur äußerst knappe Ausführungen. Sie haken bei der Unterscheidung zwischen wiederbekommen und wieder bekommen ein:

"Fügungen aus Partikel und Verb in der Bedeutung 'zurück' schreibt man im Infinitiv und den Partizipien zusammen: Sie wollen das Geld wiederbekommen (=zurück).
Aber: In der Bedeutung 'erneut, nochmals' wird das Gefüge getrennt geschrieben (sowohl die Partikel wieder als auch das Verb sind betont): Wir sollen den Preis wieder bekommen (=erneut).
Ebenso: wieder entdecken, wieder erzählen, wieder bekommen (=zum zweiten Mal) usw."


Das ist recht nah am amtlichen Regelwerk, obwohl die "Zusammenschreibung im Nebensatz bei Endstellung des Verbs" (§34 Neuregelung) nicht erwähnt wird, dafür aber schon zaghaft Betonungskriterien. Der Duden führt in dem entsprechenden Infokasten die Betonung eigens unter III. als Kriterium an, also nicht nur als zufällige Begleiterscheinung. Das entspricht zwar den 97er Änderungsvorschlägen der Rechtschreibkommission, aber natürlich wiederum nicht dem tatsächlichen amtlichen Regelwerk. Eigenartig sind beim Duden die unter II. angegebenen angeblichen alten Schreibweisen für angeblich neue Getrenntschreibungen "vor allem dann, wenn 'wieder im Sinne von 'nochmals, erneut' verstanden wird". Bisher sollen folgende Schreibungen demnach richtig gewesen sein:

Sie hat ihre Arbeit wiederaufgenommen.
Es ist mir alles wiedereingefallen.
Ich werde das nicht wiedertun.


Vor allem die letzten beiden Beispiele sind natürlich völlig unüblich. Die Fakultativität, die Ickler in seinem Wörterbuch angibt, entspricht den wahren Verhältnissen. Das geht auch aus einigen Lemmata im Duden hervor, die nicht farblich hervorgehoben sind, also von der Reform unverändert geblieben sein sollen: z.B. wieder_erkennen, wieder_eröffnen, wieder_vereinigen. Während Duden bei diesen Wörtern sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung undifferenziert nebeneinanderstellt, unterscheidet Wahrig hier nach Betonung (die auf die Bedeutung zurückgeht, ohne diese aber genau auszuführen).

Weiterhin findet man dann sowohl bei Wahrig als auch bei Duden unter den Lemmata doch wieder solche, die den Angaben in den Infokästen widersprechen: wieder herrichten (aber gleich danach wiederherstellen!), wieder gutmachen (Duden: auch wiedergutmachen, ohne Bedeutungsunterscheidung), wieder eingliedern (nur Wahrig), wieder aufnehmen (Duden: auch wiederaufnehmen, ohne Bedeutungsunterscheidung).

Die verzeichneten Schreibweisen werden also nicht einmal von den Ergänzungen des Regelwerks überall stimmig erklärt. Vieles bleibt rätselhaft, trotz Infokästen. Das Ergebnis ist äußerst chaotisch. Natürlich sind die Ergänzungen Notbehelfe, um das Reformregelwerk irgendwie zu retten. Bloße "Präzisierungen", wie die Reformer es gerne nennen, sind es nicht, denn sie fügen dem Regelwerk, da die Ausführungen sich mit ihm nicht decken, offensichtlich zusätzliche Bestimmungen hinzu. Wenn Notbehelfe gebraucht werden, muß ein Notstand vorliegen, und der ist natürlich von der Reform verursacht. Durch die vorgenommenenen Nachbesserungen wird die neue Rechtschreibung immer schwerer durchschaubar. All dieses Kuddelmuddel ist nur loszuwerden, wenn die Reform komplett wieder zurückgenommen wird.



eingetragen von Theodor Ickler am 10.06.2002 um 12.03

Zu meiner nicht geringen Überraschung und Zufriedenheit entdeckte ich gestern mehrere Exemplare vom neuen Bertelsmann ("Wahrig"), der doch erst vor zwei Wochen erschienen ist, im Ramschkasten einer großen Erlanger Buchhandlung. Zwar zum Originalpreis, aber immerhin - die Einschätzung stimmt.

Eine andere große Buchhandlung (Bolkert) fand ich überhaupt nicht mehr, sie hat dichtgemacht. Die Branche leidet, kein Zweifel. Vielleicht keine schlechte Voraussetzung für ein wenig Besinnung.
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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 10.06.2002 um 08.34

"Waschen war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts harte Arbeit. Denn Wäsche wurde nicht nur gestaucht, gestampft, gescheuert und gebürstet, um die Gebrauchsverschmutzung zu beseitigen. Oftmals wurden die Wäschestücke sogar gebleut, also mit einem eigens dafür geformten Schlagholz, dem Bleuel, verprügelt." (Quelle: Firma Miele, Presse 2001, zu einer Ausstellung in Nordhorn)

Im Duden ist der Bleuel noch erhalten, bleuen hingegen durch bläuen ersetzt. Bertelsmann hatte den Bleuel 1996 noch, seit 1999 ist er gestrichen. Die Seltenheit der Belege kann dabei keine Rolle gespielt haben, denn es sind auch in der Neuausgabe 2002 noch wesentlich seltenere Wörter aufgenommen.

Wäsche kann seit je auch gebläut werden, also blau gefärbt. Laut Duden wird oder wurde sie mit einem Bleuel gebläut!

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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 08.06.2002 um 04.39

(Hier ist eine vorläufige Analyse des neuen Wörterbuchs, noch ohne kursive Auszeichnungen des Materials. Für die Mitteilung weiterer Beobachtungen wäre ich dankbar.)



Wahrig: Die deutsche Rechtschreibung. Verfasst von Ursula Hermann, völlig neu bearbeitet und erweitert von Prof. Dr. Lutz Götze. Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag 2002. 1200 S. - 14,95 Euro.

