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-- Ursprünge der Reform (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=432)


eingetragen von Theodor Ickler am 10.03.2005 um 05.00

Ja, den zweiten Teil gibt es auch, er ist von mir. Enthält aber nichts bemerkenswert Neues.
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Th. Ickler


eingetragen von J.-M. Wagner am 09.03.2005 um 20.34

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Die Geschichte dieser sogenannten Reform ist auch sonst sehr lehrreich. Wenn jetzt der wegen seiner Größe und Inkompetenz arbeitsunfähige "Rat" Arbeitsgruppen beauftragt, erinnert das doch sehr an das frühere Verfahren, über das Munske folgendes berichtet:

"Die Ausarbeitung von Reformvorschlägen vollzog sich folgendermaßen: Die verschiedenen Bereiche der Rechtschreibung wurden an sogenannte Hauptbearbeiter verteilt, welche konkrete Formulierungsvorschläge für die Darstellung und gleichzeitig die Reform der Rechtschreibung ausarbeiteten. In etwa halbjährigen Abständen kam die Kommission zur Beratung dieser Vorlagen zusammen."
(Horst H. Munske: Von der Amtshilfe zum Protest, in: Germanistische Linguistik in Erlangen – Eine Bilanz nach 50 Jahren, herausgegeben von Horst Haider Munske und Mechthild Habermann, Institut für Germanistik. Erlangen 2000, S. 129–139)
Zur Erinnerung: Der gesamte Text von Herrn Munske kann auf diesen Seiten nachgelesen werden unter http://www.rechtschreibreform.com/Seiten2/Wissenschaft/801MunskeAmtshilfe.html sowie unter „Augenzeugenbericht: Wie es dazu kommen konnte“. Was mich dabei immer wieder wundert ist der „Nebentitel“ dieses Beitrags: „Rechtschreibreform I“. Bezieht sich das darauf, daß der Beitrag von Herrn Munske nicht der einzige in dem Sammelband zum Thema Rechtschreibreform ist? Aber warum steht das dann unterhalb des Autorennamens und nicht oberhalb? Wo findet sich „Rechtschreibreform II“?
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Jan-Martin Wagner


eingetragen von Gutenberg am 01.03.2005 um 09.22

Ja, so ist es.


eingetragen von Thies am 01.03.2005 um 09.12

Keine Hochsprache ohne Handwerker!


eingetragen von Theodor Ickler am 28.02.2005 um 08.07

Die Geschichte dieser sogenannten Reform ist auch sonst sehr lehrreich. Wenn jetzt der wegen seiner Größe und Inkompetenz arbeitsunfähige "Rat" Arbeitsgruppen beauftragt, erinnert das doch sehr an das frühere Verfahren, über das Munske folgendes berichtet:

"Die Ausarbeitung von Reformvorschlägen vollzog sich folgendermaßen: Die verschiedenen Bereiche der Rechtschreibung wurden an sogenannte Hauptbearbeiter verteilt, welche konkrete Formulierungsvorschläge für die Darstellung und gleichzeitig die Reform der Rechtschreibung ausarbeiteten. In etwa halbjährigen Abständen kam die Kommission zur Beratung dieser Vorlagen zusammen."
(Horst H. Munske: Von der Amtshilfe zum Protest, in: Germanistische Linguistik in Erlangen – Eine Bilanz nach 50 Jahren, herausgegeben von Horst Haider Munske und Mechthild Habermann, Institut für Germanistik. Erlangen 2000, S. 129–139)

Damals wurden dann die Ergebnisse der Arbeitsgruppen vom Plenum meistens durchgewinkt, schon weil die anderen ja auf dem jeweiligen Spezialgebiet nicht so kompetent waren wie die "Spezialisten". Das ist heute aber noch krasser, denn die Verbandsmitglieder im Rat können ja mehrheitlich überhaupt nicht mitreden, wenn die Arbeitsgruppe demnächst einen Vorschlag zur GZS unterbreitet. Außerdem garantiert das Verfahren, daß die Grundfrage nach Sinn und Zweck der Reform nicht mehr gestellt werden kann. Es beginnt wie damals ein Kuhhandel um Einzelheiten: Gebt mir die Getrenntschreibung von "fertig stellen", und ich überlasse euch die Stammschreibung von "behände" usw.

