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-- Orthographie und Grammatik (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=444)
eingetragen von Fritz Koch am 19.10.2004 um 21.16
Antlitz = das Entgegenblickende
So steht es im Herkunftsduden
eingetragen von Fritz Koch am 19.10.2004 um 20.58
Auch wenn sie z.B. nur aus Runen bestehen. Z.B. sind die bei Nowgorod gefundenen Birkenrindenbriefe Denkmäler der russischen Sprache.
eingetragen von Georg Zemanek am 19.10.2004 um 05.49
Ein Blick in den Kluge erbringt (gekürzt auszugsweise):
ant- Heute nur noch in Antlitz, Antwort, verdunkelt in anheischig und Handwerk vorhanden.
Als nach dem Wirken des Vernerschen Gesetzes, aber längst vor dem Einsetzen der Denkmäler das Germanische den Hauptton auf die erste Silbe zurückzog, war die Zusammensetzung des Nomens schon vollzogen, der Zeitwörter noch nicht (daher erlauben, erteilen).
Es folgt eine Zusammenstellung von Quellen, aus denen die Vorsilbe entstanden sein kann, z.B. idg. *anta, *anti. Scheint auch noch mit Ende verwandt zu sein.
Ich verstehe leider nicht alles, aber es eröffnet mir einen Zipfel zum Verständnis für das heutige Durcheinander - das ja nachweislich fast alle Deutschsprecheden mühelos beherrschen :-). Könnte jemand noch erklären, was das mit dem Einsetzen der Denkmäler auf sich hat?
eingetragen von Monika Chinwuba am 18.10.2004 um 21.18
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Stephan Fleischhauer
ant hängt mit ent zusammen.
Wie auch immer der behauptete Zusammenhang sein mag, Fakt ist, das der Anfangslaut sich ändert. Auf diese Weise erscheint anstatt des Begriffs der zeitgemäßen Besorgung an-t- plötzlich der Begriff der Trennung: -ent-.
Ent-wortet wie ent-wertet?
Viele unserer hochdeutschen Worte sind in den deutschen Landen anders belautet - Baba anstatt Pappa -, aber überall sagt man das Wort Antwort, nur manchmal mit einem -d- anstatt -t-. Vielleicht sind die -d-Sprecher verbindlicher?
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Monika Chinwuba
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 18.10.2004 um 15.46
ant hängt mit ent zusammen.
eingetragen von Monika Chinwuba am 18.10.2004 um 12.57
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Georg Zemanek
... ant-worten scheint die einzige Verwendung einer Vorsilbe ant- zu sein ...
Ich hatte ja geäußert, daß ich den "Sprachalgorithmus" suche, daß ich eine Lautbedeutung in Sprache behaupte, und deshalb interessiere ich mich zunächst einmal für die Konstruktion von Worten, die ich als Bedeutungsverbindungen begreife, z. B. auch die Vorsilbe an-t-.
Den Laut -t- habe ich als Ziel/Zeit begriffen.
Die Silbe an- wird immer dann benutzt, wenn es um eine Art von Besorgung geht. Durch die Beigabe des -t- würde sich dies als zeitgemäße zielhafte Besorgung auswirken.
An-t-worten würde daher meiner Auffassung nach bedeuten, daß eine Besorgung (an) zu Ziel/Zeit (t) des Empfangenen (hier: Wort) erfolgt, d. h. als Erklärung. Bei ankommen, angeben usw. fällt die Erklärungseigenschaft weg, da ein -t- fehlt.
So wie ich das hier schildere wirkt das vielleicht unglaubhaft und merkwürdig. Aber ich brasele weiter.
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Monika Chinwuba
eingetragen von Monika Chinwuba am 18.10.2004 um 12.29
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Fritz Koch
...könnte man heute wohl auch schreiben:
'antgewortet usw.
Würde das nicht einen völlig anderen Sinn ergeben, Herr Koch, verehrte Forumsteilnehmer?
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Monika Chinwuba
eingetragen von Matthias Dräger am 18.10.2004 um 11.03
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Fritz Koch
sollte dort der wunderbare Beitrag von Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung vom 18.10.04, Literatur: 'Rein ist nur, was nicht mehr wächst' eingestellt werden:
Über die Blütezeit der deutschen Sprache ohne staatliche Eingriffe und ihren Niedergang durch staatliche Eingriffe.
Sehr geehrter Herr Koch,
der Beitrag könnte schon jetzt eingestellt werden.
Bitte geben Sie (oder wer auch immer den Beitrag einstellt) nach dem Beitrag einfach an:
Achtung! Diesen Beitrag bitte nicht kommentieren, da er sonst im Nachrichtenbrett gelöscht würde. Danke!
Wir bemühen uns, den Fehler im Nachrichtenbrett zu beheben, es kann aber einige Tage dauern.
eingetragen von Fritz Koch am 18.10.2004 um 09.52
Da der Rahn-Pfleiderer von 1952 sehr veraltet ist und das Bewußtsein der Ableitung von Substantiven verblaßt sein kann, könnte man heute wohl auch schreiben:
'antgewortet, arggewöhnt, handgehabt, liebgekost, lobgepreist, lustgewandelt, maßgeregelt, ohrgefeigt, wehgeklagt, weisgesagt' usw.
eingetragen von Georg Zemanek am 18.10.2004 um 09.45
Danke, die Liste erweitert mein Wissen. Ich werde - nach dem Vorbild der Sprachreformer - streng beobachten, wann dieses Wissen mein Sprachgefühl erreicht :-)).
Ich antberage eine Untersuchung, wann ich das letzte Mal lustgewandelt habe (bin? - auch so ein Zweifelsfall mit regionalen Vorlieben). Wann darf ich eine Antbewortung erwarten?
Die Sprache ist ein diffuses Gelände, in dem überraschenderweise trotzdem erfolgreich konstruktiver Gedankenaustausch betrieben werden kann. Unerreichbar mittels formaler Sprachen.
Wenn ich mir vorstelle, wie viele Regeln nötig sind, damit man all diese Details des scheinbar selbstverständlichen Sprachgefühls erwirbt (ant-worten scheint die einzige Verwendung einer Vorsilbe ant- zu sein), dann verstehe ich nicht, wieso die lächerlichen 112 Rechtschreibregeln soviel Aufwand verursachen.
eingetragen von Fritz Koch am 18.10.2004 um 09.02
sollte dort der wunderbare Beitrag von Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung vom 18.10.04, Literatur: 'Rein ist nur, was nicht mehr wächst' eingestellt werden:
Über die Blütezeit der deutschen Sprache ohne staatliche Eingriffe und ihren Niedergang durch staatliche Eingriffe.
eingetragen von Fritz Koch am 18.10.2004 um 08.34
In Rahn-Pfleiderer, Deutsche Schulgrammatik, wird behauptet:
"Besonderheiten des Partizips Perfekt:
1. Entgegen der Regel wird trotz der Anfangsbetonung die Bildungssilbe 'ge-' nicht eingeschoben, sondern vor das Verb gesetzt bei den Verben:
'antworten, argwöhnen, handhaben, liebkosen, lobpreisen, lustwandeln, maßregeln, ohrfeigen, wehklagen, weissagen, wetteifern' und andere
Es heißt also: 'geantwortet, geargwöhnt, gehandhabt, geliebkost, gelobpreist, gelustwandelt, gemaßregelt, geohrfeigt, gewehklagt, geweissagt, gewetteifert' usw.
Grund: Diese Verben sind nicht durch das Zusammenrücken zweier Wörter zustandegekommen wie etwa: 'teil-nehmen, heim-suchen', sondern es handelt sich hier um Verben, die von zusammengesetzten Substantiven abgeleitet sind: 'antwort-en, argwöhn-en, handhabe-n, liebkos-en, lobpreis-en, lustwandel-n, maßregel-n, ohrfeige-n, wehklage-n, weissage-n, wetteifer-n' usw. und nun wie einfache Verben behandelt werden."
eingetragen von Georg Zemanek am 18.10.2004 um 04.57
Entschuldigung, da habe ich mich zu knapp ausgedrückt. Ich stimme zunächst zu: Im Süden spricht man selten im Imperfekt und lernt diesen - oft auch noch die starken Verbformen - erst zur Schulzeit als Teil der Schriftsprache (kein Mensch schreibt phonetisch pur nach Gehör!). Dazu kommt dann noch das Verschleifen der Vorsilbe ge-. I bi g'sessn. I bi gongan. Nur in Osttirol hat der Dialekt die Eigenart, daß die Vorsilbe ge- tatsächlich gesprochen wird: I bi gesessn. I bi gegongen. Daran erkennt man die Osttiroler unverkennbar.
Was ich meinte, war jedoch folgendes: Wenn ich ein Partizip für ein Verb mit Prefix bilden soll, dann neige ich dazu, die Form mit dem eingeschobenen -ge- für runder zu halten: lobgepriesen, punktgeschweißt, notgelandet, maßgeregelt, wettgeeifert, wehgeklagt, und sogar handgehabt kommt mir runder vor als gehandhabt. Auf diese Bevorzugung der Positionierung des -ge- war meine Frage ausgerichtet. Diese Bevorzugung ersteckt sich natürlich auch auf zu: handzuhaben etc. Die Form zu handhaben wirkt gefühlsmäßig auf mich stark hochsprachlich - wie natürlich der Imperfekt auch ;-).
eingetragen von David am 17.10.2004 um 21.11
Herr Koch, Sie sagen es: Fachstudium und Fachdidaktik sind mitunter zwei vollkommen auseinanderdriftende Bereiche.
Zu den reformkritischen Professoren: Die gibt es, aber mir scheint, die meisten haben in den wenigsten Fällen etwas mit der Didaktik zu tun. Entweder deshalb, weil das einfach nicht ihr Metier ist und sie sich auch aus Eigeninitiative nicht damit beschäftigen würden, oder aber aus dem Grunde, weil sie einfach nicht in der Position sind, etwas im Rahmen der Didaktik zu verändern; da behindert dann bisweilen universitätsinterne Politik eine Einflußnahme.
Was die bloße Pädagogik angeht (beispielsweise im "erziehungswissenschaftlichen Begleitstudium" - an der Bonner Uni für Lehramtsstudenten Pflicht), so bleiben da die großen kritischen Stimmen leider aus. Gerade dort hätte man sie sich gewünscht.
Es stimmt, daß Ausländer die Grammatik meist besser beherrschen als Muttersprachler. Mir persönlich scheint auch, daß sich dieser Unterschied in den letzten Jahren zusehends deutlicher herausgehoben hat. Ich habe den Eindruck (wenn ich z.B. durch Nachhilfeschüler einen Einblick in den Schulalltag bekomme, natürlich so immer nur durch ein kleines Fenster), daß deutsche Grammatik eine immer kleinere Rolle in der Schule spielt.
eingetragen von Fritz Koch am 17.10.2004 um 20.01
wird in der süddeutschen mündlichen Umgangssprache selten verwendet, denn eine Verwechslung mit dem Imperfekt ist nicht möglich, weil dieses in der mündlichen Umgangssprache fast garnicht verwendet wird, denn es ist ein norddeutscher Import. (Das Imperfekt müssen süddeutsche Kinder in der Grundschule erst lernen, weil es in Aufsätzen verwendet werden muß.)
eingetragen von Fritz Koch am 17.10.2004 um 19.43
Mein Sohn hat vor 1 1/2 Jahren in Fankfurt/M bei Prof. Schlosser Staaatsexamen in Deutsch gemacht, ein mündliches Thema waren die Fehler der reformierten Rechtschreibung. Es gibt durchaus reformkritische Professoren. (Ich konnte dazu genügend Material bereitstellen. Während des Studiums hat sich er bei weitem nicht so gründlich mit Grammatik und Rechtschreibung befassen müssen, wie ich es in den letzten Jahren als Hobby getan habe.)
Im Referendariat wurden als erstes Nachmittagsseminare über die zu lehrende neue Rechtschreibung gehalten, und die unterrichtet er jetzt. Trotzdem findet er die alte Rechtschreibung viel besser und weist die Schüler ausdrücklich und mit Genuß auf die Macken der neuen hin, denn sie sollen kritisch denken lernen.
Da mein Sohn auch Englischlehrer ist, kann ich immer wieder feststellen, daß Schüler in den Fremdsprachen wesentlich gründlicher Grammatik und Rechtschreibung lernen als in der Muttersprache. Ausländer können einem Deutschen die deutsche Grammatik richtig gut erklären.
eingetragen von David am 17.10.2004 um 19.17
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Fritz Koch
... weil sonst der Gegensatz zwischen den Lehrninhalten der Uni und den Lehrplänen der Lehrer für immer als Stachel bestehen bliebe...
Dummerweise gibt es auch an Universitäten genügend Leute, die einfach nichts Widersprüchliches an der ganzen Sache finden. Frei nach dem Motto: Als Lehrer muß man eben gehorchen!
Wundert einen nicht, wenn man sich mal anhört, wie sehr die Zuständigen im Bereich der Fachdidaktik die ganze Reformpropaganda nachbeten...
Ich selbst bin an diese Felsen schon einmal geschlagen - und es haut einen förmlich um, so unfaßbar ist das alles.
Da fragt man sich einfach nur den ganzen Tag: Wie kann man nur so borniert sein...?
In vieler Hinsicht besteht das Studium eben nur noch aus möglichst vielen Scheinen, die man möglichst schnell vorweisen muß, um auch hinterher möglichst gut dazustehen. Ob man dann wirklich etwas gelernt hat, ist vollkommen uninteressant! Es wird auch nur noch höchst selten gefordert - und solche "Errungenschaften" wie Master- bzw. Bachelor-Studiengang tragen nicht gerade dazu bei, daß Bildung in diesem unserem Lande groß etwas zählt.
Quantität statt Qualität - das ist die Maxime der Zukunft. Denken stört nur beim Untertansein.
eingetragen von David am 17.10.2004 um 19.08
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Fritz Koch
Falls die neue Rechtschreibung nicht nur für Schulen, sondern auch für Hochschulen, also auch für Universitäten, verbindlich würde, müßten einige Standardwerke über die deutsche Wortbildung völlig umgeschrieben werden.
Also falls es so weit kommt, müßte mehr oder weniger die gesamte Germanistik abgeschafft bzw. wenigstens komplett unter staatliche Kontrolle gebracht werden; die historische Sprachwissenschaft wird dann kurzerhand abgeschafft (denn die tatsächliche Geschichte der deutschen Sprache wäre ja dann im wahrsten Sinne des Wortes politisch nicht mehr korrekt, und alles umzuschreiben kostete einfach zuviel - deshalb: schweigen wir es tot!), die Linguistik dürfte nur noch streng nach staatlichem Diktat arbeiten, und Literaturwissenschaft als solche würde direkt verboten, denn in ihrem Rahmen könnte man sich ja mit Unliebsamem beschäftigen.
Solch ein Szenario erinnerte dann stark an Zeiten, an die eigentlich niemand mehr erinnert werden möchte - aber vermutlich wäre genau das ja der Grund dafür, daß überhaupt niemand etwas Bedenkliches an diesen Zuständen fände.
Tja...
eingetragen von Georg Zemanek am 17.10.2004 um 17.33
lobgepriesen sei der Herr ... Gilt das jetzt als getrennt?
gelobpreist findet sich bei Gogel häufiger als gelobpriesen, aber nur die erste Form sieht für mich nach Bibel aus - und wo anders würde ich das Wort nur selten erwarten. Kann es sein, daß Süddeutsch eher zum eingeschobenen 'ge' tendiert als der Norden?
Rechtsprechen gehört noch in die Liste der Zusammenschreibungskandidaten mit allerdings ungewisser Schreibung in den getrennten Formen: Ich spreche recht, wenn ich die Grammatik-Regeln befolge, aber ich spreche Recht, wenn ich urteile? Gehe ich recht in der Annahme, daß ich recht habe?
eingetragen von Fritz Koch am 17.10.2004 um 11.14
Falls die neue Rechtschreibung nicht nur für Schulen, sondern auch für Hochschulen, also auch für Universitäten, verbindlich würde, müßten einige Standardwerke über die deutsche Wortbildung völlig umgeschrieben werden. Dabei genügte es nämlich nicht, lediglich die Bücher in neuer Rechtschreibung zu drucken, sondern es müßten auch die Inhalte völlig neu durchgesehen und geändert werden. Es ist zu befürchten, daß die Kultusminister das durchsetzen möchten, weil sonst der Gegensatz zwischen den Lehrninhalten der Uni und den Lehrplänen der Lehrer für immer als Stachel bestehen bliebe und an die wisenschaftlich richtige aber politisch verbotene Rechtschreibung erinnern würde.