Als im Jahre 1999 eine erheblich veränderte zweite Auflage der reformierten Bertelsmann-Rechtschreibung erschien, erklärte der Verlag, damit liege nun ein Werk vor, das den Anforderungen der nächsten zwei bis drei Jahre gerecht werde. Da die Rechtschreibkommission, ohne offiziell auch nur ein Jota ändern zu dürfen, unablässig am Rückbau ihres mißlungenen Regelwerks arbeitet, war solche Vorsicht wohlbegründet. In der Tat liegt nun nach kaum drei Jahren eine revidierte Neufassung vor.

Stichwortauswahl
Laut Vorwort wurde erstmals ein elektronisches Korpus von 500 Millionen laufenden Wörtern ausgewertet; damit sollten "Lücken" und "Leichen" entdeckt werden. Dies bezieht sich also nur auf die Stichwortauswahl, nicht auf die tatsächlich vorgefundenen Schreibweisen, um die es ja bei einem Rechtschreibwörterbuch in erster Linie geht. Immerhin sind nur solche Medien ausgewertet worden, die sich mehr oder weniger der Neuregelung angeschlossen haben, also nicht die F. A. Z.
Man sollte meinen, daß automatisch alle Einträge des amtlichen Wörterverzeichnisses aufgenommen sind, das ja integraler Bestandteil der Neuregelung ist. Das ist aber nicht der Fall. So vermißt man Graecum (das nur noch in dieser Schreibweise zulässig sein soll); es scheint auch im Korpus nicht hinreichend oft belegt zu sein. Auch Holster fehlt. Man sollte bei korpusgestützer Arbeit auch erwarten, daß wiederauferstehen und Wiederauferstehung, die im Duden traditionell fehlen, endlich nachgetragen werden. Stattdessen findet man Raritäten wie Nearthrose (übrigens mit schiefer Erklärung) und Beidrecht. Raumton ist verzeichnet, Raumklang nicht, obwohl es fast 100mal so häufig gebraucht wird. Zwar steht gebauchkitzelt auch im "Großen Wörterbuch" von Duden, es ist aber so gut wie unbekannt; man sagt gebauchpinselt. überm Berg ist weniger gebräuchlich als übern Berg, aber dies fehlt. Das Adjektiv flotativ ist kaum belegbar, für Fivevowelword findet man - in welcher Schreibweise auch immer - selbst bei weltweiter Suche mit Google keinen einzigen Beleg. Gern hätte man auch erfahren, wie ewiggestrig jetzt geschrieben wird, aber es scheint in dem ganzen Riesenkorpus nicht belegt zu sein. Das Ewigweibliche kommt zwar substantiviert vor, aber das dazugehörige Adjektiv kann es wegen der -ig-Regel nicht geben. - So könnte man noch lange über die Repräsentativität des Korpus räsonieren. Elektronische Auswertung verbürgt keinesfalls eine besonders hohe Qualität.
Die Auflösung der Tschechoslowakei ist eigentlich kein Grund, auch den Namen zu unterdrücken. Was die Auswahl der Personennamen betrifft, so finden wir nach bekanntem Duden-Brauch zwar Stalin, nicht aber Hitler oder Goebbels, obwohl zumindest der letztere sehr wohl "rechtschreibliche Schwierigkeiten aufwerfen könnte" - laut Benutzungshinweisen ein Kriterium für die Auswahl. Über das Böse soll man anscheinend nicht einmal reden bzw. korrekt schreiben können - auch eine Art Vergangenheitsbewältigung, die allerdings mit einer empirischen, korpusgestützten Arbeit nichts mehr zu tun hat. Eine gewisse "Begünstigung" sozialistischer Politiker ist unverkennbar: man findet Lenin, Trotzkij, Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, aber keinen Bundespräsidenten außer Heuss und nicht einmal Ludwig Erhard, dessen Namen heute schon viele Menschen nicht mehr richtig schreiben können.
Die hohe Zahl der Einträge ist vielleicht gut für den Wettbewerb, lexikographisch aber sinnnlos. Es gibt rund 60 Komposita mit Grund-, 30 mit Geschäfts- usw. Sie bieten orthographisch nichts Neues.

Typographie und Aufbau
An typographischen Neuerungen fällt auf: Jedes Stichwort steht jetzt, wie im neuen Duden, auf einer eigenen Zeile; auch der Flattersatz ist übernommen. Der Druck wirkt insgesamt dünn und blaß, so daß die haarfeinen senkrechten Trennungsstriche kaum noch sichtbar sind und ihre unterschiedliche Farbe (blau für ?neu) sich nur unter günstigen Lichtverhältnissen von sehr scharfen Augen erkennen läßt. (In dieser Besprechung werden sie durch Bindestriche ersetzt.)
Neu sind einige Informationskästen zu Stichwörtern wie Baiser oder Quarantäne an den Stellen des Alphabets, wo man aufgrund der Aussprache (Be-, Ka-) zuerst nachschlagen würde. Man muß also nicht schon wissen, wie es geschrieben wird, um überhaupt nachschlagen zu können - eine sinnvolle Neuerung, die allerdings bisher nur wenige Fremdwörter betrifft, also zum Beispiel nicht Business, Jazz u. v. a.
Geblieben ist die kurze alphabetische Grammatik im Anhang. Die Tabelle mit neuen orthographischen Varianten ist vor das Wörterverzeichnis gezogen. Dort stehen auch die amtlichen Regeln mit kurzen Hinweisen auf die bisherige Regelung. Sie sind weniger fehlerhaft als in der ersten Auflage. Götzes Geschichte der Rechtschreibung ist aufs neue abgedruckt; sie übergeht die Rechtschreibreform des Reichserziehungsministers Rust, die der gegenwärtigen Reform nach Inhalt und Zielsetzung am nächsten kommt, weiterhin mit Stillschweigen.