Munske erinnert an der genannten Stelle auch daran, daß genau jene Reformer, die am schärfsten für Kleinschreibung plädiert hatten, Gallmann und Sitta, nach dem Scheitern ihrer Pläne am heftigsten die vermehrte Großschreibung verfochten. Der Impuls ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen, wie man an den Vorstößen Gallmanns sieht: entweder gemäßigte Kleinschreibung - oder eine so weitgehende Großschreibung, daß euch Hören uns Sehen vergeht! Einen ebenso rücksichtslosen Partner hat er in Richard Schrodt, der die "Universalgrammatik" aus dem Hut zaubert, wenn er "von Hier nach Dort" usw. durchsetzen will. (Wobei ihm der schlichte Fehler unterläuft, Substantive mit Substantivguppen, also Nominalphrasen zu verwechseln; aber wenn wir nicht aufpassen, müssen wir bald weitere Ungeheuerlichkeiten als Folge von elementaren grammatischen Irrtümern ausbaden!)
Wenn man diesen Leuten dann die Folgen ihres verantwortungslosen Treibens vor Augen hält, lachen sie einen aus: Wer wird denn alles ernst und wörtlich nehmen - ihr Deutschen vielleicht! (So ähnlich reden ja Sitta ["Handvoll" - warum nicht!] und Schrodt.)


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Th. Ickler


eingetragen von Detlef Lindenthal am 27.02.2005 um 16.53


Theodor Ickler schrieb:
[Die Reformer] bezweifeln nicht, daß die Substantivgroßschreibung das Lesen beschleunigt, spielen den Vorteil aber herunter: Statt 1000 Wörter liest man mit Kleinschreibung in derselben Zeit dann eben nur 950 (192). Das sieht nach wenig aus, bedeutet aber, daß man in einem Gelehrtenleben von 50 Lesejahren ein ganzes Jahr verliert, wenn die Kleinschreibung sich durchsetzt.
Das, finde ich, ist ein sehr wichtiges Argument. Kleinschreibung bedeutet hiernach 5 Prozent Teuerung in etlichen Berufen (in Form von höherem Zeitaufwand) und zusätzliche Teuerung (in Form von Mißerfolg und Nichterreichen der Lernziele), gerade auch beim lebenslangen Lernen; und Teuerung bedeutet Verlust von Arbeitsplätzen.
Ohne Hochsprache keine Hochtechnologie.
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Detlef Lindenthal


eingetragen von Theodor Ickler am 27.02.2005 um 16.29

Randnotizen beim Wiederlesen der Vorlage von 1992:

Neuregelung der deutschen Rechtschreibung 1992

„Vor allem die Fehler dienen als Begründung für eine Reform.“ (Bericht der taz vom 22.8.1992, nach dem Reformer Wolfgang Mentrup). Vgl. auch die Begründung der Änderung von daß zu das im Reformvorschlag von 1992, S. 133 u. ö.: Fehlerhäufigkeit als Motiv. Ministerin Ahnen irrte also im Spiegel-Interview 2004.
Dieselben Schweizer, die auch wieder im Rat für deutsche Rechtschreibung sitzen, schlugen damals vor, Häärchen, Sääle, Böötchen zu schreiben. Das war ihnen so wichtig, daß sie ein Minderheitsvotum zu Protokoll gaben.
S. 132: Die Reformer wußten, daß die neue ss-Schreibung eigentlich nicht der Stammschreibung entspricht, weil in weiß/wissen usw. der s-Laut verschieden wiedergegeben wird, abhängig von der Vokallänge. Das Stammprinzip gilt also nur dort, wo wegen der Kürze des Vokals schon aufgrund phonetischer Kriterien ein ss stehen muß. Damit erweist sich aber die Beschwörung des Stammprinzips als redundante Überdetermination, die zudem noch neue Ausnahmen erzeugt wie eben weiß/wissen, fließen/Fluss usw.
1992 nahmen die Reformer zu Unrecht an, daß bisher schon 27-Tonner vorgeschrieben sei und diese Substantivregel nur auf Adjektive ausgedehnt zu werden brauche.
1992 leiteten die Reformer her, daß müßiggehen zusammengeschrieben werden müsse (müßig nicht erweiterbar, S. 144); wenig später dekretierten sie, daß es getrennt geschrieben werden müsse (müßig endet auf -ig, und alle Adjektive auf -ig müssen getrennt geschrieben werden). Auf die Frage, was die Endung mit der Getrennt- und Zusammenschreibung zu tun habe, antwortete Schaeder: gar nichts, aber eine willkürliche Regel ist besser als gar keine.
Von solchen willkürlichen und zufälligen Entscheidungen, die innerhalb der „Experten“-Gruppe demokratisch abgestimmt wurden, soll die deutsche Schriftsprache geprägt werden.
Die Reformer behaupten, schon nach dem bisherigen Duden werde der Anblick ist Grauen erregend geschrieben (Vorlage 1992, S. 142). Damit haben sie jedoch R 209 mißverstanden:

- Man schreibt auch dann zusammen, wenn die Zusammensetzung eine [dauernde] Eigenschaft bezeichnet, die vielen Dingen in gleicher Weise eigen ist, d. h., wenn sie klassenbildend gebraucht wird.
eine fleischfressende Pflanze, die Tücher sind reinseiden, die eisen­verarbeitende Industrie, wärmeisolierende Stoffe
- In bestimmten Fällen ist es der Entscheidung des Schreibenden überlassen, ob er zusammenschreibt (dann liegt beim Sprechen die Hauptbetonung auf dem ersten Bestandteil) oder getrennt (dann werden beide Glieder gleichmäßig betont). In der Regel schreibt man solche Fügungen getrennt, wenn sie in prädikativer Stellung (in der Satzaussage) stehen. (Vgl. auch R 206.)
die obenerwähnte Auffassung
oder: die oben erwähnte Auffassung
eine leichtverdauliche Speise
oder: eine leicht verdauliche Speise
kochendheißes Wasser
oder: kochend heißes Wasser
die Speisen sind leicht verdaulich
das Wasser ist kochend heiß

Die Bestimmung über die prädikative Verwendung bezieht sich nicht auf den vorhergehenden Unterpunkt.
Im Kommentar S. 141 wird die Bestimmung über Getrenntschreibung bei -einander- ausgesprochen, im Regelwerk 1996 nicht mehr.
Von Thron wird behauptet, es sei „das einzige ursprünglich entlehnte, aber als deutsch empfundene Wort mit Th“ – ist das im Vergleich mit Theater nachgeprüft worden?
Die Reformer haben es versäumt, die übliche Rechtschreibung von ihrer Darstellung im Duden zu unterscheiden und eine empirische Bestandsaufnahme zu machen, sie haben aber auch den Duden nicht sorgfältig genug gelesen. (Beispiele: 27-Tonner, Grauen erregend)
„Bei diesen [festen Verbindungen läßt sich] die Großschreibung nichtsubstantivischer Bestandteile mit der wortartkennzeichnenden Funktion der großen Anfangsbuchstaben nicht in Einklang bringen.“ (173)
Das ist eine petitio principii. Statt weiter nach der Funktion der Großschreibung zu fragen, behaupten die Reformer, es geht um die Kennzeichnung einer Wortart, und brandmarken das, was sich nicht dieser These fügt, als unbegreifliche Abweichung.
Die Reformer wundern sich darüber, daß Bezugsadjektive wie Goethesch von qualitativen Adjektiven wie kafkaesk unterschieden werden; sie erkennen den Unterschied nicht und bezeichnen ihn ironisch als „feinsinnig“ (175).
Alle Reformer sind Anhänger der Kleinschreibung. Sie kritisierten stets die modifizierte Großschreibung, die sie nach dem Einspruch der Politik nun gleichwohl zähneknirschend verteidigen müssen. (183 u. ö.)
Sie bezweifeln nicht, daß die Substantivgroßschreibung das Lesen beschleunigt, spielen den Vorteil aber herunter: Statt 1000 Wörter liest man mit Kleinschreibung in derselben Zeit dann eben nur 950 (192). Das sieht nach wenig aus, bedeutet aber, daß man in einem Gelehrtenleben von 50 Lesejahren ein ganzes Jahr verliert, wenn die Kleinschreibung sich durchsetzt. Das mag eine Milchmädchenrechnung sein, sie beruht jedoch auf den Vorgaben der Reformer selbst.
Weinrichs Hinweis, daß die durch Großbuchstaben das Auge fesselnden Substantive schnell erkennen lassen, wovon der Text handelt, wird nicht durch das Argument entkräftet, daß dann immer noch nicht klar ist, was im Text gesagt wird. Darum geht es ja nicht, sondern um die Thematik, und sie erlaubt schnelle Orientierung darüber, ob der Text den Leser interessieren muß. Daß Großbuchstaben die Aufmerksamkeit fesseln, bestreiten die Reformer nicht: 152 u.ö.
In dieser Fassung auch die kulturrevolutionäre Pädagogik:
„Das meiste, was gedruckt oder geschrieben wird, gilt dem Tagesbedarf: Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, Korrespondenz, Schulbücher. Geht man von 1995 als einem möglichen Reformdatum aus, so brauchen die Kinder, die ab dann (...) lesen lernen, in den seltensten Fällen etwas von dem zu lesen, was vor 1995 geschrieben und gedruckt wurde.“ (Internationaler Arbeitskreis für Orthographie [Hg.] 1992, S.195)
Bei der Silbentrennung bezog sich die traditionelle Forderung nach morphologischer Trennung „nur auf wenige Sprachen“ (209). Das ist richtig und wird dem besonderen Stellenwert jener Sprachen, besonders der klassischen, gerecht, aus denen wir produktiv entlehnen. Es ist nicht wichtig, Suaheli-Wörter sprachgerecht zu trennen (Ba-ntu usw.). Bei lateinischen und griechischen Wörtern öffnet sich durch die Reform eine Kluft zwischen Trennungen erster und zweiter Klasse. Chinesische Wörter sollten bei der wachsenden Bedeutung dieses Landes allmählich einigermaßen korrekt gesprochen und dementsprechend auch getrennt werden, also nicht La-ot-se usw.
Die Lektüre der Vorlage von 1992 zeigt, daß die heute verhandelte Reform nur eine Momentaufnahme aus der unendlichen Reformdiskussion ist, ein zufälliger Haltepunkt, den wesentlich auch die Einsprüche der Kultusbürokratie mitgestaltet haben. Einige Monate Verhandlung mehr oder weniger, und es wäre etwas anderes dabei herausgekommen.