– geändert durch Fritz Koch am 17.10.2004, 18.20 –
eingetragen von Fritz Koch am 17.10.2004 um 11.08
Ich glaube, daß 'rechthaben' auf dem Weg zu einem Kompositum ist. Bei unechten Verbzusammensetzungen aus Substantiv plus Verb gibt es immer das Problem, wie die finiten (zusammengesetzten) Formen geschrieben werden.
In Fleischer/Barz, Wortbildung steht dazu:
"Die substantivischen Erstglieder entsprechen syntaktisch der Beziehung zwischen Objekt oder adverbialer Bestimmung zum Prädikat des Satzes ('Dank sagen - danksagen, auf dem Seil tanzen - seiltanzen') und realisieren folglich zusammen mit dem Verb die zwischen diesen Satzgliedern möglichen semantischen Beziehungen, wie z.B. affiziertes Objekt ('haltmachen, kegelschieben, standhalten, schritthalten').
Zwischen den Komposita dieses Typs und entsprechenden Wortgruppen bestehen fließende Übergänge. Neben 'kopfstehen, radfahren' stehen 'Schlange stehen, Auto fahren, Bock springen, Gefahr laufen, Feuer fangen' als Wortgruppen. In wenigen Fällen läßt der (alte) Duden sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung zu: 'Dank sagen' oder 'danksagen', 'Gewähr leisten' oder 'gewährleisten'.
Die meisten Komposita sind trennbar ('er hält stand, schreibt Maschine') und in den finiten Formen auch gebräuchlich. Nur untrennbar verwendet werden 'hohnlächeln, lobpreisen'. 'Danksagen' ist sowohl trennbar als auch untrennbar, wobei die getrennten Formen aber auch auf die Wortgruppe bezogen werden können.
Wie sich zeigt, treten bei Distanzstellung Schwankungen in der Orthographie auf, und zwar in der Groß- und Kleinschreibung des Erstgliedes. Wenn dessen semantische Selbständigkeit noch deutlich erkennbar ist, wird Großschreibung bevorzugt, vgl. 'er schreibt Machine' gegenüber 'er hält stand'."
eingetragen von Fritz Koch am 17.10.2004 um 10.15
"Ich habe fertig."
Wenn ein Italiener fertig im Sinne von erledigt ist, sagt er nicht 'sono pronto', sondern 'ho finito'.
– geändert durch Fritz Koch am 17.10.2004, 18.08 –
eingetragen von Karin Pfeiffer-Stolz am 17.10.2004 um 10.03
Immer wieder hört man das Argument, „Recht“ haben sei richtig, weil zu „haben“ nun mal kein Adjektiv gesetzt werden könne.
Mir fiel in diesem Zusammenhang ein Beispiel aus dem Italienischen ein, das offensichtlich von der Konstruktion her unserem „recht haben“ verwandt ist: „avere freddo“.
Also: io ho freddo = mir ist kalt (ich „habe“ kalt)
Hat diese Konstruktion gemeinsame sprachhistorische Wurzeln mit unserem „recht haben“?
Das Hilfszeitwort „haben“ ist in „recht haben“ nicht gleichwertig mit dem Vollverb „besitzen“. Ich könnte das jedoch nicht näher erklären, und drücke mich jetzt auch reichlich laienhaft aus. Irgendwo muß aber hier die Begründung für das Problem „recht haben“ zu suchen sein. Wenn man sagt: „Ich habe das Recht, dies und das zu tun“, dann ist „haben“ austauschbar mit „besitzen“. Und daher schreiben wir in diesem Falle ja auch groß, weil wirklich das Substantiv „Recht“ gemeint ist und nicht das Adverb „recht“ (gerecht, richtig).
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Karin Pfeiffer-Stolz
eingetragen von Monika Chinwuba am 16.10.2004 um 13.17
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Stephan Fleischhauer
Man kann einen Weihnachtsmann herstellen und wieder einen herstellen. Man kann ihn immer wieder herstellen.
Manchmal muß man in die Praxis blicken.
Natürlich kann man _einen_ Weihnachtsmann herstellen und wieder (im Sinne von "erneut von gleicher Form/Art") _einen_ herstellen und noch einmal einen herstellen. Nun liegen 10 Weihnachtsmänner nebeneinander. Selbst wenn sie maschinell erstellt wurden, also mit dem gleichen Programm, sind sie nicht dasselbe. Bei dem von Ihnen gebrauchten 'wieder herstellen' geht es also um Herstellung verschiedener Stücke _gleicher Form/Art_. Die Betonung liegt auf dem wieder und eigentlich müßte das Wort 'erneut' oder 'noch einmal' gebraucht werden.
Zur praktischen Wiederherstellung:
Plötzlich fällt dem Bäcker ein Backblech aus der Hand, direkt mit der Kante auf die Beine der Weihnachsmänner. Nu sind se kaputt.
Da der Bäcker keine Lust hat, nochmal welche zu backen (wieder zu backen), will er sie reparieren, d. h. wiederherstellen. Das 'wieder' wird relativ kurz und flach gesprochen und die Silbe 'her' mit gehobener Stimme verdeutlicht - stellen ist schon unwichtig. Der Bäcker nimmt etwas klebrige Masse, klebt die Beine dran und hat die Weihnachtsmänner so wiederhergestellt.
Diese Wiederherstellung ist aber eine Fiktion. Zwar sind es dieselben Weihnachtsmänner, aber sie sind nicht 'das Gleiche'. Die Ausführung hat sich verändert, ihre Menge nicht.
Um es kurz und knapp zu machen: Sie reden bei Ihrer Formulierung "wieder, immer wieder herstellen" von Erhöhung der Zahl, die Zusammenschreibung "wiederherstellen" redet vom selben Gegenstand, der künftig gleich aussehen _soll_.
Insofern, Herr Koch, kann man Funktionen wiederherstellen (indem man das Störknöpfchen drückt), aber auch wieder (erneut, noch einmal) herstellen, indem man ein gleichartiges Programm schreibt.
Ich erinnere hier an den Beitrag von Herrn Koch vom 11.10. Rubrik "Meine Gedanken zur neuen Rechtschreibung":
"Konversion von Wortgruppen ist mit Univerbierung verbunden." Zu deutsch: Umwandlung von Wortgruppen in eine andere Wortart ist mit Zusammenschreibung verbunden.
Sie haben, Herr Fleischhauer, bei der Zusammenschreibung auch von Ergebnis und 'Resultativzusätzen" gesprochen.
Man könnte danach zur Zusammenschreibung also die These entwickeln:
eine Zusammenschreibung signalisiert ein Ergebnis und einen ergebnisleitenden Zusatz,
oder, wie von mir angedacht:
ein fiktives (gedachtes) Ergebnis wird durch Zusammenschreibung signalisiert.
Wir müssen also wirklich noch etwas nachdenken, so wir dem Geheimnis (Herr Lindenthal!) näher kommen wollen. Noch nicht im Ansatz angedacht ist die Frage von Herrn Zemanek, welche Verben überhaupt zusammenpassen.
David hat allerdings etwas sehr interessantes, und dummerweise eigentlich uns allen Bekanntes gesagt. Darauf werde ich noch einmal (wieder) zurückkommen.
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Monika Chinwuba
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 16.10.2004 um 09.13
Wenn man postuliert, daß alle Verbzusätze Resultativzusätze sind, kann man auch den "neuen Begriff" noch genauer einschränken. Man könnte erläutern, welcher Art dieser neue Begriff ist - und endlich hätten wir eine klare Handlungsanweisung in der GZS. krank schreiben sagt aus ein Schreiben und ein krank Sein. (Die Betonung von krank erklärt sich dadurch, daß krank ein Prädikativ und kein Adverb ist.) krankschreiben sagt aus ein Ergebnis krank und ein Schreiben, wobei dieses Schreiben jedoch stärker in den Hintergund tritt (semantisch verunklärt). Das Ergebnis krank muß natürlich interpretiert werden. Es muß nicht unbedingt heißen, daß durch das Schreiben jemand krank geworden ist. Es kann auch bedeuten, daß jemand nun, da geschrieben worden ist, als krank gilt.
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 16.10.2004 um 07.23
Man kann einen Weihnachtsmann herstellen und wieder einen herstellen. Man kann ihn immer wieder herstellen.
eingetragen von Fritz Koch am 15.10.2004 um 21.25
wohl aber Funktionen wie das Laufen eines Motors, eines Programms, einer Heizungsanlage, allgemein den Betrieb einer Einrichtung oder Anlage, die Gesundheit (das Funktionieren des Körpers). Ist das schon eine übertragene Bedeutung (eine Metapher)?
eingetragen von Monika Chinwuba am 15.10.2004 um 18.44
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Stephan Fleischhauer
Möglicherweise gibt es Auswege.
Zunächst gibt es die ontologische Herangehensweise vermittels des "neuen Begriffs". Das führt Herr Ickler im Kritischen Kommentar oft vor, wenn die Grammatik nicht weiterhilft (etwa so: "es geht bei wiederherstellen um ein Wiederherstellen, nicht um ein wieder Herstellen").
Auch hier ist bei "wiederherstellen" eine Fiktion aktiv. Man kann nämlich garnichts überhaupt nichts wieder Herstellen. Einmal kaputt immer kaputt. Man kann nur etwas Bestimmtes erneut in gleicher Art und Weise herstellen. Doch das ist nicht das Original. Zumindest die Schreibung scheint das zu unterscheiden. (Sie unterscheidet noch viel mehr, und das ist eine große Denkhilfe).
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Monika Chinwuba
eingetragen von Monika Chinwuba am 15.10.2004 um 18.12
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Stephan Fleischhauer
Vielleicht ist danebensitzen semantisch etwas ganz anderes als daneben sitzen (letzteres mit Betonung auf dem Adverb!). Wenn ich "danebensitze", heißt daß in etwa: "ich mache daß ich daneben bin" - "daneben" wäre geradezu als Resultativzusatz zu erstehen.
Ich habe eine Menge aus diesem Diskussionsfaden gelernt. Es erscheint mir dennoch schwierig, das Thema allein über die bisherigen Grammatikkenntnisse zu erschließen. Ich denke, daß wir auch in der Sprache die Ebene der Verdinglichung und die Ebene der Erscheinung berücksichtigen. Dies sollte in der Verschriftung Widerhall finden.
Den Begriff "da (Ort) neben (Richtung) sitzen (tätig sein)", also "daneben sitzen" würde ich wie folgt formulieren: "Du sitzt in der ersten Reihe Platz 8. Ich werde daneben sitzen."
Den Begriff "danebensitzen" würde ich wie folgt gebrauchen: "Bleibe bei Deiner Kernkompetenz. Sonst wirst Du ganz schnell danebensitzen." Ich steigere damit die Komponenten Ort/Richtung/tätig sein in die Fiktion.
Fiktionen werden bereits seit Jahrhunderten mit der Nachsilbe -lich angedeutet, z. B. kindlich, jungfräulich. Damit sagt man, "es sieht so aus", man ist sich aber nicht sicher, ob die Person wirklich ein Kind oder eine Jungfrau ist (sie verhält sich nur so). Gleiches gilt für örtlich. Bestandteil ist stets ein Hauptwort, dessen Bedeutung geändert wird.
Bei infiniten Verben haben sich solche Fiktionen nicht herausgebildet. Es gibt kein sitzlich, sehlich, kochlich. Um diese Tätigkeiten nun doch in die Fiktion zu heben, könnte der Gebrauch der Zusammenschreibung entstanden sein. (Der Duden hat wohl, ich müßte das allerdings prüfen, wie auch Übersetzungsbücher den Unterschied zwischen dem neuen Fiktioncharakter und dem alten gegenständlichen Charakter rein lexikalisch gelöst).
Ist das eine Idee zur semantischen Einordnung? Ihr steht der Grundsatz vom Unterschied zwischen dem Land und der Landkarte nahe.
Zur Bedeutung und Verschriftung von Betonung vielleicht noch folgendes: Es gibt ja Sprachen, in den Vokale durch Tonhöhen dem Wort Bedeutung geben (so habe ich es wenigstens verstanden. Wahrscheinlich waren auch Lautänderungen dabei - aber das konnte ich alles weder hören noch begreifen). Awka z. B. kann viele Bedeutungen haben. Es kommt darauf an, wie man die beiden Vokale ausspricht. Die Wortbedeutung wird durch Unter- und Oberstriche sowie Punkte über und unter dem jeweiligen Vokal verschriftet. Interessant dabei ist, daß meist nur kurze Worte (maximal 4-lautig) mit einem Vokalen und einem Kehlkopflaut + einem Kehlkopflaut und einem Vokal diese Tonhöhen einsetzen. Kann es nicht sein, daß unsere Betonung noch ein Relikt aus einer Sprachvergangenheit ist, in der man die Tonhöhe zur Variation der Bedeutung gebrauchte? Wäre die Betonung bei unserer reiferen Sprache dann für die Zusammen- oder Getrenntschreibung noch überlegenswert
fragt
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Monika Chinwuba
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 15.10.2004 um 16.57
Mir fällt gerade etwas ein. Vielleicht ist danebensitzen semantisch etwas ganz anderes als daneben sitzen (letzteres mit Betonung auf dem Adverb!). Wenn ich "danebensitze", heißt daß in etwa: "ich mache daß ich daneben bin" - "daneben" wäre geradezu als Resultativzusatz zu erstehen. "danebenknien" wäre in etwa dasselbe (Gruß an D.L.). danebensitzen und danebenknien wären dichter beieinander als daneben sitzen und daneben knien. Das würde auch eine "punktuelle" Bedeutung nahelegen. Das Verb wäre dann in den zusammengeschriebenen Formen fast unwichtig geworden. Könnte sich wohlfühlen auch so eine resultative Komponente haben: "sich wohl machen"??
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 15.10.2004 um 13.26
Ich versuche einmal, die Besonderheiten der Zusammenschreibung bestimmter, meist phraseologischer Elemente mit Verben möglichst umfassend darzustellen. Ich hatte schon angeregt, der Vorstellung des "neuen Begriffs" mehr Beachtung zu schenken. Das Problem ist wohl, daß man mit rein grammatischen Methoden immer wieder in eine Sackgasse gerät. Vielleicht läßt sich die Situation aber retten, wenn man einige Differenzierungen des Begriffs "Verbzusatz" unternimmt. Deshalb folgt eine Aufstellung der verschiedenen Kategorien.
1. "Grammatische" Verbzusätze
a) mit Präpositionen gleichlautend (z.B. ab), ferner einige andere Partikeln (z.B. weg)
b) einige Richtungszusätze wie (hinauf)
Diese Bestandteile verlangen eine enge Anbindung ans Verb (wenige Ausnahmen: das Licht ist an). Das Betonungskriterium (Ickler § 8) ist bei den "grammatischen" Verbzusätzen nicht zuverlässig. Das ist aber auch nicht nötig.
2. "Eindrucksvolle" Verbzusätze
(Benannt nach der Erich Drachschen "Eindrucksstelle".)
Hier gilt das Betonungskriterium: Wenn diese Satzelemente vor einem infiniten Verb stehen, bekommen sie beim neutralem, "unvoreingenommenem" Lesen das größte Gewicht. Vor allem sind Orts-, Richtungs- und Resultativzusätze zu nennen, es gibt aber auch andere (s.u.). Oft gibt es gleichlautende, doch anders betonte adverbiale Konstruktionen. Beispiele wieder_holen, zusammen_arbeiten. Das Problem: Es gibt eine ganze Menge verschiedener Satzelemente, die das Betonungs-(und auch das Nichtunterbrechbarkeits-)Kriterium erfüllen, die aber dennoch nicht als Verbzusätze gelten (z.B. nett sein, Trecker fahren, gut finden). Viele verbale Konstruktionen haben eine rein prädikative Funktion: ich fühle mich gesund; dadurch gibt es Interferenzen mit den ebenso prädikativ fungierenden Verbzusätzen: ich fühle mich wohl. (Man muß sich auch fragen, inwieweit hier Adhoc-Bildungen möglich sind. gutfinden?) Ebenso schwierig: Ortszusätze wie dahinter_stehen. Zum Teil läßt sich nur noch anhand der Orthographie ermitteln, was überhaupt als Verbzusatz in Betracht kommt (ich färbe blau - was liegt vor? blaufärben? blau färben? - bist du noch beisammen - beisammensein? beisammen sein?). Insofern stellt sich auch nicht die Frage, ob es neben den obligatorisch und den fakultativ zusammenzuschreibenden Zusätzen auch noch eine Gruppe der obligatorisch getrennt zu schreibenden gibt. Was nicht zusammengeschrieben werden kann, ist eben kein Verbzusatz. Man könnte von "orthographischen" Verbzusätzen reden. Das muß man sich einmal klar machen, wenn es um die "Grammatik der Verbzusätze" geht. Bei jeder erdenklichen Kombination von Verb+Verb und bei vielen Fügungen mit einem Substantiv gelten das Betonungs- und das Nichtunterbrechbarkeitskriterium. Nur einzelne Fügungen sind jedoch "legitimierte" Verbzusätze.