Laut-Buchstaben-Entsprechung
Die Maß Bier darf nicht nur wie im Duden auch Mass geschrieben werden, sondern Bertelsmann läßt überhaupt nur noch diese Schreibweise zu, setzt also die süddeutsche kurze Aussprache als alleingültig voraus - sicherlich zu Unrecht. Eine sonderbare Unterscheidung gibt es bei der Wortfamilie um Phantasie:
"Der Anlaut des aus dem Griechischen stammenden Fremdworts Phantasma (ebenso: Phantasmagorie, phantasmagorisch) darf nicht mit der Buchstabenfolge Fan- wiedergegeben werden, obgleich dies bei anderen Mitgliedern dieser Wortfamilie (z. B. Fantasie, Fantast usw.) die orthographische Hauptvariante geworden ist."
Man glaubt geradezu das Kopfschütteln zu sehen, mit dem die Redaktion diese schwer lernbare, aus dem amtlichen Text nicht ableitbare Ausnahmeregelung formuliert hat; immerhin schreckt die Neuregelung ja an anderer Stelle nicht einmal vor Fonetik u. ä. zurück.
Bei Walnuss wird erklärt, warum nach dem kurzen u ein Doppel-s steht, nicht aber, warum nach dem kurzen a kein Doppel-l steht. Es soll weiterhin gelten Justizium ("Stillstand der Rechtspflege"), obwohl es nicht von Justiz abgeleitet ist, aber das genau gleich gebildete Solstitium bleibt unangefochten. Welchem Bedürfnis damit abgeholfen wird, steht dahin.
Um die Unsinnigkeit der Neuschreibung bläuen (für "schlagen" und nicht etwa "blau färben") nicht gar zu sehr ins Auge fallen zu lassen, hat die Redaktion den Bleuel ("Holzstock zum Klopfen nasser Textilien" - so noch 1996) kurzerhand gestrichen. Im Duden dagegen wird die Wäsche mit einem Bleuel gebläut!

Silbentrennung
Bei der Silbentrennung sind weitere Neuerungen eingeführt. So gilt als Vorzugstrennung jetzt A-spik; aus einem Kasten erfährt man, daß auch As-pik getrennt werden kann. Trennungen wie Spitza-horn werden zwar weiterhin vorgeführt, von Zeit zu Zeit erfolgt jedoch eine Warnung davor, sie auch tatsächlich anzuwenden. Es bleiben aber noch Tausende von unsinnigen Trennvarianten, vor denen nicht gewarnt wird: A-neurysma, Bi-otonne, Det-ritus, dreie-ckig, O-blate, O-bligo usw. Sehr überraschend wirkt der folgende Kasten:
"Die Buchstabenfolge exe... kann in Fremdwörtern auch e-xe...getrennt werden. Die zweite Trennvariante gilt jedoch ausschließlich bei mit exequ- beginnenen Wörtern wie z. B. Exequatur."
Damit entfallen viele in der vorigen Auflage verzeichnete Trennmöglichkeiten wie E-xegese, e-xemt usw. Es ist unklar, woher diese neue Einschränkung stammt; im amtlichen Regeltext hat sie keine Grundlage.
Bei den griechischen Präfixen scheint etwas von Grund auf schiefgelaufen zu sein:
?Die Buchstabenfolge a-po-st... kann in Fremdwörtern auch a-pos-t... getrennt werden. Die zweite Trennvariante gilt jedoch ausschließlich bei Bildungen, in denen die fremdsprachigen bzw. sprachhistorischen Bestandteile noch deutlich als solche erkennbar sind, wie z. B. in Aposteriori.?
Unter den Einträgen selbst werden dann aber gerade A-po-stat, A-po-stroph usw. so markiert, daß man eine weitere Trennstelle zwischen s und t ansetzen muß, währen A-pos-te-ri-or-i variantenfrei nur an dieser Stelle getrennt werden darf. Gerade umgekehrt ist es bei apr-:
?Die Buchstabenfolge a-pr... kann in Fremdwörtern auch ap-r... getrennt werden. Die zweite Trennvariante gilt jedoch ausschließlich bei Bildungen, in denen die fremdsprachigen bzw. sprachhistorischen Bestandteile noch deutlich als solche erkennbar sind, wie z. B. in Apriori.?
Dieses kann aber laut Eintrag nur A-pri-ori getrennt werden, im Gegensatz zu A-pri-ko-se, A-pril usw., für die eine weitere Trennvariante zwischen p und r angegeben ist. Andere Präfixe wie ana-, epi-, kata-, peri- werden kommentarlos als grundsätzlich undurchsichtig behandelt: Anas-tomose, Peris-kop, Metas-tase usw. sind zulässige neue Trennungen.

In einem besonderen Kasten wird erklärt:
"Die Buchstabenfolge par-o... kann in Fremdwörtern auch pa-ro... getrennt werden. Davon ausgenommen sind Zusammensetzungen, in denen par... sprachhistorisch nicht auf die aus dem Griechischen stammende Vorsilbe para... zurückgeht, z. B. bei Parole, Paroli."
Wie aber dann auch die weiteren Einträge zeigen, ist es gerade umgekehrt, denn selbstverständlich können gerade Parole und Paroli nur an der betreffenden Stelle getrennt werden, während das für die griechischen Wörter wie Parodie nur fakultativ gelten soll.
Gerade bei der Silbentrennung werden neuerdings erhebliche Fremdsprachenkenntnisse vorausgesetzt. Es gibt mehrere Informationskästen, die etwa solche Botschaften enthalten:
"Die Buchstabenfolge kon-tr... kann in Fremdwörtern auch kont-r... getrennt werden. Davon ausgenommen sind Zusammensetzungen, in denen die fremdsprachigen bzw. sprachhistorischen Bestandteile deutlich als solche erkennbar sind, z. B. -trahieren (vgl. subtrahieren)."
Folglich wird Kontrahent nicht wie Kontrast getrennt, obwohl die Undurchsichtigkeit und volksetymologische Umdeutung gerade bei Kontrahent ("Gegner" statt "Vertragspartner") geradezu sprichwörtlich ist. Immerhin verlangt man solche Lateinkenntnis von Benutzern, die angeblich die Bestandteile von deutschen Wörtern wie diesmal oder herunter nicht zu erkennen vermögen. Das Wörterbuch verzichtet in seiner eigene Praxis lieber auf eine ordentliche Zeilenfüllung als auf Trennungen wie he-rum. Die Trennung Jugos-lawien, die das Wörterbuch angibt und unter Belgrad tatsächlich praktiziert, ist so unhöflich, wie es Deut-schland wäre.