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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 21.10.2004 um 03.52

Hubert Ivo, Mitverfasser der hessischen RR Deutsch:
„Die RR fordern, die z. Z. gültige Rechtschreibung einzuüben. Sie tun die, weil es nicht in der Macht eines Kultusministeriums liegt, die dringend notwendige Vereinfachung der Rechtschreibung zu regeln. Sie weisen aber auf diese Notwendigkeit hin: Die ohnehin knappe Lernzeit darf auf die Dauer nicht mit dem Einpauken rational nicht begründbarer Regeln, die keine Regeln sind, verschwendet werden. Erst recht nicht darf das Schulschicksal der Kinder von Rechtschreibeleistungen abhängig gemacht werden, da diese Leistung keineswegs ein Ausweis von Begabung ist. Darum darf – so die RR – die Schule diese Leistung nicht zum Kriterium für Eignungsbeurteilungen und Versetzungen machen.“ (in Gerd Köhler/Ernst Reuter: Was sollen Schüler lernen? Frankfurt 1993:139) (Tagung der GEW)

- Warum soll allein diese Leistung ausgeklammert werden? Welche anderen Kriterien für Begabung werden zugelassen? Und warum soll nach Begabung und nicht nach Leistung differenziert werden? Kann jemand, der eine Leistung vollbringt, ohne begabt zu sein, nichts werden?

Wie bei B. Weisgerber wird das Provisorische, Veränderbare des Lerngegenstandes hervorgehoben . es geht um eine Frage der „Macht“. Außerdem werden doch keine Regeln eingepaukt, sondern Wortschreibungen geübt. Und weder Weisgerber noch Ivo scheinen viel von den Gesetzmäßigkeiten der RS verstanden zu haben.