Möglicherweise gibt es Auswege.
Zunächst gibt es die ontologische Herangehensweise vermittels des "neuen Begriffs". Das führt Herr Ickler im Kritischen Kommentar oft vor, wenn die Grammatik nicht weiterhilft (etwa so: "es geht bei wiederherstellen um ein Wiederherstellen, nicht um ein wieder Herstellen"). Vielleicht kann man auch verallgemeinert sagen, daß die Verbzusatzkonstruktion immer eine etwas "punktuellere" Aussage macht als die "freie" Fügung - so wurde ja auch die Zusammenschreibung bei den Verben bleiben und lassen begründet.
Etwas anderes scheint mir aber noch der Erwähnung wert.
Herr Ickler kommentiert in seinem Schildbürgerbuch ein Diktat B. Schaeders, das die Unlernbarkeit der bisherigen Rechtschreibung "aufdecken" sollte. Es kommt auch das vermeintlich obligatorisch zusammenzuschreibende radfahren vor, und Herr Ickler fragt sich, wie es Herr Schaeder beim Diktieren wohl ausgesprochen habe. Aber wenn Aussprache eine Rolle spielt, kann man dann überhaupt noch von "Gewohnheitszusammenschreibungen" sprechen? Man müßte einmal ein Mikrophon klammheimlich dort unterbringen, wo Menschen gezwungen sind, sehr deutlich zu sprechen. Oder man diktiert ihnen "hinein...springen", "lahm....legen" und schaut, was sie daraus machen. (Früher schrieb man sowas übrigens getrennt. Vielleicht sprach man es auch anders.) Was mir jedoch völlig unmöglich scheint: "teil...nehmen", "zusammen...arbeiten" (im Sinne von zusammenarbeiten). Könnte das ein Kriterium sein?
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 14.10.2004 um 19.35
Mit Satzaussage meine ich das wichtigste Satzelement, auf das sich die Aussage reduzieren läßt. Das ist rein sprachlich zu verstehen: In dem Satz die Welt geht kurz nach der Tagesschau unter ist (sprachlich gesehen) die Tagesschau wichtiger als der Weltuntergang.
Es ist aufwendig, das ganze Thema der Satzbetonungen darzustellen. Man müßte herausarbeiten, daß auf den Verbzusätzen nicht irgendeine, sondern die wichtigste Betonung des Satzes liegt. Ich gehe davon aus, daß Verbzusätze ganz klar und eindeutig bestimmbar sind. Ich möchte aber noch keine Formulierung vorschlagen.
Es gibt einige Schwierigkeiten; sie betreffen auch Icklers Betonungskriterium. Z.B. sind Verbzusätze, die mit Präpositionen gleichlauten, der Satzaussage oft untergeordnet und deshalb nicht betont: du mußt heute die Teller abwaschen. Bei adverbialen Verbzusätzen ist das schon seltener: du mußt den Müll hinausbringen. Aber, auf dem Verbzusatz betont: du mußt den Schüler hinauswerfen. Angenommen, das vorletzte Beispiel wäre gar keine Verbzusatzkonstruktion, dann würde die Satzaussage auf das infinite Verb fallen: du mußt den Müll dabei trennen. Das fragliche Gebilde isoliert zu betrachten, halte ich nicht für eine gute Idee (nur hinausbringen statt Müll hinausbringen).
eingetragen von Georg Zemanek am 14.10.2004 um 11.10
Lieber Herr Fleischhauer,
bitte helfen Sie mir mit dem Begriff "Satzaussage".
In Ich lese den Text jetzt vor ist lese ... vor das Verb oder in alter Grammatik das Prädikat. In ich lese den Text jetzt vor ist den Text immer noch Objekt des Lesens. In Jetzt lese ich den Text vor ist jetzt nach wie vor Adverb (Wie lese ich?), aber es ist betont und deswegen heißt die Aussage: Ich lese jetzt, nicht etwa später.
Ist Satzaussage das, worum es in dem Satz gehen soll? Das ist aber doch Ergebnis einer sematischen Analyse, kann doch von der Grammatik nicht abgedeckt werden.
Bitte prüfen Sie sorgfältig, ob wir die gleichen Begriffe verwenden.
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 14.10.2004 um 09.58
Lieber Herr Zemanek,
das Beispiel breche auf überzeugt mich nicht. Hier geht es gar nicht um verschiedene Bindungsgrade zwischen de Verb und dem Zusatz. Dagegen hat die Bedeutungsbreite von schnell tatsächlich etwas mit der Verbundenheit zu tun. Der Betonungsunterschied bei den verschiedenen Deutungen von schnell schreiben spricht doch Bände. Man kann das ganze noch anders darstellen: Das betonte schnell gehört zum Kern der Satzaussage, liegt dehalb so weit wie möglich rechts im Satz (wo normalerweise betont wird). Das ist auch das Prinzip, das der Nichtunterbrechbarkeitsregel zugrunde liegt. Außerhalb des Aussagekerns hat schnell eine andere Bedeutung.
Man kann vielleicht wirklich sagen, daß es gewisse Mängel oder Lücken der deutschen Sprache gibt. Zum Kern der Satzaussage können eben nur Textgegenstände oder Prädikative gehören, keine Attribute. Adverbien sind problematisch, wegen der verschiedenen Betonungsmöglichkeiten ( ich will es auch; ich will es auch). Will man etwas anderes zum Kern machen, muß man z.B. Substantivieren. Adjektive und Adverbien können vermittels Verbzusatzkonstruktionen zu Prädikativen werden und so die Satzaussage bilden.
Bei ich jetzt lese den bereits bekannten Text vor ist vor die Satzaussage. Bei ich lese jetzt einen Text vor ist es einen Text. Wie mache ich jetzt zur Satzaussage? Vielleicht durch Substantivierung (das Jetzige des Vorlesens), durch prädikative Konstruktion (daß ich den Text vorlese, ist jetzt) oder VZ-Konstruktion (jetztlesen) - die Frage stellt sich wohl nicht, weil niemand es zur Satzaussage machen will. Natürlich gibt es immer noch die Möglichkeit, die Normalbetonung zu verletzen (ich lese den Text jetzt vor) Oder so formulieren, daß eine andere Deutung nicht in Betracht kommt (das lesen wir auch jetzt, nicht sehr eindeutig wäre aber das können wir auch jetzt lesen).
Sie schreiben: "Vorsilbe + Verb ist für mich ein neues Wort. Oder sollte dies vom Unterschied zwischen umfahren (ich umfahre das Hindernis) und umfahren (ich fahre das Hindernis um) kommen?"
Richtig, genau das ist der Unterschied. Im zweiten Beispiel spricht man deshalb auch nicht von Vorsilbe.
eingetragen von Fritz Koch am 14.10.2004 um 09.06
Es ist eine Besonderheit der deutschen Sprache, daß viele Wörter zwei recht verschiedene Bedeutungen haben, z.B. schnell = 1.) in kurzer Zeit, 2.) sofort; aufbrechen = 1.) gewaltsam öffnen, 2.) weggehen; und noch viele andere.
Dadurch kommt die deutsche Sprache mit viel weniger Wörtern aus als Sprachen, die dafür jeweils eigene Wörter haben. Deswegen kann man vom Deutschen in solche Sprachen nicht einfach wörtlich übersetzen, sondern muß in der Zielsprache die richtige Wortwahl treffen. Bei 'aufbrechen' hilft aber, wie auch bei anderen solchen Wörtern, daß 'aufbrechen = öffnen' transitiv ist (ein Akkusativobjekt verlangt) und 'aufbrechen = weggehen' intransitiv ist (kein Objekt verlangt).
eingetragen von Georg Zemanek am 14.10.2004 um 08.35
Lieber Herr Fleischhauer,
recht herzlichen Dank, das erläutert mir nun tatsächlich eine Menge. Offenbar muß ich meine veralteten(?) Ansätze, in einem Satz zuerst Subjekt, Prädikat und Objekte zu suchen und dann so etwas wie einen „Grammatikbaum“ aufzustellen, aufgeben.
Wenn Sie schreiben, daß eine Verteilung der einzelnen Elemente einer solchen Fügung auf verschiedene Satzfelder solche Bindungen unmöglich machen kann, dann meinen Sie offenbar, daß eine ungünstige Satzstellung beim Leser/Zuhörer die gewünschte Bindung nicht nahelegt: Ich will schnellschreiben ausdrücken, sage aber „Du solltest den Brief schnell schreiben“ und darf dann eben nicht damit rechnen, daß nun klar ist, ob die Fertigstellung baldmöglichst erfolgen soll oder die Schreibgeschwindigkeit hoch sein soll. Die schwebende Bedeutung entsteht m. E. aus der Bedeutungsbreite des Wortes schnell, nicht aus irgend einer syntaktischen Entfernung.
Noch deutlicher ist es im Fall „Ich breche auf.“ Wenn ich das zu meinem Kumpel sage, nachdem zwei sanfte Versuche erfolglos geblieben sind, um ihm nun mitzuteilen, daß ich gleich Gewalt auf die Schatulle anwenden werde, dann wird der sicher nicht meinen, daß ich jetzt den Tatort zu verlassen beginne.
Ist es ein Mangel, daß die grammatikalische Zuordnung beim Lesen und Verstehen eines Satzes nicht eindeutig und zweifelsfrei erfolgen kann? Ich finde, es gehört zu den faszinierendsten Eigenschaften der natürliche Sprache, daß sie zur Kommunikation taugt, obwohl ihre grammatikalische Struktur alles andere als eindeutig ist. Keine Programmiersprache kann sich den Luxus solcher schwebender Konstruktionen leisten, der Computer braucht zweifelsfreie Anweisungen. Aber die natürliche Sprache bezieht oft gerade aus diesen Unbestimmtheiten Witz und Komik. Kabarett und Comedy wären ohne schwebende Formulierungen, die erst im Folgesatz urplötzlich in das vom Zuhörer zunächst unerwartete Gegenteil gekippt werden, unendlich ärmer.
“Wir sollen zusammenarbeiten?“ „I wo, ich arbeite in meinem eigenen Büro!“ usw. Ich bin jetzt nicht der Comedy-Autor, aber es sollte klar sein, was ich meine.
Zusammenschreibung ist m.E. dort, wo sie stattfindet, durch Wortbildung begründet, nicht durch Grammatik. Deshalb verstehe ich auch nicht, daß man Verbzusatz + Verb als Wortgruppe auffaßt, die zusammengeschrieben wird. Vorsilbe + Verb ist für mich ein neues Wort. Oder sollte dies vom Unterschied zwischen umfahren (ich umfahre das Hindernis) und umfahren (ich fahre das Hindernis um) kommen? Ersteres als Vorsilbe (in allen Konjugationsformen ungetrennt: ich umfahre, zu umfahren, habe umfahren), letzteres als Verbzusatz (in manchen Konjugationsformen getrennt: ich fahre um, umzufahren, habe umgefahren).
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 13.10.2004 um 19.56
Das finite Verb der Beispiele ist immer hat. Finites Verb bedeutet flektiertes Verb (in diesem Fall 3. Pers. Sing.). Bei Getrunken hat er Bier wie ein Loch steht getrunken im Vorfeld, er Bier wie ein Loch im Mittelfeld, Schluß- und Nachfeld sind überhaupt nicht besetzt. Das Vorfeld und die "Zweitstelle" (finites Verb) sind in allen Beispielen immer besetzt, die anderen Felder nicht unbedingt. Die Reihenfolge Vorfeld - "Zweitstelle" (oder "linke Klammer", wenn die "rechte" besetzt ist - auf der Zweitstelle sitzt immer das finite Verb) - Mittelfeld - "rechte Klammer" - Nachfeld ist unantastbar.
Diesen Satzbauplan habe ich nur vorgeführt, weil man um die Begrifflichkeit nicht herumkommt. Die Begriffe sind auch schon in anderen Diskussionen gefallen. Von der "Satzklammer" ist besonders häufig die Rede.
Mir ging es eigentlich um etwas ganz anderes. Noch einmal thesenartig:
Die Zusammenschreibung von Verbzusätzen ist keine reine "Gewohnheitszusammenschreibung". Sie tritt dann ein, wenn ein "neuer Begriff" entsteht.
Man muß unterscheiden zwischen zusammen (an einer Sache) arbeiten, zusammen arbeiten (phraseologisch, verbzusatzartig) und zusammenarbeiten ("neuer Begriff" mit "Zusammensetzungscharakter"). Letzteres gibt es nur in Kontaktstellung. Keines dieser Gebilde ist jedoch eine echte Zusammensetzung.
Auch bei Fügungen, die nicht einmal phraseologischen Charakter haben (schnell schreiben), kann man unterschiedliche Grade der Bindung festellen. Ich vermute, daß eine Verteilung der einzelnen Elemente einer solchen Fügung auf verschiedene Satzfelder solche Bindungen unmöglich machen kann. Diese Vermutung übertrage ich auch auf die sogenannten Verbzusatzkonstruktionen.
Wir haben naturgemäß Schwierigkeiten, die Intuition zur Zusammenschreibung der VZ-Fügungen auf grammatische Weise zu erklären. Man kann zwar grammatische Erklärungen finden, aber sie führen nicht "zwangsläufig" zu einer Zusammen- bzw. Getrenntschreibung. Der "neue Begriff" ist zwar nicht operationalisierbar - genauso wenig wie der "Textgegenstand" -, aber man kann alle Zweifelsfälle auf die gleiche Weise erklären. Es ist ja auch sicher so, daß die Sprache nicht von sich aus Zweifelsfälle "produziert", sondern daß sie durch die Differenziertheit des Außersprachlichen entstehen. (Bestes Beispiel: krank_schreiben.)
eingetragen von Fritz Koch am 13.10.2004 um 16.46
Ernst Leisi, Das heutige Englisch:
der Bauer schlug das Pferd - the farmer kicked the horse
das Pferd schlug der Bauer (Hervorhebung) - the horse kicked the farmer
der Bauer das Pferd schlug (nach 'als') - the farmer the horse kicked (Relativsatz)
das Pferd der Bauer schlug (poetisch) - the horse the farmer kicked (Relativsatz)
eingetragen von Georg Zemanek am 13.10.2004 um 16.17
Hallo, ich begrüße den Ansatz und werde ihn weiterverfolgen. Vielleicht sind zwei Fragen erlaubt?
1. Muß ich für jede denkbare Reighenfolge des Beispielsatzes die Zuordnung separat vornehmen?
Er hat Bier getrunken wie ein Loch.
Bier hat er getrunken wie ein Loch
fin. Verb: hat, v.Schl.: getrunken
Getrunken hat er Bier wie ein Loch.
Wie ein Loch getrunken hat er Bier
fin. Verb: Getrunken, v. Schl.: hat
Wie ein Loch hat er Bier getrunken.
fin. Verb: hat, v. Schl.: getrunken
Oder gibt es eine "kanonische" Reihenfolge? Das sieht ja fast so aus, als würde sich durch pures Umstellen die Satzstruktur ändern?
2. Wieso ist Betonung so oft ausschlaggebend? Betonung halte ich für ein oftmals irreführendes Kriterium.
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 13.10.2004 um 16.12
Das Beispiel auf geht die Sonne ... stammt aus Icklers Wörterbuch. Mich hat die Frage interessiert, ob Verbzusätze nach dem Auseinanderreißen noch Verbzusätze sind. Die Vorfeldstellung schien mir besonders aufschlußreich.
eingetragen von Reinhard Markner am 13.10.2004 um 15.28
Es wäre zu überlegen, wann die Distanzstellung stilistisch markiert, nämlich inferior ist.
Analog zu William Safires Ratschlag "Try to not ever split infinitives" könnte man vielleicht sagen : "Auseinander sollte man Verbzusätze und Verben nicht bedenkenlos reißen."