Getrennt- und Zusammenschreibung
Bisher schrieb man geradebiegen (mit Resultativzusatz); die Neuregelung unterscheidet zwischen der wörtlichen Bedeutung und der metaphorischen; im ersten Fall muß jetzt getrennt geschrieben werden, im zweiten zusammen - eine Erschwerung, die genau auf der Linie der semantischen Haarspaltereien liegt, die man am alten Duden nicht ganz zu Unrecht kritisiert hatte. Völlig neu ist aber nun das folgende Kriterium:
"Folgt auf gerade ein Verb, gilt Getrenntschreibung, wenn gerade durch wie erfragbar ist."
Von solchen Proben weiß das amtliche Regelwerk nichts.
Stehengeblieben ist die falsche Getrenntschreibung bei gleich bedeutend, wohl in Analogie zu gleich lautend. Man sagt zwar, daß zwei Wörter gleich lauten, nicht aber, daß sie gleich bedeuten.
Eine durchgreifende Änderung bahnt sich bei den besonders anstößigen Getrenntschreibungen von zusammengesetzten Adjektiven wie furchterregend, gefahrbringend usw. an. Hierzu gibt es zahlreiche Kästen mit der völlig neuen Erklärung:
"Die Fügung aus Substantiv und Verb/Partizip wird getrennt und das Substantiv mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben: ein Furcht erregendes Tier. Da der mehrteilige Ausdruck auch als adjektivische Zusammensetzung aufgefasst werden kann, ist als Variante die Zusammenschreibung korrekt: ein furchterregendes Tier. Bei Erweiterungen oder Steigerungen gilt nur die Zusammenschreibung: ein äußerst furchterregendes Tier; eine noch furchterregendere Erscheinung."
Ebenso bei vertrauenerweckend und vielen anderen. Damit greift das Wörterbuch - gewiß in Abstimmung mit der Rechtschreibkommission - Argumente der Reformkritiker auf und stellt genau die bisherigen Schreibweisen wieder her; ein wesentlicher Teil der Neuregelung (§ 36) ist außer Kraft gesetzt. Leider wird dieser Rückbau nicht konsequent durchgeführt, denn natürlich kann man auch energiesparend, eisenverarbeitend, fleischfressend, hilfesuchend usw. als "adjektivische Zusammensetzung" auffassen, aber hier greift die Neuerung noch nicht. Bei Laub tragend und einigen anderen Zusammensetzungen wird die Zusammenschreibung "wegen der Selbständigkeit der Bestandteile" abgewiesen - eine Begründung, die so nicht im amtlichen Regelwerk zu finden ist. Schmutz abweisend, Wasser abstoßend waren 1999 noch die allein zugelassene Schreibweise, jetzt ist auch die Zusammenschreibung wieder da. Man kann solche punktuellen Revisionen aber grundsätzlich nicht voraussehen.
Die amtliche Regelung schrieb vor: blutsaugend, Blut reinigend (wegen Blut saugen, aber das Blut reinigen). In den neuesten Fassungen der Wörterbücher ist diese Unterscheidung rückgängig gemacht, es heißt einheitlich: blutsaugend/Blut saugend, blutreinigend/Blut reinigend, blutstillend/Blut stillend. Mit einem ähnlichen Gewaltakt wird die Ungleichbehandlung von Kosten sparend und kostendeckend durchgesetzt (spart Kosten, aber deckt die Kosten). In beiden Fällen kann man jetzt zusammen- oder getrennt schreiben; damit ist § 36 ein weiteres Mal außer Kraft gesetzt. Seltsamerweise darf schmerzstillend nur getrennt geschrieben werden, obwohl die morphologische Ähnlichkeit mit blutstillend/Blut stillend doch auf der Hand liegt. Da sich für Gewinn bringend im amtlichen Wörterverzeichnis bereits die Variante gewinnbringend findet, versuchen die Wörterbuchautoren, ähnlich konservative Lösungen für zahlreiche andere Problemschreibungen zu finden. Konsequent sind sie dabei nicht. So darf man neuerdings nur noch Profit bringend schreiben, die Analogie zum gleichbedeutenden gewinnbringend scheint hier nicht zu wirken. Bei Unheil bringend ist neuerdings auch die herkömmliche Zusammenschreibung wieder zulässig, bei Heil bringend dagegen (noch) nicht. Das ist gewiß kein Dauerzustand.
Die vielen gewaltsamen Getrenntschreibungen wie Pflanzen schädigend (unter Fungizid), Pflanzen fressend (unter Herbivore), Funken sprühend usw. beruhen auf der Fehldeutung des Fugen-n als Pluralzeichen. Konsequenterweise hätte man allerdings auch bakterienvernichtend bzw. -tötend getrennt schreiben müssen (unter Bakteriophage usw.). zufriedenstellend darf - wie im neuen Duden - erst zusammengeschrieben werden, wenn es tatsächlich gesteigert ist, und nicht weil es gesteigert werden kann, wie das Kriterium sonst lautet. Wir haben also Komparativ und Superlativ ohne zugehörigen Positiv - eine grammatische Abnormität. Die Getrenntschreibung von viel bewundert wird mit Sätzen wie Man bewundert die Schauspielerin viel begründet, aber das scheint etwas ungelenkes Deutsch zu sein. Interessant wäre eine vergleichbare Begründung für viel geliebt; doch leider fehlt dieses Stichwort. Zusammenschreibung soll eintreten "aufgrund einer festen Bedeutung": vielsagend usw. - aber dieses der amtlichen Regelung fremde Kriterium würde, ernst genommen, zur Wiederherstellung vieler anderer Wörter führen: allgemeinbildend, sogenannt usw.
lahm legen soll nur noch getrennt geschrieben werden, weil man lahm erweitern könne: Der Verkehr war für Stunden (ganz/vollständig) lahm gelegt. Hier ist jedoch zu bezweifeln, daß sich die Intensivierung nur auf das Adjektiv bezieht; man kann es ja nicht allein erfragen: Wie lahm war der Verkehr gelegt? Man vergleiche auch das nach wie vor zusammengeschriebene sichergehen, bei dem die Modifizierbarkeit des Adjektivs viel eher in Betracht kommt: ganz sicher gehen. Bei warmhalten ist jetzt Getrennt- oder Zusammenschreibung möglich, unabhängig von der Bedeutung. Diese Variantenfreudigkeit widerspricht allerdings sowohl dem amtlichen Wörterverzeichnis, das nur Getrenntschreibung kennt, als auch - bei übertragenem Gebrauch - dem Kriterium der Steigerbarkeit mit der Folge der Zusammenschreibung. glattbrennen (unter gasieren) muß wahrscheinlich jetzt getrennt geschrieben werden; vgl. die Einträge unter glatt. Bei wehtun soll der erste Bestandteil seine "substantivischen Merkmale" eingebüßt haben; in Wirklichkeit haben sie nie existiert. Irrig ist auch nach wie vor die Annahme, wettmachen liege ein "verblasstes Substantiv" zugrunde. wach bleiben soll getrennt geschrieben werden, weil das Adjektiv steigerbar oder erweiterbar ist, und als solche "Erweiterung" wird angeboten: Gisela wollte noch lange wach bleiben. Ist das ernst gemeint?
In der ersten Auflage wurde nichtssagend durch nichts sagend ersetzt, vielsagend blieb unverändert; nach der zweiten Auflage von 1999 konnten beide Wörter getrennt oder zusammengeschrieben werden; die Neubearbeitung läßt nur für nichtssagend fakultativ Getrenntschreibung zu, für vielsagend nicht mehr. Leider fehlt das Stichwort wohlriechend, so daß man nicht erkennen kann, ob Bertelsmann ebenso wie Duden dieses Wort anders behandelt als das genauso gebildete wohlschmeckend, dem hier immerhin ein nur getrennt geschriebenes übel riechend gegenübersteht. Zwar wird unter einigen Stichwörtern (wie Benzoe, Diptam) von der Zusammenschreibung wohlriechend Gebrauch gemacht; man weiß nur nicht, ob es die einzige zulässige Schreibweise sein soll.
Gegenüber der vorigen Auflage ist zwar der monströse Satz Das Unternehmen war Gefahr bringend gestrichen, aber das Wörterbuch bietet immer noch allen Ernstes den Beispielsatz Das Haus ist seit langem leer stehend an. In der Bertelsmann-Grammatik (ebenfalls von Lutz Götze!) kann man nachlesen, daß das Partizip I nicht prädikativ verwendet wird.
In irrewerden soll das "verblasste Substantiv" die Irre stecken, weshalb es zusammengeschrieben werde - eine abwegige Spekulation, die allerdings schon im amtlichen Regelwerk kanonisiert ist. Es heißt wieder und wieder: "Die Folge aus Adjektiv und Verb wird getrennt geschrieben." Daher quer gestreift usw. Aber warum wird dann großschreiben neuerdings zusammengeschrieben?
Im Widerspruch zum eigentlichen Programm der Reform gibt es viele Einträge, die feine Bedeutungsunterschiede durch die Schreibweise zum Ausdruck bringen. mobilmachen darf nur im fachlichen (militärischen) Sinn geschrieben werden, sonst mobil machen. Die "fachsprachliche" Rechtfertigung wünschenswerter Zusammenschreibungen wie rotglühend könnte man sich bei vielen weiteren Ausdrücken vorstellen und darf sie für die nächsten Ausgaben auch erwarten. Einstweilen muß man noch von Fall zu Fall nachschlagen, wie in alten Dudenzeiten. Zu doppeltkohlensauer ist in der Neuausgabe die Getrenntschreibung doppelt kohlensauer hinzugekommen; fachsprachlich gelte jedoch nur Zusammenschreibung. Aber wann wird ein solches Wort überhaupt nicht-fachsprachlich verwendet? Wörter, die auf -ig, -isch oder -lich enden, sollen laut Reform nicht als Erstglieder von Zusammensetzungen und Zusammenschreibungen gelten, daher heilig sprechen, fertig stellen, gelblich grün usw. - aber selbst diese so eindeutige wie sprachwidrige Regel hat eine überraschende Ausnahme: richtiggehend. Leider enthält sich das Wörterbuch hier jeder Erklärung.
Die wenig einleuchtenden Einzelentscheidungen stellen für Schüler und Erwachsene ein großes Lernproblem dar. Wer kann sich schon merken, daß man schief gewickelt, schief gegangen, aber schiefgelacht schreiben muß? Es soll heißen voll gegessen, aber vollgefressen, voll besetzt, aber vollklimatisiert usw. Dasselbe Durcheinander findet man bei wohl: wohlerzogen, wohl bedacht, wohlgeformt oder wohl geformt; wohlgeraten, wohl geordnet, wohlgeübt oder wohl geübt.
Bei den Verbzusatzkonstruktionen mit wieder- haben sich die verschiedenen Deutungen des Regelwerks am schnellsten geändert, und noch jetzt unterscheiden sich Duden und Bertelsmann trotz exklusiver Beratung durch die Rechtschreibkommission erheblich. Duden läßt grundsätzlich viel mehr Varianten zu. Beide Wörterbücher sind hier sehr unvollständig, so daß man nicht weiß, wie etwa nach dem neuen Wahrig wiedereinrichten, wiedereinrenken usw. geschrieben werden. Nicht angeführt ist auch wiedereinbürgern; da es jedoch unter repatriieren getrennt geschrieben wird, muß man wohl annehmen, daß dies die neue Schreibung sein soll. Sicher ist das jedoch nicht, denn wie wir sehen werden, befolgt das Wörterbuch keineswegs immer seine eigenen Vorschriften.
Die vielen Bandwurmwörter, bei denen das Wörterbuch "wegen der besseren Lesbarkeit" immer wieder den Bindestrich empfiehlt, sind kein Gewinn: Openenddiskussion, Multiplechoiceverfahren usw.
Während die amtliche Neuregelung ausdrücklich nur nochmal zuläßt (§ 55, 4), hatte Bertelsmann 1999 gerade umgekehrt noch mal als Neuschreibung gekennzeichnet; die Neubearbeitung läßt, ebenso willkürlich, beides zu.