Durch die Veröffentlichungen der damaligen Didaktiker zieht sich der Haß auf die "kapitalistische Gesellschaft" (in der sich die Herren allerdings recht komfortabel eingerichtete hatten). Die Schüler sollten zu "Partisanen" (in Anführungszeichen, aber immerhin) herangezogen werden. Dazu paßt die unablässige Hetze gegen die angeblich völlig idiotische, nur zur Disziplinierung der Unterschicht eingesetzten Rechtschreibung. An ihr sollte ein Exempel statuiert werden.
Das ist der geistige Nährboden für Augst und seine Freunde gewesen. Erstaunlich, wie unbefangen Lenin von den GEW-Leuten als Autorität zitiert wurde (a.a.O.).
Das genannte Fischer-Taschenbuch und sein Pendant "vernünftiger schreiben" sollte man immer wieder mal lesen, sonst vergißt man, welches Umfeld damals herrschte. Alte Erinnerungen ans rote Marburg steigen auf...

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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 02.07.2004 um 08.56

Offenbar hat Mentrup (der übrigens lange Zeit nebenberuflich Dudenautor war und sicher auch gut verdient hat) darauf hingewiesen, daß der Duden ein privatwirtschaftliches Unternehmen ist. Das hat der taz-Redakteur so mißverstanden, als seien die Dudenregeln Privatregeln Konrad Dudens.
Das IDS, bei dem Mentrup angestellt war, hat jahrzehntelang darauf hingearbeitet, den Dudenverlag fertigzumachen. Einige verfolgten, wie die von Herrn Markner entdeckten Zitate nebst anderen Äußerungen beweisen, das Nebenziel, dem Bertelsmannkonzern das Geschäft zuzuschieben. Die erste Hälfte des Projekts könnte gelingen, die zweite wohl nicht, weil "Wahrig" nicht erste Wahl ist (Götze!). Bleibt noch der Weg der feindlichen Übernahme. Damit rechne ich schon seit langem.
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Th. Ickler


eingetragen von Reinhard Markner am 02.07.2004 um 06.23

Matysiak, Stefan: Es lebe die deutsche Sprache. taz, 22. 8. 1992

Eigentlich gelten heute noch die Schreibregeln von 1902 – tatsächlich lassen wir uns von den Privatnormen Konrad Dudens tyrannisieren, der sich daran eine goldene Nase verdiente. Jetzt rückt die lange fällige Rechtschreibreform in greifbare Nähe

Schrift ist eine gefährliche Waffe, deren falscher Gebrauch das Abendland in den lange prophezeiten Untergang führen wird. Mit solchen und ähnlichen Argumenten wird seit Jahren versucht, die längst fällige Rechtschreibreform des Deutschen zu bekämpfen. Dennoch stehen die entsprechenden Reformbemühungen kurz vor der Veröffentlichung.

Wie Wolfgang Mentrup vom westdeutschen Institut für deutsche Sprache in Mannheim auf einem Fachvortrag an der Universität Göttingen mitteilte, wird bereits im Herbst als Diskussions- und Entscheidungsgrundlage das Werk "Die deutsche Rechtschreibung –Vorschläge für ihre Erneuerung" in die Buchläden kommen. Da die beteiligten Arbeitsgruppen aus Österreich, der Schweiz, Ost- und Westdeutschland (Rostock und Mannheim) keine amtlichen Kompetenzen besitzen, müssen die Neuerungen nach der Debatte in der Öffentlichkeit noch den Politikern der beteiligten deutschsprachigen Länder, aber auch Volksvertretern aus Luxemburg und Belgien vorgelegt werden. Bis zur sogenannten dritten Wiener Konferenz Ende kommenden Jahres haben die Parlamentarier Zeit zur Prüfung, für 1995 ist dann abschließend die internationale Übereinkunft vorgesehen.

Während die sprachverwandten Niederländer bereits die fünfte Änderung hinter sich haben, ist im deutschen Sprachraum seit 1902 nichts passiert. "Eine erstarrte Rechtschreibnorm", urteilt Mentrup, "ist einer lebendigen Sprache nicht angemessen." Vor allem die Fehler dienen als Begründung für eine Reform. Ganz oben in der Fehlerhitparade angesiedelt sind vor allem die Kommasetzung, die Laut-Buchstaben-Beziehung und die Groß- und Kleinschreibung. [Genau: mehr lehmskwalidät durch kleinschreipung! d. säzzer] Aber auch bei den Fremdwörtern und der Silbentrennung legen typische Regelverstöße Änderungen nahe. Vor allem die umfangreichen Ausnahmeregelungen sind der Sprachkommission ein Dorn im Auge.