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 13.10.2004 um 14.23
Zunächst eine Begriffsklärung. Der deutsche Satzbau folgt einem Grundschema: Vorfeld - finites Verb - Mittelfeld - verbales Schlußfeld - Nachfeld. Beispiel: Er hat Bier getrunken wie ein Loch. Das Nachfeld ist hier mit einer Wortgruppe besetzt (wie ein Loch), die anderen Stellen mit jeweils einem Wort. An der zweiten Stelle steht immer nur ein einziges Wort, im Aussagesatz das finite Verb. Nicht alle Felder müssen besetzt werden, im "normalen" Aussagesatz sind aber mindestens die ersten beiden Stellen besetzt - z.B. Er trinkt. Im Nachfeld stehen oft Nebensätze, es spielt deshalb eine weniger bedeutende Rolle. Ich bin mir nicht sicher, ob Infinitivsätze, die vom verbalen Schlußfeld abhängen (Er möchte aufhören zu trinken.), im Nachfeld oder im verbalen Schlußfeld selbst stehen. Den Verbzusatz auf interpretiere ich als Bestandteil des verbalen Schlußfeldes, nicht des Mittelfeldes - er kann also allein im verbalen Schlußfeld stehen (Er hört auf zu trinken). Finites Verb und verbales Schlußfeld bilden zusammen die Satzklammer. (In Nebensätzen "vertritt" ein Pronomen oder eine Konjunktion das finite Verb.) Man spricht auch von linker und rechter Satzklammer. Z.T. werde ich auf die Begriffe zurückkommen, deshalb die lange Einleitung.
Nach Erich Drach befindet sich am Ende des Mittelfeldes oder auf der rechten Satzklammer die "Eindrucksstelle". Das ist eine Starkbetonung, auf der sozusagen der Sinn des Satzes konzentriert ist (er liest ein Gedicht vor, er sieht für heute schwarz, er fängt einen Fisch).
Es mag nun vorkommen, daß man, um ganz bestimmte Satzglieder hervorzuheben, weil sie den Sinn des Satzes ausmachen, den Satzbau entsprechend ändert. Das betonte Satzglied muß möglichst weit ans Ende des Mittelfeldes bzw. in die rechte Satzklammer. Störendes muß eventuell ins Vorfeld. Das Vorfeld selbst kann ein Betonungsgegengewicht bilden.
Beispiel: Berühmt ist er durch Fingerhäkeln geworden. Vielleicht geht es auch gar nicht so sehr um die Betonung des Fingerhakelns, sondern um den Satzanschluß über das Wort berühmt, welches im vorausgehenden Satz bereits gefallen sein mag. Mich interessiert diese Frage hier nicht. Wichtig ist mir: Was alles kann überhaupt ins Vorfeld "verfrachtet" werden?
Grundsätzlich gilt, daß im Vorfeld nur ein Satzglied stehen kann (auch Konstituente genannt). Herr Ickler erläutert in seinem Kritischen Kommentar (2.Aufl., S.69) folgendes Beispiel: Durch den Spalt hindurch sickerte Wasser. Herr Ickler schreibt, daß es sich nicht um das Verbzusatzkonstruktion hindurchsickern handeln könne, da das Vorfeld sonst durch Verbzusatz (hindurch) und Präpositionalphrase (durch den Spalt) doppelt besetzt wäre. Es liege ein Adverbial durch den Spalt hindurch vor. Ich füge hinzu: Wenn hindurch nur Teil eines Adverbials ist, wird es nicht betont - also nicht: Durch den Spalt hindurch sickerte Wasser.
Partikelverben können auch als ganzes im Vorfeld stehen (hinzukommen muß, daß ...); daraus folgere ich, daß die Partikel mit dem Verb zusammen eine Konstituente bildet. Das gilt auch für Phraseologismen: in Aussicht gestellt wurde ein Stipentium in Rom; groß geworden ist er im Ruhgebiet - möglich ist vielleicht auch: mit zur Gießerei würde er ihn nur im Falle einer Aufwandsentschädigung nehmen; mitgehen lassen habe ich nur das erste der beiden Bücher.
Nun aber ein Einwand.
Eine Konstituente läßt sich nicht ohne weiteres auf zwei Felder des Satzbauschemas "verteilen". Bei dem Satz schnell habe ich einen Brief geschrieben würde man das Wort schnell im Sinne von "sofort" interpretieren. ich habe den Brief schnell geschrieben kann aber heißen "sofort geschrieben" oder "mit hoher Geschwindigkeit geschrieben". Das gleiche gilt für schnell geschrieben habe ich nur den ersten der beiden Briefe. Man wird im letzten und vorletzten Satz die Interpretation "mit hoher Geschwindigkeit" vorziehen. Das heißt: schnell hat in der verbindung schnell geschrieben einen anderen Status als in schnell habe ich geschrieben. Ich frage mich deshalb, ob die Vorfelder in hinzu kommt, daß ... oder auf geht die Sonne um ... tatsächlich von Verbzusätzen besetzt sind. Die phraseologische Verbindung scheint mir "geknackt". (Übrigens halte ich auf geht die Sonne für stilistisch markiert. "Enge" Verbzusätze wie auf lassen sich wahrscheinlich nicht so leicht ins Vorfeld legen.) Noch etwas: Ich bin der Meinung, daß die beiden Kriterien der Betonung und der Nichtunterbrechbarkeit bloß Kriterien für phraseologische Verbindung sind. schnell in der Bedeutung "sofort" ist unterbrechbar, schnell im Sinne von "mit großer Geschwindigkeit" ist nicht unterbrechbar. Betone ich: er wird den Brief schnell schreiben, sage ich: "er wird ihn sofort schreiben", betone ich aber: er wird den Brief schnell schreiben, sage ich: "er wird ihn mit hoher Geschwindigkeit schreiben". schnell ist natürlich in keinem der Fälle Verbzusatz.
Das eigentliche Phänomen Verbzusatz und die Intuition, Verbzusätze zusammenzuschreiben, lassen sich grammatisch schwer fassen. Wie wir bereits von Herrn Ickler aufgeklärt wurden, werden im Deutschen von rechts nach links die Satzaussagen immer weiter eingegrenzt. Man könnte nun meinen, daß besonders die Aussagen, die am weitesten eingrenzen, diejenigen also, die weit links stehen, am stärksten betont werden. Das ist aber nicht so. Wir sagen das größte Ereignis. Liegen die Bestandteile weit genung auseinander, kann es eine Gegenbetonung geben: der graue Papagei. Wahrscheinlich entstehen Zusammensetzungen, wenn das näher bestimmende Element "determinierend" wird. Z.B. in der Art eines Kontrastakzents: der graue (!!!) Papagei. In der Zusammensetzung Graupapagei ist grau determinierend. Es gibt andere Fälle, erkennbar an der Betonung: Fünfmarkstück, Welthungerhilfe, Riesenschweinerei, Kohlenwasserstoff, Donaudampfschiffahrt, Königinmutter, Wiederaufrichtung, haarscharf, hochnotpeinlich, übernachten, durchdenken usw. Die Erstglieder haben sicher eine näher bestimmende, doch nicht determinierende Funktion. Vielleicht sind sie dadurch "lockerer" angeschlossen.
Interessanterweise können die Betonungen auch schwanken: zwei engbefreundete Frauen, die doch nur eng befreundet sind. Man kann sagen, es handele sich semantisch um das gleiche, genau wie bei wiederherstellen und stellen ... wieder her. Wenn man im ersten Fall Frauen als "Grundwort" betrachtet, stellt sich eine gewisse Analogie zu dem verbalen Gebilde ein. Vielleicht gibt es einen Grundsatz, daß die linksseitige Häufung von näher bestimmenden Elementen durch "Zusammensetzung" abgemildert wird.
Wie auch immer. Ich meine, daß die Zusammenschreibung von Verbzusätzen nur durch ihren "determinierenden" Charakter erklärt werden kann. Das starke Betonungsgefälle und die Nichtunterbrechbarkeit sind deshalb stärker ausgeprägt als bei den reinen Phraseologismen. Das kann nicht verwundern. Aber es ist ein gradueller Unterschied, vergleibar mit ein grauer (!!!) Papagei und Graupapagei. Das Verrückte ist, daß dieser Status der Verbzusätze verschwindet, wenn sie sich nicht in Kontaktstellung zum Verb befinden. Die Rede vom "neuen Begriff" erscheint mir dennoch am treffendsten.
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 07.10.2004 um 11.48
Zitat:Defektiv hat natürlich nicht nur eine Bedeutung, aber verallgemeinert kann man vielleicht sagen, daß ein defektives Wort nicht in allen (eigentlich) zu erwartenden Formen, Stellungen usw. vorkommt: bruchrechnen also nur im zweiten Teil der Satzklammer, leid nur in leider oder leid tun, leid sein, leid haben.
Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
Hat eigentlich defektiv nur genau eine fachliche Bedeutung? [...] Beispiele: Zum anderen unterscheiden sich trennbare Verben bezüglich ihres Formenbestandes, denn viele Bildungen sind defektiv, vgl. * wir rechnen Bruch, * wir bruchrechnen gegenüber wenn wir in der Schule bruchrechnen. Im 3. Kommissionsbericht findet sich die Aussage (S. 69): Bei Auffassung von leid als defektives Adjektiv ergibt sich die Schreibung leidtun; man schreibt dann in Analogie zu kundtun zusammen. Wie paßt das zusammen?
– geändert durch Stephan Fleischhauer am 07.10.2004, 20.01 –
eingetragen von Fritz Koch am 07.10.2004 um 11.18
Defektive Verben sind nicht in allen finiten Formen vorhanden: bergsteigen: ungebräuchlich: ich bergsteige oder ich steige berg.
Das angeblich defektive Adjektiv in leidtun und kundtun ist einfach ein aus dem Adjektiv gebildetes Adverb.
Daß aus Adjektiven gebildete Adverbien defektive Adjektive seien, habe ich nirgends gefunden.
eingetragen von J.-M. Wagner am 05.10.2004 um 02.02
Zitat:Hier gibt es etwas zum Wörterbuch (sind die Angaben noch aktuell?) sowie die Anleitung zum rechten Schreiben und die Hauptregeln der deutschen Orthographie.
Ursprünglich eingetragen von Karsten Bolz
Schauen Sie einmal in sein Rechtschreibwörterbuch. Darin gibt es eine "Kurze Anleitung zum rechten Schreiben". Das ist genau das, was Sie suchen, denke ich. Soweit ich weiß, steht diese Anleitung auch hier irgendwo, ich finde es auf die Schnelle aber nicht. Weiß es jemand aus der Runde?
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Georg Zemanek am 30.09.2004 um 11.40
Der hauptwörtliche oder substantivische Gebrauch beliebiger Wörter führt zu deren Großschreibung. Es ist doch keineswegs so, daß aus einem Wort immer zuerst ein Substantiv gemacht werden muß, damit dieses dann groß geschrieben wird?
Das Großschreiben ist nicht immer, wie im hier vorliegenden Fall, die Folge der Verwendung eines Wortes an der Stelle eines Substantivs, also des groß Schreibens. Das kann gar nicht der Fall sein, weil sonst das Großschreiben die große Bedeutung der Folge der Verwendung eines Wortes an der Stelle eines Substantivs nach sich zöge. Dinge, die großgeschrieben werden, werden zwar ihrer großen Bedeutung wegen großgeschrieben, müssen aber nicht immer groß geschrieben werden. Vielmehr ist doch jene Großschreibung gemeint, die als Folge der Bildung eines Substantivs auch ohne große Bedeutung vorgenommen wird. Das Großschreiben kann also nur stattfinden, wenn einem Thema große Bedeutung zukommt, wobei für das Großschreiben nicht die geringsten Schreibkenntnisse vonnöten sind. Für die Großschreibung stellt sich die Situation anders dar. Sie ist Folge grammatikalischer und orthographischer Konventionen, nach denen das groß Schreiben eintritt. Das groß Schreiben ist eine holprige Formulierung, die besser durch das Substantiv Großschreibung ausgedrückt wird.
Natürlich sind das leise Treten und das schnelle Denken etwas anderes als die Substantive Leisetreten und Schnelldenken. Diese mögen Substantivbildungen (Substantivierungen?) aus Verben sein, jene sind Verben, die hier in einer substantivischen grammatikalischen Position verwendet werden. Es ist ja nur Zufall der Formenbildung, daß man dem leisen Treten seine Flexion im Nominativ nicht ansieht, während sie beim schnellen Denken deutlich sichtbar ist. Der substantivische Gebrauch eines Verbs ist m. E. etwas grundsätzlich anderes als die Substantivbildung. Was ist die im amtlichen Regelwerk angesprochene Substantivierung?
Oder liege ich völlig daneben?
eingetragen von Theodor Ickler am 27.09.2004 um 17.14
Mal redet man zu Fachkollegen, mal zu Laien und mal zu Kindern. Ich bilde mir ein, diese verschiedenen Register einigermaßen zu beherrschen, aber in einem Forum wie diesem läßt es sich nicht vermeiden, daß mancher Besucher gelegentlich an den falschen Text gerät. Da muß man nicht immer gleich das Schlimmste vermuten!
Übrigens kann ich nur immer wieder empfehlen, sich das amtliche Regelwerk zu Gemüte zu führen. Da haben wir ein Beispiel von Schwerverständlichkeit bei gleichzeitiger Undurchdachtheit. So verkorkst hat hier noch niemand geschrieben.
Wer es leicht und munter haben will, kann sich ja mein "Schildbürger"-Büchlein besorgen.
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Th. Ickler
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 27.09.2004 um 15.47
Lieber Herr Koch,
mit einer kurzen Erklärung der Begriffe ist es nicht getan. Der Begriff Kohärenz wurde übrigens schon erläutert. Man muß sich aber mit der Materie selbst befassen. Gerade dann klären sich einige Begriffe von allein. Der Gallmann-Text ist eigentlich gut zu verstehen. Vielleicht schauen Sie mal hinein.
eingetragen von Fritz Koch am 27.09.2004 um 12.27
hat unter Informatikern den Zweck, Laien vom Mitredenkönnen fernzuhalten, um ihre eigene Unentbehrlichkeit zu beweisen.
Das sollte hier im Forum eigentlich nicht der Fall sein. Trotzdem hat man als Nichtgermanist den Eindruck, mindestens das Glossar des Ickler-Wörterbuches, aber am besten ein Linguistik-Wörterbuch besitzen zu müssen, um folgen zu können.
Ich wundere mich nicht mehr, warum hier so wenige Schüler mitdiskutieren.
Deshalb schlage ich vor, hier ein aufrufbares Glossar mit den hier verwendeten Fachausdrücken einzurichten, damit alle an Rechtschreibung Interessierten mitkommen können und damit Naturwissenschaftler und Schüler bei "kohärent" nicht an Lichtwellen und Maßeinheiten denken. Die müssen nämlich ausdrücklich darauf gestoßen werden, daß ihre gewohnten Fachausdrücke hier etwas ganz anderes bedeuten können.
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 27.09.2004 um 11.48
Die "Kurzanleitung" im Icklerschen Wörterbuch und die mitgelieferten Regeltafeln umgehen die schwierigen Bereiche der Kommasetzung ein wenig. Um das ganze auf Normalniveau herunterzukochen: Es geht darum, ob bei einem Satz wie Die Reform zu kritisieren(,) fällt nicht schwer (erweiterter Subjektsinfinitiv) ein Komma stehen soll. Duden 1991 sagt nein, Gallmann ja. Bei Ickler ist es freigegeben.
Duden und Ickler verbieten das Komma bei einfachem Infinitiv, Gallmann gibt es frei. (Er zögerte(,) zu antworten. Frage: Wer würde von der Freigabe Gebrauch machen?)
eingetragen von Karsten Bolz am 27.09.2004 um 09.57
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Georg Zemanek
Eine Rückkehr zur bewährten Schreibung muß vielleicht auch heißen, die Regeln allgemeinverständlich zu fassen (die alten Dudenregeln R1 bis R212 waren sicher auch nicht das Optimum).
Geehrter Herr Zemanek,
genau das hat Herr Ickler bereits getan. Schauen Sie einmal in sein Rechtschreibwörterbuch. Darin gibt es eine "Kurze Anleitung zum rechten Schreiben". Das ist genau das, was Sie suchen, denke ich. Soweit ich weiß, steht diese Anleitung auch hier irgendwo, ich finde es auf die Schnelle aber nicht. Weiß es jemand aus der Runde?