Groß- und Kleinschreibung
Die graue Eminenz soll weiterhin klein geschrieben werden, aber im Kasten wenige Zeilen darüber heißt es ausdrücklich: "In Eigennamen wird grau großgeschrieben: die Graue Eminenz." Nicht einzusehen ist auch, warum Letzte Ölung als Eigenname angesehen wird; es scheint sich um eine nachgereichte Begründung für die von Minister Zehetmair (im Sinne der katholischen Kirche) durchgesetzte Großschreibung zu handeln. Bei Jus ad rem, Jus gentium usw. müßten gemäß der Neuregelung die lateinischen Substantive groß geschrieben werden, ebenso in Hercynia silva.
Der folgende Eintrag ist sinnentstellend formuliert:
"In der Fügung mit heute kann früh als Adverb gesehen werden. Deshalb gilt neben der Kleinschreibung auch die Großschreibung: heute früh/Früh."
Umgekehrt wäre es richtig.
Ganz im Sinne der amtlichen Regeln werden feind und freund (jemandem feind sein) gar nicht verstanden, sondern als Substantive gedeutet, folglich groß geschrieben. Nur so erklärt sich wohl auch die seltsame Auskunft, das Wort Todfeind sei "veraltet". Den "Spinnefeind" hat man ja schon vor Jahren wieder zurückgenommen; aber es ergibt sich nun die einigermaßen absurde Reihe: jemandem Feind sein/Todfeind sein/spinnefeind sein. Auch die Großschreibung in Eile ist Not beruht auf Unkenntnis grammatischer Tatsachen und sollte endlich zurückgenommen werden.