25 Jahre lang, lobt Sprachforscher Mentrup den Aufwand, habe man insbesondere in der DDR genaueste Fehleranalysen betrieben, um Wege zu finden, im Schulunterricht Schreibschwächen so weit wie möglich auszugleichen. Doch trotz aller Anstrengungen seien die derzeit gültigen Regeln nicht erlernbar. "Es gibt Leute, die meinen, sie kennen die Regeln, aber das ist falsch." Bei einem gemeinsamen Diktat, vermutet der Mannheimer Regelwerker gegenüber dem in Göttingen anwesenden Fachpublikum, käme niemand der Anwesenden ohne Schnitzer davon.

Ziel aller Reformen müsse es sein, der Sprachgemeinschaft klare und verläßliche Normen zu geben, die nicht in sich widersprüchlich sind. Bei der Kommatierung etwa, klagt Mentrup, gebe es gar "Ausnahmen von der Ausnahme der Ausnahme der Ausnahme". Die Fachleute wollen deshalb beispielsweise das sehr selten beherrschte Komma vor mit "und" eingeleiteten Hauptsätzen nicht mehr zur Pflicht machen. Als Kann-Bestimmung soll das Satzzeichen nur noch der Deutlichkeit dienen. Auch beim ß- und ss-Gebrauch wird es künftig mehr Klarheit geben. Nach kurzem Vokal folgt dann "ss" (Fluss), nach langem hingegen "ß" (Fuß).
Größere Konsequenz und Einheitlichkeit wird ebenso für die Worttrennung angestrebt. Während die amtlichen Regeln von 1902 hierbei noch mit ein paar Zeilen Erläuterungen auskamen, brachte jede spätere Duden-Ausgabe weitere Komplizierungen. Zukünftig soll nun eine "Weste" wieder wie die "Wespe" am Silbenende nach dem "s" getrennt werden dürfen.

Während die Politiker für diese nicht so weitgehenden Änderungen bereits ihre Zustimmung signalisiert haben, ist der Entscheid zur das Schriftbild stärker verfremdenden Klein- und Großschreibung völlig offen. Die Sprachwissenschaftler favorisieren die "gemäßigte" Kleinschreibung, nach der lediglich Satzanfänge, Eigennamen und Anreden weiter mit kapitalen Buchstaben beginnen würden. Als Alternative zu dieser in den anderen Sprachen Europas gepflegten Form schlugen sie eine leichte Modifizierung des Status quo oder die Beibehaltung der jetzigen Regelung vor. So soll offenbar verhindert werden, daß im Streit um die Großbuchstaben das ganze Projekt scheitert.

Wegen großer Proteste in der Presse haben die Reformer bereits 1988 den Vorschlag zurückgenommen, "ai" grundsätzlich durch "ei" zu ersetzen. Bei dieser Gleichmacherei wäre der altbekannte Kaiser zu stark modernisiert worden – für konservative Eiferer ein Alptraum.
Wirklich radikal ist die Sprachkommission nicht vorgegangen, obwohl die Überarbeitung des Notwendigen schon eine Revolution mit sich gebracht hätte. Aber die sei, so Mentrup, in Deutschland nicht möglich.

Die meisten jetzt wieder aktuellen Überlegungen sind bereits ein gutes Jahrhundert alt. Vieles wurde schon nach einer ersten Rechtschreibkonferenz 1876 zwar als richtig und notwendig erachtet, jedoch nicht in das 1902 beschlossene Regelwerk übernommen. Glücklich, überhaupt einheitliche Regeln hervorgebracht zu haben, opferte man schon damals das Sinnvolle dem Opportunismus.

Vordem hatte es eine Vielzahl unterschiedlicher Regeln gegeben, etwa eine allein für Leipziger Schüler oder nur für kaiserlich-österreichische Militärkadetten. Selbst in ein und derselben Schule konnten unterschiedliche Normen vermittelt werden.

Den Sündenfall nach der orthographischen Einheit beging 1915 der bei Schülern berüchtigte Konrad Duden, der die amtlichen Regeln mit seinen persönlichen mischte. Als 1955 die deutschen Kultusminister diese Melange als im Zweifelsfall gültig akzeptierten, erhielt damit nicht nur ein privatwirtschaftlicher Verlag eine staatlich garantierte Einnahmequelle, sondern neben den noch heute gültigen, aber in Vergessenheit geratenen Regeln von 1902 ein zweiter widersprüchlicherer und überkomplizierter Normenkatalog den amtlichen Segen.