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Karsten Bolz
eingetragen von Georg Zemanek am 27.09.2004 um 09.43
Hallo!
Jetzt habe ich mich doch dazu entschlossen, hier ein wenig mitzumachen. Ich sehe ja ein, daß eine Diskussion nicht ohne Fachleute und Fachbegriffe abgewickelt werden kann, bin ja selbst Mathematiker. Ich würde niemandem eine Differentialgleichung erklären wollen, der nicht die nötige Vorbildung hat. Aber wie soll ich irgendeine neue Regelung verstehen, wenn diese nur in schärfstem Fachchinesisch formuliert werden kann? Ob belemmert mehr mit Lämmern oder mit Lehm zu tun hat, sei dem Fachmann überlassen. Aber die Kommaregeln können doch nicht aus der für Laien unverständlichen Kohärenz von Verben abgeleitet werden!
Seit ich mich mit dem amtlichen Regelwerk herumschlage, frage ich mich, wie ich bisher (einigermaßen) richtig schreiben konnte. Und seit ich hier im Forum mitlese, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus: Sprache so abgehoben in Regeln zu fassen, egal ob konventionell oder rävormirt, das kann doch nicht erfolgreich sein?
Eine Rückkehr zur bewährten Schreibung muß vielleicht auch heißen, die Regeln allgemeinverständlich zu fassen (die alten Dudenregeln R1 bis R212 waren sicher auch nicht das Optimum).
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 27.09.2004 um 07.49
Ich würde mich gern auf Deutsch ausdrücken, aber dazu müßte ich sehr viel erklären. Vielleicht später, wenn ich mehr Zeit habe.
Noch einmal zu Gallmann: Er macht die Satzwertigkeit zum Kriterium für das Komma (Herr Ickler in seinen Regeln übrigens auch), benutzt jedoch den Begriff "kohärent" als Synonym für "nicht satzwertig". Wenn ich es richtig verstehe, ist eine Wortgruppe wie Kompromiß zur Güte nach Gallmann kohärent, nach Ickler inkohärent.
Zu kritisieren an Gallmann ist, daß er nur "zähneknirschend" dem Usus nachgibt. Man kann es vielleicht auch so sehen, daß er einen Vorschlag zu einer besseren Kommatierung macht. Daran wäre, sofern er das Augenmaß nicht verliert, eigentlich nichts auszusetzen. Ich verstehe aber nicht, warum Gallmann Infinitive im Vorfeld mit denen im Nachfeld völlig gleichstellt. Nach Erich Drach (den Gallmann zumindest flüchtig erwähnt) liegt vor dem Nachfeld die "Eindrucksstelle" (bei Gallman wäre das auf oder kurz vor "Position 2"), d.h. ein folgender Infinitivsatz bedeutet eine Zusätzliche Hebung im Betonungsschema. Beim Infinitiv im Vorfeld ist das anders. Das hätte er erwähnen können. Es kann natürlich sein, daß bei umfangreichen Subjektsinfinitiven - entgegen dem alten Duden - immer Kommas gestzt werden. Das kann ich nicht beurteilen. Doch die von Gallmann vorgeschlagene Kommatierung (Zu helfen(,) macht Freude) wiederspricht ein wenig meiner Intuition.
Ich kann den Gallmann-Text, den Herr Wagner hier freundlicherweise einge(k)linkt hat, sehr empfehlen. Es ist nicht der Text, auf den Herr Ickler sich bezog, aber das macht wohl nichts. Vielleicht klären sich dadurch die Fragen zu den Fachbegriffen. Man kann dann auch besser verstehen, wie es überhaupt zur Neuregelung des Infinitivkommas gekommen ist. Es hat wieder einmal damit zu tun, daß gewisse Zweifelsfälle dem Schreiber nicht zugemutet werden sollten (Der Kranke drohte(,) sich umzubringen). Einerseits Kleinlichkeit (Komma bei "hinweisendem Wort" auch bei den allerkürzesten Infinitiven), andererseits Großzügigkeit (Du brauchst, keine Angst zu haben ist nun nicht mehr falsch) - das ist völlig gegen die Intuition. Sitta hat neulich erklärt, daß die neue Kommasetzung nur in wenigen Bereichen (bei direkter Rede und besagten hinweisenden Wörtern) nicht akzeptiert worden sei. Das sagt er sicher mit einem schalkhaften Grinsen. Man kann ihm das Gegenteil schwer nachweisen.
eingetragen von Detlef Lindenthal am 26.09.2004 um 20.04
Zitat:Nein; was irreführend ist, ist nicht deutsch=deutlich.
Ursprünglich eingetragen von Fritz Koch
"Dies löst mich erstaunende emotionale Diskussionen aus"
Die Grammatik der deutschen Sprache ist derart stark, daß in den allermeisten Fällen die Beziehung von Wörtern und Satzteilen eindeutig ist; die wenigen Fälle, bei denen die genannte Beziehung mehrdeutig oder irreführend ist, bezeichne ich mindestens als Lesefalle und daher als nicht richtig (es sei denn, daß die Lesefalle beabsichtigt ist).
Auch gibt es keine emotionalen Diskussionen, sondern allenfalls emotionengeladene (3 Gugel) oder emotionsgeladene (4850 G.).
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Detlef Lindenthal
eingetragen von Fritz Koch am 25.09.2004 um 17.48
"Dies löst mich erstaunende emotionale Diskussionen aus"
(Südd. Zeitg. v. 25.9.04, Wirtschaft, SZ-Interview mit Wolfgang Clement und Laurens Brinkhorst)
eingetragen von Elke Philburn am 25.09.2004 um 16.27
Sie haben den Punkt völlig verfehlt, Herr Koch.
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Ruth Salber-Buchmüller
Gab es hier auf diesen Seiteneinen Hinweis auf den
Artikel ( Photo: Historiker Markner)
"VÖLKISCHER AUFBRUCH"
im Spiegel vom 30.08.04?
Habe ich das übersehen?
Dieser Artikel steht im Nachrichtenbrett hier.
Vielsagend in diesem Kontext der boshaft-polemische Kommentar der Taz.
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http://www.vrs-ev.de/
eingetragen von Fritz Koch am 25.09.2004 um 16.08
Jetzt müssen die nur noch in auch für Grundschüler verständliches Deutsch übersetzt werden, damit auch die etwas mit diesen schönen Regeln anfangen können. Die üben nämlich ab der vierten Klasse den Satzbau und die Satzglieder ein und sollten es gleich möglichst richtig lernen. Lateinische Ausdrücke lernen sie aber erst ab der fünften Klasse.
eingetragen von Theodor Ickler am 25.09.2004 um 13.37
Da Gallmann im großen und ganzen zu dem Ergebnis kommt, daß die bisher übliche Kommatierung der Infinitive beibehalten werden sollte, gebe ich ihm insofern natürlich recht (deutlich im Handbuch Rechtschreiben).
Das Subjekt ist natürlich kein Teil des Prädikatskomplexes, sondern steht diesem gegenüber; daher stellt sich die Frage der Kohärenz von vornherein nicht.
Die Grundstellung sieht im Deutschen vor, ganz rechts das Spezifikandum und dann nach links in logischer Reihenfolge die spezifizierenden Glieder zu setzen. Das gilt für Prädikatskomplexe genauso wie für Attribute zum Nomen (bis auf die nachgestellten Genitive und Präpositionalattribute). Satzwertiges wird meist extraponiert (hinter die rechte Satzklammer herausgestellt). Eigentlich sehr einfach und leicht zu vermitteln, allerdings in anderen Sprachen zum Teil gerade umgekehrt.
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Th. Ickler
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 25.09.2004 um 10.48
Nachfrage
Nebenbei bemerkt: Da die Kohärenz als Inkorporation in das Prädikat definiert wird (...), ist das Subjekt transitiver Verben selbstverständlich nicht kohärent; (...) Ist das Subjekt der (transitiven) Infinitivgruppe gemeint? Ist nicht der ganze Infinitivsatz Subjekt des übergeordneten Satzes?
Zu Gallmann. Er beruft sich immerhin auf den Usus. Zu einer Freigabe beim Subjektinfinitiv ist er nur bei "Einfachheit" des Infinitivs bereit. Wenn das der tasächliche Usus ist, kann man Gallmann eigentlich nicht widersprechen. Ich kann das natürlich nicht beurteilen.
eingetragen von J.-M. Wagner am 24.09.2004 um 19.07
Hat eigentlich defektiv nur genau eine fachliche Bedeutung? Bislang hatte ich mir darüber keine genauen Gedanken gemacht, stolpere nun aber über die von Günther (in: Sprache im Fokus. Festschrift für Heinz Vater) angegebenen Beispiele: Zum anderen unterscheiden sich trennbare Verben bezüglich ihres Formenbestandes, denn viele Bildungen sind defektiv, vgl. * wir rechnen Bruch, * wir bruchrechnen gegenüber wenn wir in der Schule bruchrechnen. Im 3. Kommissionsbericht findet sich die Aussage (S. 69): Bei Auffassung von leid als defektives Adjektiv ergibt sich die Schreibung leidtun; man schreibt dann in Analogie zu kundtun zusammen. Wie paßt das zusammen?
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Fritz Koch am 24.09.2004 um 17.10
Satzbau gehört zum Gebiet "Syntax" und nicht zur Rechtschreibung. Deshalb habe ich mich damit bisher nicht befaßt. Aber: Ist die "glatt geordnete" Satzkonstruktion, d. h. das Prinzip der (laut Ickler-Wörterbuch) "zunehmenden inhaltlichen Bestimmung" eine Bauanleitung für "guten Satzbau-Stil"?
Jedenfalls kann dieses Prinzip nur für den freien deutschen Satzbau gelten, denn in anderen Sprachen gelten ganz andere Regeln, z.B. im Englischen.
Deutsche Sätze möglichst gut zu konstruieren, ist ein eigenes, faszinierendes Gebiet, das mich auch sehr interessiert. Und wegen der theoretisch freien, aber inhaltlich oder semantisch doch nicht ganz freien Wortstellung in deutschen Sätzen ist es ein wichtiges Gebiet. Obwohl es eigentlich nicht hierhergehört.
eingetragen von Theodor Ickler am 24.09.2004 um 16.24
Der Begriff der kohärenten Kontruktion stammt von dem dänischen Germanisten Gunnar Bech (1955) und ist im einzelnen etwas schwierig, eben ein richtiger theoretischer Begriff. In meinem Rechtschreibwörterbuch (Kommaregeln und Glossar) ist er vereinfacht so erklärt: Prädikatsteile sind kohärent, wenn sie von rechts nach links glatt geordnet sind, also zum Beispiel: daß der Kranke aus dem Bett zu fallen droht. Die Abfolge entspricht also der zunehmenden Bedeutungsdifferenzierung. Nicht kohärent wäre daß der Kranke droht, aus dem Fenster zu springen. Hier nennen wir den Infinitivsatz extraponiert.
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Th. Ickler
eingetragen von Ruth Salber-Buchmüller am 24.09.2004 um 08.29
Gab es hier auf diesen Seiten
einen Hinweis auf den
Artikel ( Photo: Historiker Markner)
"VÖLKISCHER AUFBRUCH"
im Spiegel vom 30.08.04?
Habe ich das übersehen?
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Ruth Salber-Buchmueller
eingetragen von J.-M. Wagner am 23.09.2004 um 22.03
hat das in folgender Veröffentlichung ausführlich dargestellt (siehe insbesondere Seite 5 und Seite 10): http://www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Pub/Infinitiv_1997.pdf
Als Nicht-Germanist finde ich diesen Artikel in vielerlei Hinsicht interessant, weil unterschiedliche Aspekte der Struktur und der Grammatik der deutschen Sprache beleuchtet werden. Vor allem aber sind die ganz zu Anfang genannten Kriterien bemerkenswert, denen orthographische Regeln genügen sollen. Als wichtigste lassen sich nennen eines der allerwichtigsten fehlt in meinen Augen: die Leserfreundlichkeit der resultierenden Schreibung. Hier offenbart sich das konzeptionelle Defizit der Reform.
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Fritz Koch am 23.09.2004 um 12.29
Christian Huygens 1629 - 1695: Wellennatur des Lichts
Isaak Newton 1643 - 1727: Newtonsche Ringe, Farbenringe dünner Blättchen
Joseph von Fraunhofer 1787 - 1826: Fraunhofersche Linien
eingetragen von margel am 23.09.2004 um 10.46
Verehrter Herr Koch, die Physik hat die "Kohärenz" nicht gepachtet. Wenn Philosophie, Linguistik, Psychologie u.a. diesen zunächst nur (in sich stimmigen) "Zusammenhang" bedeutenden Begriff benutzen, so meinen sie etwas je fachspezifisch definiertes Verschiedenes. Wahrscheinlich hat sich die Physik nicht einmal als erste dieses Begriffs bedient. Erst mußte ja die Interferenz entdeckt und vor allem als Wellenerscheinung richtig interpretiert werden. ("Interferenz" gibt es übrigens auch in mehreren Disziplinen...)
eingetragen von Fritz Koch am 23.09.2004 um 10.01
als mit Fremdwörtern, und das wäre schwieriger.
eingetragen von Kathrin Dörrbecker am 23.09.2004 um 09.41
Ist das nicht leider der Nachteil eines jeden Forums, daß die Beiträge für Laien oftmals nur schwer verständlich sind?
eingetragen von Fritz Koch am 23.09.2004 um 09.25
wenn man hier nur noch mit Fachwörterbüchern mitkommt.
Ich schlage vor, ein Forum für Linguisten einzurichten, in dem sie mit ihren Fachausdrücken vor Laien geschützt sind.
In sämtlichen normalen Wörterbüchern steht bei "Kohärenz": Begriff aus der Physik, Lichtwellen. Folglich ist das die Hauptbedeutung und der Ursprung.
Ich ärgere mich immer wieder, wenn Soziologen und Geisteswissenschaftler alte Begriffe aus der Naturwissenschaft für sich mit neuen Bedeutungen belegen und dann auch noch behaupten, sie hätten diese Begriffe erfunden. Genau aus diesem Grund ist zwischen Geisteswissenschaftlern, Soziologen usw. und Naturwissenschaftlern keine Verständigung möglich. Die Mehrheit der Bevölkerung kennt nur die naturwissenschaftlichen Bedeutungen, denn diese werden in der Schule gelehrt.
eingetragen von Kathrin Dörrbecker am 23.09.2004 um 08.15
@ Fritz Koch:
Ein Linguist könnte sich im Gegenzug womöglich fragen, was linguistische Begriffe in der Physik zu suchen haben. Ich weiß jetzt gerade leider nicht wer die Begriffe zuerst für sich beansprucht hat...falls das überhaupt eine Rolle spielt. In einem linguistischen Wörterbuch sind die Begriffe für diesen Kontext aber etwas verständlicher erklärt.
eingetragen von Kathrin Dörrbecker am 23.09.2004 um 08.05
Lieber Herr Ickler,
ich kann Ihnen, vielmehr Herrn Gallmann, nicht so recht folgen. Vielleicht liegt's an den "kohärenten bzw. inkohärenten Infinitven". Ist damit die Valenzfähigkeit gemeint, daß transitive Subjektsinfinitve also nullwertig wären? Aber warum sollte dann ein Komma gesetzt werden? Vielleicht könnten Sie noch ein Beispiel anfügen?
eingetragen von Fritz Koch am 23.09.2004 um 07.31
Soviele Fremdwörter und Fachausdrücke auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen.
Was haben physikalische Begriffe in der Sprachwissenschaft verloren?
Aus Kuchling, Taschenbuch der Physik: "Interferenz: Darunter versteht man die Überlagerung von Schwingungen und Wellen. Auch Lichtwellen können interferieren, vorausgesetzt, sie sind kohärent, d. h. sie wurden aus ein und demselben Wellenzug durch Reflexion, Brechung oder Beugung aufgespalten."
Aus Mende-Simon, Physik: "Kohärente Einheiten sind alle abgeleiteten Einheiten, die aus den Grundeinheiten direkt gebildet werden können (ohne Verwendung von Zahlfaktoren). Nichtkohärente Einheiten lassen sich zwar auch auf die Grundeinheiten zurückführen, jedoch treten in den entsprechenden Gleichungen Zahlenwerte auf, die von eins verschieden sind."
