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-- Das adverbiale Substantiv (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=411)


eingetragen von J.-M. Wagner am 21.02.2002 um 22.37

Ist es möglich, auf eine einfache quasi-formale Art und Weise innerhalb eines vorgegebenen Satzes zu prüfen, ob ein bestimmtes Wort ein(e) Substantiv(ierung) ist (für beides wird im folgenden synonym 'Substantiv' verwendet)?

Ich habe dabei - ins Blaue hinein - etwa an folgendes gedacht: Der Kasus eines Substantivs zeigt sich an dem zugehörigen bestimmten Artikel. Ist auch umgekehrt ein Wort, auf welches sich ein derartiger Artikel bezieht (wenn der als ein Artikel gebraucht wird und nicht als Relativpronomen), immer ein Substantiv? Gilt das auch für unbestimmte Artikel? Für welche Arten von Wörtern gilt so etwas noch; etwa für "bestimmte" Mengenangaben ('eins', 'zwei', 'drei'), oder auch für "unbestimmte" ('viele'), wenn diese dekliniert werden? Taugen dafür auch Adjektive?

Bevor ich mich weiter in Details verliere, möchte ich erklären, worauf ich damit hinauswill: Es gibt ein paar Klotzköpfe, denen nur schwer mit normalen Argumenten beizukommen ist und die, sagen wir, Schwierigkeiten haben, in bestimmten Beispielen die Wortarten sauber auseinanderzuhalten. Ach so ... - ja, ich gebe es zu, daher weht der Wind.

Aber ich denke, daß so eine von mir gesuchte Argumentation auf der (zugegebenermaßen) ganz primitiven Ebene auch in anderen Situationen hilfreich sein kann - ich stelle mir beispielsweise vor, daß es bei der (verbalen und/oder schriftlichen) Diskussion mit Politikern weder darauf ankommt, lange Vorträge zu halten noch Probleme ausführlich und gründlich zu erläutern, sondern das, worauf es einem ankommt, "kurz und knackig" auf den Punkt zu bringen, und das möglichst noch zusammen mit einem einprägsamen Beispiel.

Die Fragestellung hat in mir außerdem eine gewisse "grammatische Neugierde" geweckt - so wie etwa in der Mathematik oder der Physik ab und zu die Frage auftaucht, ob sich bestimmte Beobachtungen verallgemeinern lassen. 'tschuldigung, aber ich als Nicht-Germanist habe mir darüber noch nie systematisch Gedanken gemacht; ich bitte um Nachsehen, falls dieses Problem als trivial einzustufen ist.

Der Substantiv(ierungs)-Test, nach dem ich suche, kann nur quasi-formal sein, weil man - bei der Art, wie ich ihn mir bislang vorstelle - prüfen muß, ob sich die Aussage des getesteten Satzes durch Einfügen eines geeigneten "Signalisierungswortes" (Artikel etc., siehe oben) nicht geändert hat. Natürlich ist das nur eine andere Art, die für Substantive charakteristische WAS-Frage (oder WOMIT oder WOGEGEN etc., je nach Präposition - aha, noch ein paar Kandidaten!) zu stellen, und in diesem Sinn ist das eine primitive Methode - man sieht dann einfach recht schön (so hoffe ich), daß sich entweder Unfug oder eine andere Aussage ergibt, wenn das zu testende Wort kein Substantiv war. Meine Fragen dazu: 1.) Funktioniert der Test, d. h. gibt er bei jeder Gelegenheit, in der er angewendet werden kann, die richtige Antwort, oder kann er versagen? 2.) Ist dieser Test auf alle Substantive und ihre Verwendungen anwendbar?

Also nun endlich zu dem bereits häufig bemühten »ES TUT MIR SEHR LEID«. Da ja hier gerade das Adverb SEHR unmißverständlich klarmacht, daß das nachfolgende Wort kein Substantiv sein kann - was als rein formales Kriterium nur funktioniert, wenn es sich auch auf das nachfolgende Wort bezieht (ähnlich bei 'nicht') - und also nur "Unfug" zu erwarten ist, wenn man noch etwas hinzufügt, betrachte ich es hier ohne 'sehr'.

Zuvor: Was bedeutet eigentlich 'Leid'? Dazu das Lexikon der Philosophie (phillex.de):
»Leid (auch Leiden, Erleiden) nennt man ein quälendes subjektives Empfinden in der Erfahrung des körperlichen Ausgeliefertsein (dauerhafter Schmerz, Krankheit) oder das seelische Ausgeliefertsein (Gewalt, Versagung von Bedürfnissen und Wünschen). Leid ist stark vom Bewußtsein der Einschränkung oder des Scheiterns von Lebenserwartungen oder Zielstellungen geprägt.«