Fehler und Problemfälle
Im Kasten zu selbständig steht nach wie vor:
"selbständig/selbstständig: Die richtige Schreibweise lautet selbstständig, die alte Schreibung mit Tilgung des zweiten -st- bleibt aber weiterhin zulässig."
Damit werden die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Interessanter ist aber folgendes: Im Text des Wörterbuchs waren bisher alle Vorkommen von selbständig durch selbstständig ersetzt; in der Neuausgabe sind sie alle wiederhergestellt - obwohl es nach Meinung der Redaktion nicht die "richtige Schreibweise" ist!
Der Verweis auf Hexameron endet blind. hin bedeutet keineswegs "vom Sprecher weg" - aber diesen Fehler begehen fast alle Wörterbücher. Die Einträge zum Hohen Lied und Hohen Priester sind unzulänglich, wie bisher.
Auf meinen Einwand, der Duden verzeichne zu Unrecht die Form Messmer, antwortet die Rechtschreibkommission in ihrem dritten Bericht:
"Als regelwidrig wird die Aufnahme der Schreibung Messmer bezeichnet. Eine Übertragung von Schreibungen, die im Regelwerk vorgegeben sind, auf analoge, jedoch nicht amtlich zu regelnde Fälle (Regionalismen), ist den Wörterbüchern überlassen. Begründung: Das amtliche Wörterverzeichnis enthält Messner, Mesner und (als Helvetismus) Mesmer. Der Duden gibt analog zu hochsprachlich Messner auch die Form Messmer für den schweizerischen Regionalismus Mesmer an. Diese Schreibung ist mit dem schweizerischen Dudenausschuss abgesprochen worden."
Nun, Bertelsmann scheint von einer solchen Absprache nichts zu wissen, Messmer fehlt.
Die Ausdrucksweise läßt manchmal zu wünschen übrig. Ein Detacheur soll ein "Fachmann zum (!) Fleckenentfernen" sein. Zu korrigieren sind weiterhin: "Zwang zu häufigem, tropfenweisen (!) Wasserlassen" (unter Harnzwang); "aus einem bedeutungsverstärkendem (!) ersten Bestandteil" (im Kasten zu hellgelb). Unter Horsd'oeuvre (Kasten S. 743) ist die Grammatik durcheinandergeraten. Unter im Obigen und an einigen anderen Stellen behauptet das Wörterbuch:
"Im Gegensatz zur bisherigen Schreibweise werden substantivierte Adjektive großgeschrieben."
Auch nach der bisherigen Schreibweise wurden substantivierte Adjektive groß geschrieben, man unterschied jedoch einen pronominalen Gebrauch, der Kleinschreibung zur Folge hatte.
Pidgin Englisch ist nicht die bisherige Schreibweise (sondern mit Bindestrich; neu ist Pidginenglisch). Die Quarks der Kernphysik kommen keineswegs nur im Singular vor. Punctum saliens ist nicht maskulin. Im Kasten zu sobald wird erklärt, daß alle diese weiterhin zusammengeschriebenen Konjunktionen auf der letzten Silbe betont seien. Das wird aber schon durch das ebendort angeführte solange widerlegt, später auch durch sowenig. ernstnehmen ist nicht die alte Schreibweise. Scharm und scharmant sind nicht neu. Ein Zinkenist ist eine Zinkenbläser, aber wieso in der "Schreinerei"?
Unter Komma und zerbröckeln fehlt ein Spatium, ebenso S. 61 bei einem der beiden schlechtgehen, zwischen denen man wählen darf. Unter Potenzial gibt es eine falsche Trennung: Varia-nte (dasselbe schon in der Einleitung S. 32). puppillarisch gibt es nicht, nur pupillarisch. In Sphymograf fehlt ein Buchstabe (Sphygmograf), der Okispitze (unter Schiffchenarbeit) ebenfalls: Okki. Unter § 13 der Regeln hat sich Grundforr (statt Grundform) eingeschlichen. Unter Rimskij-Korsakow ist zu viel kursiviert, auf S. 512 zu wenig. Die Tabelle S. 82 ist zerrüttet (und von seiten ist gerade nicht die neue Schreibweise). Bei leid pleite fehlt ein Schrägstrich (S. 84). Die freistehenden Zeilen (S. 98) müßten laut Wörterverzeichnis getrennt geschrieben werden, statt dessen (S. 100) aber zusammen, und so war es auch in der vorigen Auflage. Die Viola da Gamba soll sechs Seiten haben. Schon die vorige Auflage hatte sich wiedersetzen (unter quer). Unter fiebersenkend steht ein das Fieber senkende (statt senkendes) Mittel. Bei Herpes zoster (unter Gürtelrose) müßte auch Zoster groß geschrieben werden, da es ein griechisches Substantiv ist. Unter Bahai wird auf Bahaismus verwiesen, dies fehlt jedoch. Das Besondere ist nicht die Substantivierung des Adverbs besonders, sondern des Adjektivs besondere. Ganz im Sinne der amtlichen Neuregelung wird bahnbrechend als "sich eine Bahn brechend" gedeutet; es bedeutet jedoch "einem anderen Bahn brechen" und müßte daher eigentlich Bahn brechend geschrieben werden. Zu salzen gibt es nicht nur das Partizip gesalzen, sondern auch gesalzt, besonders wenn es sich um Straßen handelt.
Nicht immer befolgt das Wörterbuch seine eigenen Vorschriften: Schmelzfluß (unter pyrogen), wiedereinsetzen (unter rehabilitieren). Im Kasten zu rein halten steht regelwidriges aufeinanderfolgende. (Wäsche darf man übrigens nur rein waschen, sich selbst von einem Verdacht nur reinwaschen, genau wie vor der Reform.) Das Wörterbuch schreibt wieder beschaffen (unter reproduzieren), bereit halten (unter Reserve), frei halten (unter reservieren), zum zweitenmal (unuter remontieren); in allen diesen Fällen ist unter den Stichwörtern selbst etwas anderes vorgeschrieben.
Äußerst verwirrend sind die Auskünfte zu mal. Es heißt diesmal, dutzendmal, einmal, keinmal, weil "Wortart, Wortform oder Bedeutung der einzelnen Bestandteile nicht mehr erkennbar sind (!). Andererseits soll man "bei besonderer Betonung" getrennt schreiben und substantivieren - aber wie kann man etwas besonders betonen und substantivieren, wenn man es nicht mehr erkennt? Außerdem fehlt an dieser Stelle (eine ganze Spalte lang) jeder Hinweis auf die amtliche Beseitigung des überaus häufigen Wortes jedesmal. Nur unter jeder findet man die obligatorische Neuschreibung jedes Mal.
Im Vorwort zur ersten Auflage benutzt der Reformer Klaus Heller die Nebenvariante Orthografie, und man fragt sich, wozu die Reformer überhaupt eine "Variantenführung" entworfen haben, wenn sie sich dann im eigenen Gebrauch nicht an die Vorzugsvariante halten. Das Wörterbuch macht diese Inkonsequenz nicht mit. Wie schon in früheren Auflagen wird eine Präposition umwillen gelehrt, die wohl eher heideggerisch als standardsprachlich sein dürfte: Er tat das umwillen seiner Kinder. (So nur unter willen, nicht als eigener Eintrag!)
Ein netter menschlicher Zug soll nicht unerwähnt bleiben: Die Redaktion hat ihrer Leiterin, Dr. Sabine Krome, ein kleines Denkmal gesetzt. Unter Synesis lautet das Beispiel die Fräulein Krome (bisher: Müller, so auch noch unter Fräulein).