Alles klar?
eingetragen von Theodor Ickler am 23.09.2004 um 04.14
Peter Gallmann in ("Schrift und Schriftlichkeit", HSK 10,2, 1996, Artikel 128: Interpunktion (Syngrapheme), S. 1460:
Die Kommasetzung bei Infinitivkonstruktionen macht Gallmann davon abhängig, ob es sich um einen kohärenten oder inkohärenten Infinitiv (im Sinne Gunnar Bechs) handelt. Da der Subjektsinfinitiv zumindest bei transitiven Verben stets inkohärent und daher eigentlich kommapflichtig sei, kommt Gallmann zu dem Schluß:
"Es erstaunt darum nicht, daß die gegenwärtige Regel, daß Subjektsinfinitive, obwohl inkohärent, nicht mit Komma abgetrennt werden dürfen, häufig nicht beachtet wird - die Regel ist ganz einfach nicht adäquat."
Zunächst ist zu bemerken, daß die von Gallmann angesprochene Dudenregel gar nicht auf den Begriff der Kohärenz Bezug nimmt. Das ist vielmehr Gallmanns Interpretation und Theorie zu den orthographischen Tatsachen. Die Dudenregel wird an dieser Theorie gemessen und für "nicht adäquat" befunden. Richtig wäre es, sie am Schreibbrauch zu messen. (Auch dann wäre die Dudenregel vielleicht inadäquat, aber das ist eine andere Frage.) Gallmann verwechselt, wie so oft, seine Theorie mit der Wirklichkeit und kommt dann an verschiedenen Stellen zu dem Schluß, die Wirklichkeit müsse (durch staatlichen Erlaß) geändert werden, damit sie zur Theorie paßt.
Nebenbei bemerkt: Da die Kohärenz als Inkorporation in das Prädikat definiert wird (ebd.), ist das Subjekt transitiver Verben selbstverständlich nicht kohärent; man könnte aber auch sagen, daß diese Frage sich hier gar nicht stellt.
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Th. Ickler
eingetragen von J.-M. Wagner am 01.08.2004 um 21.22
Zitat:Die Adresse hat sich geändert und lautet nun http://gutenberg.spiegel.de/paulh/prinzip/paulinha.htm.
Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
H. Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Sofa Potato am 16.07.2004 um 07.42
Wir schreiben nicht, wie wir sprechen, sondern wir sprechen, wie wir schreiben!
Dazu die Meinung von Mark Twain in "Die schreckliche deutsche Sprache":
"Nachdem ich die verschiedenen Untugenden dieser Sprache ausführlich dargelegt habe, komme ich nun zu der kurzen und angenehmen Aufgabe, ihre Tugenden hervorzuheben. Die Großschreibung der Substantive habe ich bereits erwähnt. Aber weit vor dieser Tugend kommt noch eine andere - daß die Wörter so geschrieben werden wie sie klingen. Nach einer kurzen Unterweisung im Alphabet weiß der Schüler schon, wie jedes deutsche Wort ausgesprochen wird, ohne fragen zu müssen, ..."
eingetragen von gestur am 13.05.2004 um 09.17
"Recht" ist ein Substantiv, wenn es einen bestimmten (das) oder unbestimmten (ein) oder Verneinungsartikel (kein) oder ein Pronomen (sein, ihr, dessen, deren, dieses) oder eine Präposition (Verhältniswort) (im, zu) vor sich hat.
Für "Unrecht" gilt dasselbe, zusätzlich auch Adjektiv-Attribute ("großes", "völliges") und unbestimmte Zahladjektive wie "viel", "wenig".
Denn diese Wörter können nur vor Substantiven, aber nicht vor Adjektiven stehen.
"recht" und "unrecht" sind Adjektive, wenn sie keines der obengenannten Wörter vor sich haben oder stattdessen Vergleichs- oder Steigerungspartikel wie "wie", "sehr", "ganz", "völlig" oder die Verneinung "nicht" vor sich haben, denn diese Wörter können nur vor Adjektiven, aber nicht vor Substantiven stehen.
Diese Beschreibung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
eingetragen von gestur am 11.05.2004 um 12.51
Wochentagsnamen, vor denen keine Präposition (kein Verhältniswort) steht, das den Fall bestimmt wie "am Freitag", stehen im Akkusativ. Vielleicht muß man sich als Hilfe "diesen" oder "kommenden" oder "nächsten" davor oder einen Zusatz wie ",den 13.," dahinter denken.
eingetragen von Karin Pfeiffer-Stolz am 10.05.2004 um 11.36
Grammatikunterricht in der Schule
Bezüglich "leid tun" habe ich in den vergangenen Jahren oft Überlegungen angestellt, ohne zuvor (klärende) sprachwissenschaftliche Sachargumente gelesen zu haben. Folgende Bedenken, die mir bei "Leid tun" kamen, sind also rein praktische, persönliche. In meinen Veröffentlichungen habe ich die Reformregel Großschreibung von Beginn an ignoriert.
Wenn ich den Satz "Es tut mir leid" auf laienhafte Weise auseinandernehme, dann frage ich: "Wie tut es mir?" und nicht "Wen oder was tut es mir?". Daraus kann ich für mich selbst beantworten, daß es sich bei "leid" nicht um ein Substantiv handeln kann.
Bei "Ich habe recht" begreife ich ebenfalls nicht, wie "recht" als Substantiv eingeordnet werden kann, gibt es doch auch Wendungen wie "der rechte Weg", also der "richtige" Weg.
Da ich selbst im Schuldienst gewesen bin, befasse ich mich auch mit dem Gedanken der Vermittelbarkeit von Rechtschreib- und Sprachregeln. Ich gehe also rein pragmatisch an die Sache heran. Muß sich nicht jeder Lehrer fragen, wie er zum Beispiel folgendes Problem im Grammatikunterricht behandelt:
Ich stehe vor der Klasse.
"Gestern ging ich ins Kino."
Meine Frage an die Schüler: "Wie erfragen wir die Tageszeit?"
Schüler: "Wann ...?"
Richtig!
Und jetzt habe ich ein Problem: Wie vermittle ich den Schülern, daß nach "wann" ein großgeschriebenes Wort, also ein Substantiv, folgt?
Hat man sich über derlei Probleme Gedanken gemacht unter der Lehrerschaft? Oder geht man dazu über, "Vermeidungsunterricht" zu erteilen, der alles ausspart, was Unsicherheiten erzeugt? Wunderbar! Da fallen viele Unterrichtsstunden für das Fach Deutsch fort. Ist offenbar auch im Sinne der Reformer. Nehmen wir ruhig das Korsett weg, in das bisher Wissensinhalte gegossen wurden. Es ist nur eine Frage der Zeit, ehe uns alles unter den Fingern zerrinnen wird.
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Karin Pfeiffer-Stolz
eingetragen von margel am 01.10.2003 um 09.54
Der Internet-Provider freedee: "...kostenlos zu Surfen." (Diese Art von Großschreibung liest man jetzt häufig) / "...samstags, sonntags, Feiertags..." / aber kurz danach: "feiertags"
eingetragen von J.-M. Wagner am 19.06.2003 um 13.51
Zitat:Das heißt, hier verwickeln sich diejenigen in einen Widerspruch, die einerseits via der Betrieb ist pleite das Adjektiv pleite einführen, es aber wegen *der pleite Betrieb nicht als solches anerkennen wollen. Wenn ich mich recht entsinne, hat das auch Gallmann in seiner Vorlesung hinbekommen.
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Schon Schaeder und Augst haben mit dem etwas dümmlichen Argument gekontert, daß Adjektive attributiv verwendbar sein müßten: der pleite Unternehmer usw., was natürlich nicht stimmt. Sogar die Neuregelung setzt ja ein Adjektiv pleite an: er ist pleite.
Zitat:Den Vergleich mit der Syntax von weh tun, gut tun habe ich mir für später aufgehoben, wenn die Frage aufkommt, wie denn leid tun nun zu schreiben sei, wenn es gar nicht zu den Nomen-Verb-Verbindungen gehört. Letzteres ist aber noch nicht ganz entschieden: Auf meinen Einwand, mit wie zu erweitern, meinte Prof. Gallmann zunächst, das sei die gleiche Probe wie mit sehr. Ich erwiderte, daß es nicht die gleiche Probe ist, weil nun der Fall *wie Hunger sie hatte auftritt. Als er dann darauf verwies, daß diese Probe wiederum bei Präpositionalphrasen uneindeutig sei, entgegnete ich, daß leid tun keine solche sei. Daraufhin kam einen Moment lang gar nichts, bis er schließlich erklärte, es fiele ihm gerade nicht ein und er müsse erst einmal nachschauen, denn da wäre irgend etwas gewesen, warum auch die wie-Probe nicht eindeutig sei.
leid tun hat dieselbe Syntax wie weh tun, gut tun, früher auch sanft tun usw.
Fragen Sie Gallmann doch nach *wie Hunger du hast.
Bemerkenswerterweise hat er in seinem Aufsatz als letzte Fußnote folgende Bemerkung gemacht (S. 26):Zu erwägen ist eine Korrektur bei der Fügung Leid tun, da hier wohl nicht das Nomen Leid, sondern eher das standardsprachlich defektive Adjektiv leid vorliegt (in süddeutschen Dialekten sind attributive Formen dieses Adjektivs noch geläufig). Am besten schreibt man zusammen (in Abweichung sowohl von der 1901er- als auch von der 1996er-Regelung): leidtun, es tut mir leid, es hat mir leidgetan.Was ist ein defektives Adjektiv sowohl ganz allgemein gefragt, als auch auf leid bezogen? Meint es so etwas wie den obigen Fall des pleite, das nicht attributiv gebraucht werden kann? Dann wäre seine Argumentation ziemlich trickreich, weil sie einerseits die Notwendigkeit der Korrektur unterstreicht, andererseits aber auch begründet, warum man den Infinitiv nicht getrennt schreiben sollte. Mit seinem Fazit, was hier das Beste sei, bin ich aber nach wie vor nicht einverstanden: Wenn etwas keine Nomen-Verb-Verbindung ist, soll es auch nicht deren Schreibungsregeln folgen damit man es nicht umgekehrt für eine Nomen-Verb-Verbindung hält.
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Theodor Ickler am 17.06.2003 um 13.45
Nachgedruckt wird die letzte Auflage, das ist die fünfte von 1920, fotomechanisch. Sie hat kein th mehr, aber auch weiterhin kein ß.
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Th. Ickler
eingetragen von Reinhard Markner am 17.06.2003 um 11.59
Die durchgängige ss-Schreibung dürfte korrekt sein, aber da der ursprüngliche Titel selbstverständlich Principien der Sprachgeschichte heißt, muß es sich bei der Vorlage um eine spätere Auflage handeln.
eingetragen von J.-M. Wagner am 17.06.2003 um 09.56
H. Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte
Hier ein Zitat aus der Einleitung:Die grosse Gleichmässigkeit aller sprachlichen Vorgänge in den verschiedensten Individuen ist die wesentlichste Basis für eine exakt wissenschaftliche Erkenntnis derselben.Das Werk wurde 1880 veröffentlicht. Wie steht es um die orthographische Wiedergabetreue dieser elektronischen Version, sowohl was die s-Schreibung, aber auch die Verwendung von "th" betrifft? Geht evtl. die "ß"-lose Fassung auf die elektronische Bearbeitung im Projekt Gutenberg zurück?
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von margel am 16.06.2003 um 06.33
Herr Wagner,
wenn man über Strukturen im Hinblick auf geistig-kulturelle
Phänomene redet, befindet man sich immer auf einer sehr hohen Abstraktionsebene. Der Begriff ist so umfassend und
allgemein, daß es oft schwerfällt, ihn am konkreten Beispiel
mit Inhalt zu füllen. Wir haben dann den Wald, aber nun
müssen wir mühsam die Bäume zählen und bestimmen. Die Frage ist, wie hilfreich für ein tieferes Verständnis und eine
fruchtbare Disskussion es jeweils ist, die Struktur als
Plattform heranzuziehen. "Struktur" gehört zu den Begriffen,
die man ganz besonders als Schüler liebt, weil er sich
hochgeistig anhört und zu nichts verpflichtet.
eingetragen von Theodor Ickler am 16.06.2003 um 05.01
Schon Schaeder und Augst haben mit dem etwas dümmlichen Argument gekontert, daß Adjektive attributiv verwendbar sein müßten: der pleite Unternehmer usw., was natürlich nicht stimmt. Sogar die Neuregelung setzt ja ein Adjektiv pleite an: er ist pleite.
leid tun hat dieselbe Syntax wie weh tun, gut tun, früher auch sanft tun usw.
Fragen Sie Gallmann doch nach *wie Hunger du hast.
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Th. Ickler
eingetragen von J.-M. Wagner am 16.06.2003 um 00.16
Zitat:Keinen Einwand gegen Ihre Arbeitshypothese, und keinen Zweifel an Ihrem Einwand ich möchte aber doch gern einmal ein konkretes Beispiel genannt bekommen, wo das Eis sozusagen besonders dünn ist.
Ursprünglich eingetragen von margel
Herr Wagner, über Strukturen zu reden, bedeutet oft, auf dünnem Eis zu wandeln. "Struktur" kann alles und nichts bedeuten. In sprachlichen Dingen ist das Gewohnte das Richtige - erst einmal, als Arbeitshypothese, sozusagen.
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von J.-M. Wagner am 16.06.2003 um 00.05
Letzten Mittwoch ging es um Nomen-Verb- (N-V-) Verbindungen. Dazu wies Prof. Gallmann auf seinen Artikel «Wortbegriff und Nomen-Verb-Verbindungen» hin (Zeitschrift für Sprachwissenschaft 18.2/1999; Seiten 269304); die Vorlesung (45 Minuten) war eine kompakte Präsentation des darin enthaltenen Stoffes; meine (in dem Aufsatz ausführlich diskutierte) Lieblingsfrage Was ist ein Wort? wurde dabei nur oberflächlich behandelt.
Es ging in der Vorlesung konkret um die Festlegungen von § 55 (4) und § 34 (3), welche die zwei im Zuge der Reform verbleibenden Schreibweisen für Nomen-Verb-Verbindungen darstellen; die Varianten radfahren/ich fahre Rad/ich bin radgefahren und diät leben/ich lebe diät/ich habe diät gelebt wurden abgeschafft. Jetzt gibt es nur noch das Entweder-Oder zwischen den Varianten immer klein und zusammen und immer groß und getrennt. Begründet wurde diese Reduktion auf zwei Fälle damit, daß es darum ging, einen komplizierten Sachverhalt alltagstauglich zu machen, und dazu wurde obige Konvention eingeführt, die die Handhabung erleichtern soll.
Zunächst eine grundsätzliche Frage: Sind Nomen und Substantiv völlig äquivalente Bezeichnungen (für Hauptwort), oder gibt es da einen feinsinnigen Unterschied (und wenn der auch nur in der Verwendung liegt)? Zum Beispiel gibt es ja so etwas wie eine Nominalphrase enthält diese, mal ganz naiv gefragt, ein Substantiv?
Der theoretische Hintergrund der Nomen-Verb-Verbindungen ist die Inkorporation (ganz allgemein verstanden) und die der jeweiligen Art der Inkorporation zugrundeliegende Struktur, wie sie etwa für das noun stripping auf S. 14 des Aufsatzes in einem Diagramm dargestellt ist. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist eine Verbform mit Inkorporation eines Nomens, egal zu welchem Grade inkorporiert (abstrakte Inkorporation, noun stripping oder vollständige/echte Inkorporation [= Inkorporation im engen Sinn]), abgesehen von Ableitungen von Nominalkomposita wie Handhabung: handhaben, Schlußfolgerung: schlußfolgern immer eine abgeleitete Struktur und setzt damit die Existenz der Grundstruktur voraus.
Abgesehen davon, daß Prof. Gallman ganz klar gesagt hat, daß die jetzige Festlegung, Leid tun zu schreiben, falsch ist (weil es auch ich bin es leid und es ist mir leid gibt) und es daher in die andere Kategorie einzuordnen ist (was der Grund dafür ist, daß mit dem Schema der Reform nur leidtun kompatibel ist), frage ich mich, welche syntaktische Grundstruktur mit einem Nomen denn leid tun zugrundeliegen soll. Muß man nicht viel eher davon ausgehen, daß es sich hier um eine Art Phraseologismus handelt, der aber kein Nomen beinhaltet?