Hmmm: Erlebe ich Leid, wenn mir etwas leid tut? Nun ja, wenn mir etwas leid tut, heißt das zwar, daß das nicht mit meiner "Zielstellung" übereinstimmt, aber das hat gewöhnlich nichts mit einem »quälenden Empfinden des Ausgeliefertseins« zu tun - und wenn es das doch hätte, wäre von »es tut mir leid« sicher nicht mehr die Rede; dann müßte ich mein "Befinden" gewiß anders beschreiben. -
Aus einem Lexikon der Psychologie: »Leid, negatives Gefühl, hervorgerufen z.B. durch Schmerz, depressive Verstimmungen (Depression) und andere unangenehme Zustände (z.B. Trauma).« Tja, das kann's nicht sein. -
»Leid: Übername zu mhd. leit >böse, widerwärtig, unlieb, verhasst<.« (Duden: Familiennamen - Herkunft und Bedeutung [sic!]);
»Leid, das; -[e]s [mhd. leit, ahd. leid, zu leid]: 1. tiefer seelischer Schmerz als Folge ... « (DUDEN - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden);
»leid [mhd. leit, ahd. leid = betrübend, widerwärtig, unangenehm, nicht verw. mit leiden]: ... « (a.a.O.);
»lei|den [mhd. l?den, ahd. l?dan, wohl rückgeb. aus: irl?dan = erfahren, durchmachen; urspr. ... « (a.a.O.; alle diese Einträge aus einer Suche bei xipolis.net) Aha: Mein Zustand ist dann "betrübt, aber nicht leidend".

Also: Aus »Es tut mir leid« (d. h. ich bedauere sehr und fühle mit, bin betrübt) wird ...
»Es tut mir ein Leid«: Bedeutungswechsel ('an' dazugedacht; beim »Erlkönig« ist's auch weggefallen);
»Es tut mir viel Leid« - Hmm: Der korrekte Plural ist 'viele Leiden' (vgl. »Die Leiden des jungen Werthers«), aber »viel Leid« kommt durchaus vor - was dann wohl aber so etwas wie »viel des Leides« bedeutet, scheint mir - also auch Bedeutungswechsel;
»Es tut mir kein Leid«: Bedeutungswechsel (die Negation der ursprünglichen Bedeutung wäre 'nicht leid');
»Es tut mir starkes/besonderes Leid«: Bedeutungswechsel (der ursprünglichen Bedeutung entspräche 'stark' oder 'besonders').

Nun, ich denke, das sollte bereits genügen. Natürlich liegt der Bedeutungswechsel immer bereits an der Annahme, LEID wäre hier ein Substantiv. - Bloß ein so richtig knackiges, einprägsames Beispiel fehlt noch; vielleicht fällt es ja mir oder jemand anderem noch ein.
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Jan-Martin Wagner


eingetragen von J.-M. Wagner am 20.02.2002 um 21.16

Auch auf die Möglichkeit hin, daß dies hier weder etwas sonderlich neues noch bisher nicht diskutiertes ist - weil ich noch eine anschließende Idee/Frage dazu habe, möchte ich gern folgenden Beitrag von H. Upmeier aus dem "bisherigen Gaestebuch" hierher kopieren:

Die Neuschöpfung der RSR: das adverbiale Substantiv

Die Rechtschreibreformer haben durch die neue Getrenntschreibung die neue Wortart ,,adverbiales Substantiv" geschaffen (nicht zu verwechseln mit dem Akkusativobjekt transitiver Verben). Es ersetzt die bei Getrenntschreibung bisher nötige ,,adverbiale Wortgruppe".
Verwendung: Bei allen Adjektiven und allen intransitiven Verben, wo es nicht mit einem Akkusativobjekt kollidieren oder verwechselt werden kann. Beispiele:
Bei intransitiven Verben: Aus ,,kopfstehen" wurde ,,Kopf stehen" statt ,,auf dem Kopf stehen", u. a.
Bei Partizipien von intransitiven Verben: Aus ,,angsterfüllt" wurde ,,Angst erfüllt" statt ,,von Angst erfüllt", u. a.
Bei Adjektiven: Aus ,,seitenwindempfindlich" wurde ,,Seitenwind empfindlich" statt ,,gegen Seitenwind empfindlich", u. a.
Wie ein echtes Adverb wird das neue ,,adverbiale Substantiv" ohne Artikel verwendet und nicht dekliniert und ist durch Vergleichs- und Steigerungspartikel erweiterbar.
Auch hier gilt, was Frau Ursula Morin am 6.2.02 so beschrieben hat: ,,Dahinter steckt wohl die unausgesprochene Sehnsucht (der RSR), nicht Deutsch, sondern Englisch als Muttersprache zu haben. Ein sehr merkwürdiges Phänomen ..."

Nachdem in den neuen Duden-Grammatiken diejenigen Grammatikregeln, die der Reformschreibung widersprechen, ohne öffentliche Bekanntgabe einfach weggelassen wurden, damit Schüler und Reformgegner sich nicht mehr auf sie berufen können sollen, sollte ehrlicherweise diese von den Rechtschreibreformern neugeschaffene Wortart in die Duden-Grammatiken aufgenommen werden, damit ganz klar wird, daß sie nicht nur die Schreibweise, sondern auch die Grammatik geändert haben.
Weil die Grammatik für Schüler wie ein Gesetzbuch wirkt, müssen weggefallene bzw. aufgehobene Vorschriften wie in Gesetzbüchern als solche gekennzeichnet werden.
Gibt es eigentlich unabhängige Leute, die von Amts wegen über die Grammatikregeln wachen und die in der Schule verwendeten Grammatikbücher auf Vollständigkeit kontrollieren?
Oder bestimmen das IDS und die Kultusminister im Geheimen auch über die Grammatikregeln und damit über die Sprache im Ganzen?

Henning Upmeyer   Roseggerweg 10, 82140 Olching   henning@upmeyer.de   Mittwoch, 20.2.2002


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