Abschließende Bemerkung
Im Januar 2002 kündigte der Bertelsmann-Verlag für den Herbst ein "komplett neu entwickeltes Werk" an, das den Titel "Wahrig. Universalwörterbuch Rechtschreibung" tragen soll. Nicht nur aus diesem Grunde hat das vorliegende Wörterbuch den Charakter eines Übergangsproduktes: Anfang Mai erklärte der Vorsitzende der Rechtschreibkommission, das Schwarze Brett könne zum Zwecke der Hervorhebung weiterhin groß geschrieben werden, und die Erste Hilfe sei fachsprachlich und daher von der Reform ohnehin nicht betroffen. Von dieser überraschenden "Klarstellung" acht Jahre nach den abschließenden Wiener Gesprächen hatte bisher niemand eine Ahnung, und auch das neue Wörterbuch weiß noch nichts davon. Wie viele Wörter tatsächlich betroffen sind, läßt sich ebenfalls noch nicht absehen.
Die gegenwärtige Lage ist nicht zuletzt deshalb so unübersichtlich, weil die Reformbetreiber die Unklarheit der neuen Regeln und die Widersprüche zwischen dem amtlichen Regelwerk und dem dazugehörigen Wörterverzeichnis ausnutzen, um jeder Kritik von Fall zu Fall den Boden zu entziehen. Die reguläre Substantivierung von Dienst habend, Arbeit suchend, allein erziehend, lebend gebärend, besser gestellt und hundert ähnlichen Ausdrücken ist der Dienst Habende, die allein Erziehenden, die besser Gestellten usw. Im amtlichen Wörterverzeichnis finden sich kommentarlos einige wenige Ausnahmen wie Ratsuchende, Alleinstehende, und daraus werden neuerdings eine große Zahl bisheriger Zusammenschreibungen abgeleitet, denen zwar noch keine entsprechend zusammengesetzten Adjektive (diensthabend, alleinstehend) gegenüberstehen - aber wer weiß? Im dritten Bericht der Rechtschreibkommission wird deren Wiederherstellung bereits erwogen. Ist eine Regel ausnahmsweise ganz eindeutig formuliert wie das Verbot von Zusammensetzungen mit Adjektiven auf -ig, -lich und -isch, so findet sich im Wörterverzeichnis die singuläre Ausnahme richtiggehend, aus der nach Bedarf weitere Ausnahmen analogisch abgeleitet werden können, bis zur faktischen Aufhebung der Regel. Andere "Altschreibungen" werden unter dem Deckmantel der Fachsprachlichkeit wiederzugelassen. Außerdem macht die Kommission sich die Argumente der Kritiker zu eigen und führt Kriterien wie die Betonung, die festgewordenen Bedeutungen oder die Beschränkungen des prädikativen Gebrauchs ein, die der Neuregelung an sich ganz unbekannt sind. All dies geschieht aber unsystematisch und ist bisher offiziell noch nicht immer über das Stadium des bloßen Erwägens hinausgekommen. Daher kann niemand mit Bestimmtheit sagen, was zur Zeit gilt, und noch viel weniger, was in einigen Monaten gelten wird.
Bei aller Genugtuung über den fortschreitenden Rückbau muß man doch die Schüler und auch die Lehrer bedauern, denen auf absehbare Zeit die sichere Grundlage für einen ordnungsgemäßen Rechtschreibunterricht vorenthalten wird.
? geändert durch Theodor Ickler am 13.06.2002, 20.58 ?
– geändert durch Theodor Ickler am 14.06.2002, 08.43 –
__________________
Th. Ickler


eingetragen von Wolfgang Scheuermann am 06.06.2002 um 09.39

Anpreisungstext für die kostenlose Sprachberatung beim "Bertelsmann Lexikon Verlag" (fehlt da nicht - nebenbei - etwas?):