Auf meinen Einwand, man könne es testen, indem man mit sehr erweitert, erwiderte Prof. Gallman, daß das nicht eindeutig sei, weil das auch bei Präpositionalphrasen zu einem regulären Ausdruck führen würde, so daß man es nicht unterscheiden könne (er war sehr in Eile). Nur wenn die Erweiterung mit sehr nicht zulässig ist, könne man mit Sicherheit schließen, daß es sich nicht um eine Adjektiv oder Adverb gehandelt habe. Er behauptete sogar, daß auch Nominalphrasen mit sehr erweitert werden könnten und bemühte sie hatte sehr Hunger als Beispiel, wenn auch nur in der Umstellung Hunger hatte sie sehr. Das halte ich aber für falsches Deutsch, und da blieb dann nur der Verweis auf die Suche in einem Korpus.
Meines Erachtens liegt der eigentliche Fehler bei leid tun darin, daß dies überhaupt als N-V-Verbindung aufgefaßt wird. Es gibt zwar Fälle wie heimfahren, standhalten, teilnehmen etc., bei denen nur noch die Herkunft von einem Substantiv erkennbar ist, der betreffende Wortteil aber (in keiner Konjugationsform) keine substantivische Funktion mehr hat und die aber dennoch zu den N-V-Verbindungen gerechnet werden können, weil man davon ausgehen kann, daß sie sich aus einer ursprünglich ein Nomen enthaltenden Verbindung gebildet haben. (Problematisch kommt mir dabei allerdings wettmachen vor.) Aber nur weil es bei diesen Fällen verblaßte Substantive sind, bedeutet ja noch nicht, daß es sich immer um eine N-V-Verbindung handelt, nur wenn es zu dem unklaren/verblaßten Wortteil ein gleichlautendes Substantiv gibt.
Eine solche Einordnung kommt bei leid tun m. E. zustande, weil man andere Kategorien nicht in Betracht zieht bzw. nicht zulassen will. Als Vergleich wird entsprechend bei Not tun, Pleite gehen, Recht/Unrecht haben nur danach geprüft, ob es ein entsprechendes Adjektiv gibt, und wenn nicht (*der pleite Betrieb), muß eben groß geschrieben werden. Aber selbst da gibt es Inkonsistenzen: Trotz der bakrotte Betrieb/der Betrieb ist bankrott verlangt die Neuregelung der Betrieb geht Bankrott wegen der Betrieb geht Pleite, und letzteres begründet sich aus dem *pleiten Betrieb. (Vom Klassiker des *Spinnefeindes ganz zu schweigen; stehen doch jetzt Feind, Todfeind, spinnefeind in einer Reihe.)
Langer Rede kurzer Sinn: Wie kann man unumstößlich zeigen, daß leid tun (u. a.) nicht in die Kategorie der Nomen-Verb-Verbindungen gehört? Was kann ich Prof. Gallmann am nächsten Mittwoch erwidern?
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von margel am 14.06.2003 um 18.50
Herr Prof. Ickler,
Ihre besagte Preisschrift ist durchaus noch lesenswert
im Hinblick auf das Problem der Sprachnormen.Ich habe sie
mal wieder hervorgeholt und kann ja demnächst einmal ein paar Zitate bringen, falls Sie sie verloren haben...
Herr Wagner, über Strukturen zu reden, bedeutet oft, auf dünnem Eis zu wandeln. "Struktur" kann alles und nichts bedeuten. In sprachlichen Dingen ist das Gewohnte das Richtige - erst einmal, als Arbeitshypothese, sozusagen.
Hallo Renate-Maria, darf ich Sie duzen oder soll ich "Sie"
zu Dir sagen?
Briefe, in denen man mich klein duzt, kompostiere ich sofort.
Schönen Sonntag allerseits
eingetragen von Theodor Ickler am 14.06.2003 um 04.32
Die Orientierung an der Grundschule gehörte zu den wichtigsten Motiven der Reform, hat sich aber später beinahe ganz verloren. Leute wie Augst, Gallmann ritten nur noch ihre Steckenpferde. Wie kann man denn die Schreibweise von Stendelwurz usw. für schulrelevant halten?
Was die "Struktur" der Sprache betrifft, so sollte man sie nicht überschätzen. Sprache ist eine Sammlung von Gewohnheiten, die allerdings lokalen Systematisierungen unterliegen, wie jedes Verhalten. Die Analogie sorgt für Struktur. Ich empfehle Hermann Pauls "Prinzipien der Sprachgeschichte", allerdings sollten Anfänger das erste Kapitel erst einmal überspringen, es ist eine zeitgebundene Auseinandersetzung mit damals bekannten Meinungen, die heute nicht mehr interessieren. Aber sonst gibt es kein besseres Buch, es wird ja auch nach 100 Jahren immer wieder nachgedruckt. Mit dieser Empfehlung möchte ich auch andeuten, daß an meiner 25 Jahre alten Preisschrift "Die Ränder der Sprache" nicht viel gelegen ist. Ich weiß selbst nicht mehr, was drinsteht, weil ich meine eigenen Sachen nie wieder zur Hand nehme.
Ich finde nicht, daß Sie das Rad neu erfinden, lieber Herr Wagner. Immer wieder ganz grundsätzliche Überlegungen anzustellen, wie Sie es tun, finde ich vollkommen richtig.
Übrigens könnte man hier mal einen Diskussionsstrang über Sprachnormen aufmachen. Oder die FDS könnte einen solchen thematischen Schwerpunkt setzen. Ich selbst habe ein Vorlesungsskript dazu. Interessant wäre für den Anfang eine Typologie der sprachkritischen Argumentation. Wie voraussetzungsreich das Reden von Sprachverfall, -verhunzung usw. eigentlich ist, macht man sich zu selten klar.
Manche Leute, die mich auf ihrer Seite glaubten, habe ich vergrätzt durch die schlichte Frage, warum sie sich so sehr um das Sprachverhalten ihrer Mitmenschen kümmern, statt ihr eigenes zu vervollkommnen. Da hat man doch wahrhaftig genug zu tun! Aber die Sprachbesserwisser fallen nicht zuletzt dadurch auf, daß sie eigentlich sonst nicht viel mitzuteilen haben; sonst hätten sie ja auch weder Zeit noch Lust, das Verhalten ihrer Mitmenschen so sehr zu verfolgen.
In den letzten Jahren hat dank Krämers VDS ein (angeblich authentisches) Zitat einer Hamburger Schneiderin eine erstaunliche Karriere gemacht (bis in "Spektrum der Wissenschaft" hinein); jeder glaubte, sich über deren Anglizismen empören zu müssen. Ich kann das nicht recht verstehen. Warum soll eine Schneiderin nicht reden, wie sie will?
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Th. Ickler
eingetragen von J.-M. Wagner am 13.06.2003 um 22.00
Zitat:Der Gedanke dahinter ist ganz einfach: In welchen Klassenstufen lernen die Kinder heutzutage in der Schule die Rechtschreibung? Wie also muß der Inhalt der Rechtschreibung gestrickt sein, damit die (allermeisten?) Kinder diesen Alters die Chance haben, es zu lernen? Es geht bei der Reformschreibung vornherein um eine Rechtschreibung, die sich an der Vermittelbarkeit in der Schule orientiert. Darauf hat Prof. Gallmann in einer Diskussion im Anschluß an die letzte Vorlesungsstunde hingewiesen: Das neue Regelwerk ist (inhaltlich; nicht von seiner Ausformulierung her) in erster Linie für den Schulunterricht konzipiert.
Ursprünglich eingetragen von Walter Lachenmann
Mir ist völlig unbegreiflich, welcher Gedanke dahintersteckt, Trennungen wie »schöns-te« usw. vorzuschreiben, oder »am empfindlichs-ten«.
Zum einen ist es ohnehin unprofessionell und auch meistens überflüssig, lediglich zwei Buchstaben als Silbe abzutrennen, zum andern wird dadurch die Grundform »schön« bzw. »empfindlich« zuerst verfremdet, bevor man das Ganze als Steigerungsform erkennt. Gewöhnungssache vielleicht, aber warum soll man sich an so etwas gewöhnen, wo die bisherige Lösung doch besser und keine Fehlerquelle war?
Die Leitkonzepte, um die Vermittelbarkeit zu erreichen, lauten meines Erachtens (1.) Ausnahmefälle reduzieren oder ganz abschaffen und (2.) möglichst vieles über einen Kamm scherende Konventionen einführen. Bei der Trennung nach § 108 also Augen zu und ... immer nur den letzten Konsonantenbuchstaben auf die neue Zeile. So einfach geht das! Als Rechtfertigung gegen die Qualitätsansprüche könnte ein Verteidiger dieses Konzeptes einwenden: Wozu Professionalität in der Grundschule? Mein Fazit: Die Zweiteilung der Schriftsprache ist gewollt.
An der Situation würde sich vielleicht etwas ändern, wenn in höheren Klassenstufen, in denen auf tiefere Grammatikkenntnisse zurückgegriffen werden könnte, entsprechend vertiefter Rechtschreibunterricht eingeplant werden würde. (Auch diese Bemerkung geht auf Prof. Gallmann zurück.) Damit wird aber auch bestätigt, was mir als grundlegende Kritk mit als erstes einfiel, als ich begann, mich mit der Reformschreibung zu beschäftigen: Das eigentliche Problem ist nicht die Rechtschreibung selbst, sondern ihre Vermittlung im Schulunterricht. Warum verbessert man dann nicht den Lehrplan, was die Grammatik betrifft, sowie die Didaktik? Welchen Erfolg kann das Unterrichten einer vereinfachten Rechtschreibung haben, wenn die eigentlichen Hürden des Verständnisses nicht beseitigt werden? Warum begreift man diese Situtation nicht als Chance, zwei ungeliebte Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und Rechtschreib- und Grammatikunterricht enger mit einander zu verzahnen?
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Lieber Herr Ickler, inwieweit habe ich denn mit meinen drei Schritten zur Rechtschreibung gewissermaßen das Rad neu erfunden, und wo sehen Sie (bespielhaft) die Gefahr, daß ich bei dieser Herangehensweise die Strukturen der Sprache überstrapaziere (vgl. die Anmerkungen von margel)?
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Walter Lachenmann am 13.06.2003 um 12.07
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Schlimmer sind die so grundsätzlich bildungsfeindlichen Trennungen wie Teles-kop, Bi-omüll usw.
Bei einem Befürworter der Reform habe ich hierzu einmal gelesen, einem gebildeten Menschen stünde es ja auch weiterhin frei, seinem Bildungsgrad entsprechend zu trennen (also Tele-skop, Bio-müll). Ist das nicht sehr liberal gedacht? Gebildete wie Ungebildete sind also den Reformern zu Dank verpflichtet.
Mir ist völlig unbegreiflich, welcher Gedanke dahintersteckt, Trennungen wie »schöns-te« usw. vorzuschreiben, oder »am empfindlichs-ten«. Zum einen ist es ohnehin unprofessionell und auch meistens überflüssig, lediglich zwei Buchstaben als Silbe abzutrennen, zum andern wird dadurch die Grundform »schön« bzw. »empfindlich« zuerst verfremdet, bevor man das Ganze als Steigerungsform erkennt. Gewöhnungssache vielleicht, aber warum soll man sich an so etwas gewöhnen, wo die bisherige Lösung doch besser und keine Fehlerquelle war?
Die SZ brachte neulich die Blüte »das Aufsehen erregends-te« fertig. Wahrscheinlich sind es diese Sachen, die Herr Nerius so »spannend« findet. Da lacht das fröhliche Reformerherz!
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Walter Lachenmann
eingetragen von Wolfgang Scheuermann am 13.06.2003 um 10.03
Wie kann man denn an die (vergriffene) Preisschrift von Professor Ickler herankommen?
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Dr. Wolfgang Scheuermann
eingetragen von Theodor Ickler am 13.06.2003 um 08.07
Zur Theorie des Silbengelenks gibt es alternative Darstellungen und Terminologien ("Silbenschnitt"), aber in der Sache sind sich die Phonetiker ziemlich einig. In Wörtern wie backen, bitten, kommen gehört der mittlere Konsonant zu beiden Silben, anders gesagt: die erste Silbe endet anders als eine "offene" Silbe. Es ist so, als ob wir am Ende der ersten Silbe den Lautstrom abzwicken und am Anfang der nächsten wieder freigeben. Das soll in der Gelenkmetapher angedeutet werden. Gar nicht schlecht und noch am ehesten faßlich, wenn man an ein Laienpublikum denkt. Eisenberg hat das für meine Begriffe immer sehr gut dargestellt, und am wichtigsten ist für uns hier, daß damit die Verfehltheit der Trennung ba-cken sehr einfach dargetan werden kann.
Allerdings finde ich dieses Problem nicht so wichtig. Schlimmer sind die so grundsätzlich bildungsfeindlichen Trennungen wie Teles-kop, Bi-omüll usw.
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Th. Ickler
eingetragen von Norbert Schäbler am 12.06.2003 um 21.33
Daß es Scharniere und Gelenke gibt, welche die Bewegungen erleichtern, wissen wir aus dem Fachbereich Biologie und aus dem täglichen Leben.
Z.B. haben Türen jeglicher Art „Scharniere“, und auch der menschliche Körper hat solche – und zwar von jeglicher Art.
Wenn im Körper ein Gelenk aussetzt, seinen Dienst verweigert, oder gar bei der Arbeit irgend etwas eingeklemmt hat – z.B. einen Nerv – dann tut es weh, und am schlimmsten tut es weh im Kreuz.
Wir kennen das als Hexenschuß, als Ischias, oder gar als Bandscheibenvorfall (auch als Verstauchung, Prellung, Bruch und Bänderriß).
Gelenke oder auch Scharniere sind im Prinzip wunderbar, aber sie haben auch etwas Paradoxes an sich!
Da gibt es z.B. das Hüftgelenk, ein relativ steifes Teil.
Es ist in seiner Ausstattung gar nicht zu vergleichen mit dem Sattelgelenk, das sich z.B. am Daumen – unserem wichtigsten Fingergelenk – befindet, und trotzdem können der Mensch und viele Handwerker ohne Daumen leben und arbeiten – während –
wenn Ihnen der Ischias in den Leib fährt, dann können Sie einige Tage keine Arbeit verrichten.
Einfach seltsam ist das!
Dieser Tage war im Strang „Von den Reizen der neuen Rechtschreibung“ die Rede von Silbengelenken. Dabei ging es mehr oder weniger um einfache Trennungen nach Sprechsilben.
Eisenberg hat dazu vermerkt, „daß sich die Trennungen bei langsamem Sprechen automatisch ergeben“, was ja eigentlich gar nicht so schwer ist: – das langsame Sprechen –
(insbesondere dann, wenn man langsam denkt)!
Ich persönlich habe etwas gegen die Eisenberg-Theorie einzuwenden. Sie ist zwar absolut vereinfacht und sonnenklar, aber sie ist mir andererseits einfach zu oberflächlich. Sie geht davon aus, daß jedes Scharnier und jedes Gelenk gleich ist, doch das stimmt nicht (siehe: Einleitung).
Gerne habe ich mich während der heißen Phase der Rechtschreibreformkritik den „Soft-Trenns“ zugewendet; habe Plakate verfaßt, in denen Trennungen wie „alla-bendlich“, „Ura-roma“, „Dis-tanz“ und „Kons-tanz“ verewigt wurden.
Das reichhaltige Repertoire an Fehltrennungen war mir ein „innerer Parteitag“, eine „Tanzorgie“.
Leute, die an unseren Protestplakaten vorbeigingen, haben sich geschüttelt vor Lachen, haben spontan dieses abstruse obrigkeitsstaatlich verordnete Manöver wahrgenommen und haben die Platzpatronen gezählt.
Unabhängig von der Diskussion über die Trennung des „ck“ – hierbei erstaunt mich der Verwir(r)tseinsgrad – möchte ich den Blick lenken auf die „Hüft“-Silbengelenke. Das sind diejenigen Trennstellen, an denen z.B. Präfixe (oder jeder beliebige Wortstamm bzw. jede beliebige Wortart) mit anderen Wortstämmen und –arten zusammentrifft, und ich will nachhaltig darauf hinweisen, daß gerade bei der Getrennt- und Zusammenschreibung die Rechtschreibreform den größten Müll produziert hat.
Beispiele dafür (speziell im Bereich der Trennung) sind doch die aus dem Lateinischen stammenden Präfixe „re“, „inter“, „kon“, „sub“ …
Und was die Hüftgelenke angeht, so wird man früher oder später über das „Fugen-S“ sprechen müssen, das ehemals so herrlich in eine Ligatur eingezurrt wurde. Da schrieb man noch „Schloßstraße“ – neuerdings „Schlossstraße“.
Letzteres ist für mich ein Schuß in die Hüftgegend!