Und gerade die bei Duden vorgenommenen Änderungen sind es, "gegen die wir heute zu Felde ziehen", bezieht Mentrup Position gegen die bei der Bevölkerung als heilig angesehenen Duden-Macher.

Sechzehn Meinungsumfragen sprechen inzwischen für die Reform. Nur kurze Zeit, vermuten die Mannheimer, würde das Lesen zehn Prozent länger dauern, dann aber auch das neue Schriftbild flüssig aufgenommen werden.

Das im Herbst erscheinende Kompendium mit den Änderungen wird auch die rund 300jährige Debatte über die deutsche Rechtschreibung dokumentieren und so die Berechtigung der Vorschläge untermauern. Die Autoren verbinden mit dem Werk die Hoffnung, daß erst nach der Kenntnisnahme die Diskussion über die Reform beginnt. "Unsere Aufforderung zur sachlichen Auseinandersetzung ist ernst", begegnet Mentrup vor allem jenen, die ihn vor vier Jahren als Sprachverhunzer verunglimpften. Damals ließen nach der Veröffentlichung einiger Überlegungen eingeschliffene Vorlieben jedes sachliche Argument ersticken: Auch hier hat sich die deutsche Sprachgemeinschaft seit 100 Jahren nicht geändert.


eingetragen von Wolfgang Scheuermann am 26.03.2002 um 10.50

Vor gut 10 Jahren veröffentlichte Dieter E. Zimmer in der "ZEIT" einige Beispielsätze:

"1. Irgend jemand fläzte sich auf dem Diwan neben dem Buffet, ein anderer räkelte sich rhythmisch auf der Matratze, ein dritter planschte im Becken.

2. Man stand Schlange und kopf, lief Ski und eis, schob Kegel und sprach Englisch, und wer diät gelebt und hausgehalten hatte, hielt jetzt hof.

3. Auf gut deutsch heißt das, die libysche Firma hat Pleite gemacht, aber die selbständigen Mitarbeiter konnten ihre Schäfchen ins trockene bringen.

4. Alles mögliche deutet darauf hin, daß sich etwas Ähnliches wiederholen wird, obwohl alles Erdenkliche getan wurde, etwas Derartiges zu verhindern und alles zu annullieren.

5. In einem nahe gelegenen Haus fand sich das nächstgelegene Telefon, im Portemonnaie der numerierte Bon."

Dazu fügte er noch einige Silbentrennungen:

"Ex-amen, Exo-tik, Psych-ia-ter, päd-ago-gisch, pä-do-phil, Päd-erast, So-wjet"

Er erläuterte, beim Schreiben dieser Sätze und Wörter unterliefen gebildeten Erwachsenen in der Regel Rechtschreibfehler hoch im zweistelligen Bereich und auch Lehrer - diese hob er gesondert heraus - würden nur ausnahmsweise bei unter 10 Fehlern bleiben (soweit ich mich richtig erinnere - der Artikel liegt mir nicht mehr vor; ich hatte mir nur obiges abgeschrieben).
Deshalb sei die Rechtschreibung zu schwierig und bedürfe einer Reform.
Nach der Lektüre ließ ich mir die Beispiele diktieren - und machte trotzdem noch mehrere "Fehler". Daraufhin sah ich einer Reform der deutschen Orthographie hoffnungsfroh entgegen (auch wenn ich einige der Zimmerschen "Fallen" schon damals als, na ja, blöd empfand).

Vielleicht hat Herr Zimmer seinerzeit ja nicht nur bei mir Erfolg gehabt (der ich bis dahin keinerlei Notwendigkeit einer Reform der Rechtschreibung gesehen hatte); jedenfalls hielt meine von ihm erzeugte positive Grundeinstellung zu einer Reform, bis der erste "Reformduden" (und sein Gegenstück bei Bertelsmann) erschienen waren - das kleine "Reformheftchen", das zwischenzeitlich in den Buchhandlungen verkauft wurde, hatte mich jedenfalls noch nicht kuriert.
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Dr. Wolfgang Scheuermann


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