"Hätten Sie gewusst, ...
... dass Flussschifffahrt künftig
mit drei „s“ und drei „f“ geschrieben wird?
... dass die E-Mail weiblich ist und sich
groß- und mit Bindestrich schreibt?"


Das "künftig" ist im Prinzip ja realitätsnah und von daher eigentlich sehr zu begrüßen - aber glaubt das wirklich noch jemand, diese Monstrositäten würden sich tatsächlich noch durchsetzen? Mir verschwimmen immer noch die Buchstaben vor den Augen, wenn ich solche Tripelkonsonanten betrachte.

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Dr. Wolfgang Scheuermann


eingetragen von Theodor Ickler am 04.06.2002 um 17.46

Seit ein paar Stunden bin ich stolzer Besitzer von "Wahrig: Die deutsche Rechtschreibung", also der Neubearbeitung der Bertelsmann-Rechtschreibung. Ich werde auf jeden Fall eine Rezension dazu schreiben. Aber schon jetzt möchte ich den Besuchern dieser Seiten etwas zum Schmunzeln mitteilen. Wo immer in der vorigen Auflage das Wort selbstständig prangte, hat die Redaktion nun wieder die herkömmliche Form selbständig eingesetzt. Offenbar hat der Verlag seinen Feldzug gegen dieses Wort eingestellt. Zum Stichwort selbst wird allerdings immer noch der bekannte Stuß mitgeteilt ("Wegfall des zweiten -st-" usw.). Götze weiß einfach nicht, wovon er redet.
– geändert durch Theodor Ickler am 11.06.2002, 14.05 –
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Th. Ickler


eingetragen von Walter Lachenmann am 20.12.2001 um 19.27

»Die Offizin Bertelsmann Club« kreißt alljährlich ein bibliophil bemühtes Büchlein, das wohl an einige Hand voll Hand verlesene Freunde verschenkt wird, in diesem Jahr:

Matthias Claudius
Der Mond ist aufgegangen
Vom verzweifelten Damon,
Hinz und Kunz,
dem großen und dem kleinen Hund,
der Philosophei und anderem
Viele Verse und ein Brief


Von dem mit blauer Glanzfolie geprägten blauen, etwas sperrigen und sowohl klaffenden als auch klemmenden Pappschuber prangt ein Bewußtsein aber auch ein studirte und ein volksthümlich, und siehe da, es handelt sich um ein wohl getreuliches Zitat aus Meyers Konversationslexikon von 1878. Immerhin. Der Bucheinband ist aus einem sich fettig anfühlenden, vermutlich Leder darstellensollenden tiefblauen Ersatzprodukt, in dem darin ebenfalls ton-sur-ton blau eingestanzten Text kann man man ein Beschloß ausmachen. Wenn das nicht viel versprechend ist!

Tatsächlich - Claudius wird nicht reformiert:

Hinz und Kunz

Hinz:
Voltaire hat wenig seines Gleichen,
Er ist klug, Kunz, und weiß uns seinen Brei
Gar sanft und schön ins Maul zu streichen.
Was mag's doch sein um die Freigeisterei ?

Kunz:
Sie ist ein Rohr, so wahr ich ehrlich bin !
Wer sich drauf lehnt behende,
Dem fährt es durch die Rippen hin,
Und nimmt ein klaatrig Ende.

Bravo. Zitiertreue ist schon ganz respektabel. Es kommt aber noch ein Nachwort, von Matthias Wegner. Hier findet sich ein musste, aber ansonsten die ganz normale, schöne alte Rechtschreibung - und immerhin ist es bei Bertelsmann »Unser diesjähriger Band der Reihe Offizin...«, also ein Vorzeigeobjekt, dessen bibliophiler Charme sich zwar wegen Klaatrigkeit des Lederimitats und klemmendem Schuber in Grenzen hält, das aber doch ein Bemühen um höhere Ansprüche dokumentiert. Und dann findet man wohl selbst bei Bertelsmann die reformierte Orthographie eher unfein.




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Walter Lachenmann


eingetragen von Theodor Ickler am 18.11.2001 um 14.19

Es war von Anfang an zu erkennen, daß Bertelsmann keinen Wert auf den Inhalt der Neuregelung legt, sondern nur darauf achtet, daß jeder sich unterwirft. Das läßt sich an einigen symbolischen Gesten (dass usw.) hinreichend erkennen.
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Th. Ickler


eingetragen von Jörg Metes am 17.11.2001 um 17.23

Klappentext von "Bertelsmann Check it, Deutsche Rechtschreibung, neue Rechtschreibung" (1999 / DM 9,90):

» Jetzt mehr wissen und schneller richtig schreiben - der neue Bertelsmann Checkit Rechtschreibung gibt auf jeder Seite Tips und Erläuterungen zum richtigen Gebrauch der deutschen Sprache «

(zitiert nach: www.amazon.de)
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Jörg Metes


eingetragen von Christian Dörner am 02.10.2001 um 23.36

Zur Zeit wirbt Bertelsmann auf der Titelseite von Yahoo (http://de.yahoo.com) mit folgendem Spruch:

»Durchstarten im Job!
Heiße Tips bei BOL!«

Es geht also doch, oder?
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Christian Dörner


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