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nos
eingetragen von margel am 12.06.2003 um 20.58
Das Grundproblem, das hier zur Zeit mit viel Scharfsinn
diskutiert wird und vielleicht überhaupt nicht einer allseits
befriedigenden Lösung zugeführt werden kann, ist ja doch
die Frage nach dem Ursprung der Sprachnormen - seien sie nun
auf die mündliche oder auf die schriftliche Praxis bezogen.
Werden sie gefunden oder gesetzt? Und wenn gefunden, wie können sie dann verbindlich gemacht werden. Wer bestimmt, was
"richtig", was "falsch" ist?
Mit den Strukturen, verehrter Herr Wagner, ist das ja so eine Sache. Man gerät da leicht ins schwer Faßbare und
auch in Zirkelschlüsse.
Ein Hinweis zum Schluß: Th.Ickler hat in seiner Preisschrift von 1978 "Die Ränder der Sprache" hierzu einiges Erhellende
gesagt.
eingetragen von Wolfgang Scheuermann am 12.06.2003 um 08.03
Das scheint mir (als einem Laien) ein gelungener Ansatz zu sein. Wenn wir sozio- und vor allem dialektbezogene Besonderheiten einmal außer acht lassen (was hier sicher geboten ist), bleibt die Frage nach der Konstanz der "syntaktisch-grammatische(n) Struktur".
Ich habe hier (http://www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=17853) schon einmal auf diesen Punkt hinzuweisen versucht, da ich hoffe, daß er ein bißchen weiterhelfen kann: Die Sichtweise, daß es auf der einen Seite die ehernen, unveränderlichen Naturgesetze gebe, auf der anderen aber nur jederzeit änderbare menschliche Konventionen, ist m.E. mit Mängeln behaftet. (Sie erzeugt u.a. eine unangemessen tiefe Kluft zwischen - z.B. - Natur- und Sprachwissenschaftlern.)
Viel näher ist mir die hier von Herrn Wagner dargestellte Theorie: Die Sprache (und, abhängig davon, die rechte Schreibung) hat ihre "eigengesetzliche Struktur", ich füge hinzu, wie die Natur eben auch. Zusätzlich sind uns weder die "Sprachgesetze" noch die Naturgesetze a priori bekannt.
Sind Sprach- und Naturwissenschaften dann eigentlich gleich?
Nein, natürlich nicht, aber sie sind auch nicht disjunkt.
Naturgesetze haben eine "längere Laufzeit" (möglicherweise gelten sie "ewig"), und Konventionen haben in den Naturwissenschaften eine geringere Bedeutung - ein wirklich wichtiger Unterschied ist m.E., ob man sich mit einer "toten" oder mit einer "lebendigen" Sprache beschäftigt. Nehmen wir einmal kurz an, wir hätten eine vollständig dokumentierte, aber tote Sprache, so könnten wir (à la Wagner) - eine hinreichend lange Untersuchungszeit vorausgesetzt - ihre syntaktisch-grammatische Struktur erschließen und kämen dann mit einiger Wahrscheinlichkeit zu "ewiggültigen" Sprachgesetzen.
Eine lebendige Sprache dagegen wandelt sich, selbst in ihrer "syntaktisch-grammatischen Struktur" (wie langsam auch immer sich solche Veränderungen vollziehen mögen - manche Elemente dieser Struktur sind sicher über ausgesprochen lange Zeiten konstant, andere ändern sich in überschaubarer Zeit). Das heißt, ähnlich wie der 2. Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft gesetzt scheint, solange ein System lebt (und sich somit dem Streben nach maximaler Unordnung widersetzt), können wir einer lebendigen Sprache keine ewiggültigen Sprachgesetze abtrotzen, wir können die Sprache dann nur verstehen, wenn wir an ihrer Entwicklung teilhaben. Aber ich halte dennoch für unangemessen, Konventionen in diesem Bereich mehr als eine sekundäre Bedeutung beizumessen - das Primat hat für mich die von Herrn Wagner so bezeichnete (nur eben kontinuierlich neu zu beschreibende) syntaktisch-grammatische Struktur.
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Dr. Wolfgang Scheuermann
eingetragen von J.-M. Wagner am 11.06.2003 um 15.08
Im Anschluß an meinen Beitrag wissenschaftliche Nachprüfbarkeit (bei den Reizen der neuen Rechtschreibung) möchte ich noch einmal auf die Untersuchung der Struktur der Sprache, d. h. auf die Untersuchung von Syntax, Grammatik und Semantik zurückkommen, und ich möchte darstellen, wie ich mir im Idealfall den Zusammenhang mit der Rechtschreibung vorstelle.
(I.)
Das Ergebnis einer solchen Untersuchung ist im Idealfall etwas, das man als sprachliches Gesetz bezeichnen kann: Wie man bei Vorgängen in der Natur einen Ablauf nach bestimmten Prinzipien (die sich im Idealfall mathematisch ausdrücken lassen) feststellen kann, so kann man auch in der Sprache bestimmte Schemata ausmachen, wie etwa die sogenannte Satzklammer im Deutschen (und daß nichtrelative Subjekt- oder Objekt[neben]sätze nie im Mittelfeld des übergeordneten Satzes stehen). Um zu dieser Bezeichnung zu kommen, müßte überprüft werden, inwiefern diese Schemata allgemeingültig sind, oder ob sich nur ein Teilbereich der Sprache damit beschreiben läßt. Letztlich bedeutet es, daß die syntaktisch-grammatische Struktur der Sprache ermittelt wird. Das ist der erste Schritt auf dem Weg zur Rechtschreibung.
Diese Struktur ist es, die meines Erachtens in Verbindung mit dem Wortschatz die Sprache an sich ausmacht. Und ich behaupte, daß diese Struktur maßgeblich ist sowohl für die gesprochene wie für die geschriebene Sprache zumindest sollte sie dies auch für letztere sein, denn nur dann gibt es einen fundierten Zusammenhang und weitestgehende Eindeutigkeit in der Zuordnung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache.
Diese Zuordnung ist der zweite Schritt auf dem Weg zur Rechtschreibung. Ich setze dabei nicht voraus, daß die Sprache komplett regelhaft abbildbar ist, sondern daß sie grammatisch-syntaktisch-semantisch analysierbar ist. Rechtschreibung besteht dann meines Erachtens darin, daß es (neben der Laut-Buchstaben-Zuordnung, aber die ist hier relativ unwichtig) für eine gegebene grammatisch-syntaktische Konstruktion eine Anweisung gibt, wie diese in der Schrift abzubilden ist. Das ist sehr abstrakt formuliert, weil es die (idealisierte) Idee hinter der Rechtschreibung darstellen soll, nicht, wie man es praktisch macht. (Es sagt deshalb auch nichts darüber aus, wie diese Schreibanweisungen im Laufe der Zeit wirklich entstanden sind.)
(II.)
Dabei ergeben sich zwei Probleme: Zum einen besteht eine gewisse Wahlfreiheit bei der konkreten Gestaltung dieser Abbildung (im mathematischen Sinn, d. h. Zuordnung; hier von grammatisch-syntaktischer Struktur zum Schriftbild), zum anderen muß eine Handhabung für solche Fälle gefunden werden, in denen die strukturelle Analyse kein eindeutiges Ergebnis liefert. Dies ist zwar nun der Bereich der menschlichen Konventionen, aber nicht nur: Als Randbedingung verlange ich zum einen, daß das Regelwerk, zu dem man gelangen möchte, nicht im Widerspruch zur Struktur der Sprache steht (d. h. die schriftlich vorliegenden Ergebnisse dürfen, wenn man diese selbst wiederum strukturell [=syntaktisch-grammatisch] analysiert, nicht bzw. nicht ausschließlich zu etwas anderem führen, als man als Ausgangspunkt hatte; eine generelle eindeutige Umkehrbarkeit zu fordern, geht vermutlich zu weit und kann nicht erfüllt werden [man denke etwa an die Uneindeutigkeit bei modalen und resultativen Verbzusätzen]), und zum anderen, daß es in sich logisch konsistent ist.
Es mag trivial sein, aber ich halte es schlicht für unwissenschaftlich, ein Regelwerk aufzustellen, das in sich widersprüchlich ist. (Nota bene: Das ist eine Aussage über [bzw. eine Anforderung an] das Regelwerk und nicht über [bzw. an] die Sprache!) Die Wahrung der gedanklichen bzw. logischen Konsistenz bedeutet auch, sich selber und die Konsequenzen der eigenen Handlungen und Festlegungen ernstzunehmen, d. h. sie wahrzunehmen, zu bewerten und ggfs. zu korrigieren.
Das ist dann der dritte Schritt zur Rechtschreibung: Zur richtigen Schreibung kommt man, wenn die Regeln für die Umsetzung der sprachlichen Struktur (d. h. des Syntaktisch-Grammatischen der Sprache) in das Schriftliche in sich widerspruchsfrei sind (sofern die syntaktisch-grammatische Analyse an der betreffenden Stelle widerspruchsfrei möglich ist), und wenn die Schreibung dem konkreten, allgemein üblichen Schema der Umsetzung des Gesprochenen in das Schriftliche entspricht. So zumindest stelle ich mir den Idealfall vor, wie man in der Rechtschreibung zwischen richtig oder falsch unterscheiden kann.
(III.)
Wie ist es also damit:P. Schubert:Mir scheint, hier muß man aufpassen, daß nicht zwei Ebenen vermischt werden: Unter »sprachlicher Richtigkeit« verstehe ich etwas, das im Einklang ist mit der syntaktisch-grammatischen Struktur der Sprache, und eine entsprechende Regel ist eine zutreffende Aussage über die sprachliche Struktur. Dies ist also etwas, das zur obersten (im Sinne von übergeordnet, maßgeblich) Ebene gehört. Dagegen sind Behauptungen (Wortwahl P. Schubert) zur Großschreibung oder zur Trennung von "ck", wenn sie als bloße Vorschriften daherkommen (»sei großzuschreiben ... zu trennen«), direkt auf der rechtschreiblichen, d. h. auf der untersten (den anderen untergeordneten, von ihnen bestimmten) Ebene anzusiedeln.
Die Behauptungen, "Leid" sei großzuschreiben und "Bäcker" sei vor oder nach oder zwischen dem ck oder gar nicht zu trennen, betreffen dagegen keine Naturgesetze, sondern menschliche Konvention. Irgendjemand hat solche Regeln aufgestellt, und irgendjemand kann sie auch wieder ändern. Wer also behauptet, eine Regel über die sprachliche Richtigkeit sei falsch, muss erklären, nach welchem Maßstab er richtig und falsch unterscheidet.
Was dabei fehlt, ist die Aussage, wonach sich die Entscheidungen über die Groß- oder Kleinschreibung von Leid oder die Trennung von "ck" richten soll. Meine Antwort darauf ist, kurz gesagt, daß die sprachliche Richtigkeit der Maßstab ist, nach dem sich die Rechtschreibung zu richten hat.
Als Nebenergebnis meiner Überlegungen möchte ich abschließend darauf hinweisen, daß ein Rechtschreibregelwerk zwei Arten von konzeptionellen/prinzipiellen/sachlichen Fehlern enthalten kann: 1.) Die sprachliche Struktur wird falsch abgebildet. 2.) Es enthält innere Widersprüche.
– geändert durch J.-M. Wagner am 12.06.2003, 11.09 –
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Jörg Metes am 28.06.2002 um 14.47
In Langenscheidt's POWER Dictionary, einem Wörterbuch für die englischlernende Jugend (1. Auflage 1997, 8.Auflage 2002, völlige Neuentwicklung, Neue DUDEN Rechtschreibung), findet sich auf Seite 12 bei den Hinweisen für die Benutzung ein Abschnitt zum Thema Stichwortsuche und neue deutsche Rechtschreibung.
Es taucht darin der Begriff des getrennt geschriebenen Verbs auf, der wenigstens mir hier zum ersten Mal begegnet:
»Getrennt geschriebene deutsche Verben haben wir unter ihrem ersten Wort eingereiht. Wenn es sich um nur ein getrennt geschriebenes Verb handelt, findest du es häufig auch als Unterpunkt mit einer neuen arabischen Ziffer im Stichwortartikel des Grundwortes.«
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Jörg Metes
eingetragen von J.-M. Wagner am 02.06.2002 um 19.01
Unter der Überschrift Re: Adjektivische und substantivische Auffassung, Icklers Grammatikfehler! schrieb Wolfgang Wrase am 02.06.2002 als Teil des Diskussionsfadens "Alles durcheinander und falsch" im MAZ-Forum (zu "Vitzliputzli" siehe dort):
"Die Kommission hat sich dagegen der adjektivischen Auffassung nicht verschlossen und bereits 1997 vorgeschlagen hier sowohl die Groß- als auch die Kleinschreibung zuzulassen." Das heißt, die Kommission hat jahrzentelang keinen Zugang zu der Erkenntnis gehabt, daß bei "leid tun" die adjektivische Auffassung "möglich" ist - eine immer noch geradezu groteske Verharmlosung. Denn die "adjektivische Auffassung", die sich in dem klein geschriebenen "leid" ausdrückt, ist mit weit über 99 Prozent Anwendung in der gesamten Sprachgemeinschaft selbstverständlich gewesen. Dennoch hat die Kommission (die man genauso wie die "Reform" eigentlich immer in Anführungszeichen wiedergeben müßte) beschlossen, gegen diesen überwältigenden Befund eine "substantivische Auffassung" anzusetzen. Diese bzw. die Großschreibung ist seither in der Neuregelung für den Schulunterricht vorgeschrieben. Erst aufgrund der massiven Kritik an diesem absurden Gewaltakt - und nicht "schon 1997" - hat sich die Kommission dazu durchgerungen, die Kleinschreibung als Änderungsvorschlag zur Wiederzulassung vorzuschlagen. Allein dies genügt, die völlige Inkompetenz der Reformer zu belegen. Denn nichts ist einfacher, als aus der allgemein selbstverständlichen Kleinschreibung darauf zu schließen, daß hier eine grammatische Tatsache vorliegt, die man nicht per Beschluß ändern kann. Das hat mit Glaubenskämpfen überhaupt nichts zu tun. Offensichtlichen Unsinn als solchen zu bezeichnen und denjenigen, der ihn propagiert, als inkompetent einzustufen, das tun vernünftige Menschen nun einmal, dazu braucht man kein Fanatiker zu sein.
Vitzliputzli behauptet weiter, es sei ein grammatischer Fehler Icklers, jene "substantivische Auffassung" von "leid tun" nicht anzuerkennen. Nun, Professor Ickler hat einfach registriert, daß "leid tun" (so gut wie) immer klein geschrieben wird bzw. wurde und dies folglich als übliche Schreibung registriert. Daran ist nichts falsch, weder grammatisch noch sonstwie.
Vitzliputzlis Scheinargument für die "substantivische Auffassung": "Was hast du? Recht! Was tut es dir? Leid! Auf die Frage "was?" folgt nämlich entweder ein Substantiv oder ein Pronomen als Antwort, niemals ein Adjektiv!" Kommentar: Man sagt aber gar nicht: "Ihr wißt, was ich habe. Die Antwort ist: recht." Diese Ersatzkonstruktion kann man hier relativ gut verwenden, weil normalerweise haben + Substantiv/Pronomen kombiniert wird. Der Befragte erwartet dann auch als Antwort ein Substantiv/Pronomen und bekommt zu seiner Verblüffung dieses "recht" serviert. Dann rekonstruiert er die ganze Antwort in Gedanken: "Ach so, gemeint ist: recht haben." Das hat etwas Sprachspielerisches an sich, man spürt, daß die Konstruktion nicht normal ist. Man kann solche Ausnahmen nicht zur Regel erklären; es sind immer noch Ausnahmen, sie bestätigen ihrerseits - ein wenig Sprachgefühl vorausgesetzt, daß "recht" hier kein Sustantiv ist. Würde denn der gelehrte Vitzlipuztli schreiben: "Wißt ihr, was ich habe? Vollkommen Recht ..."? Daß er in seinem Beispiel das "Recht" an den Satzanfang stellt, ist nun wirklich kein Argument für wortartbezogene Großschreibung.
Man fragt vielleicht einmal: "Was tut es dir?" (Antwort = leid), aber eigentlich nur dann, wenn man das "leid" in der vorhergehenden Aussage "Es tut mir leid" nicht verstanden hat. Dann fragt man "Was tut es dir?", so wie man unverstandene Satzteile generell mit "was" erfragt: "Dann hast du ihn was?" (Zum Beispiel: ... mitgenommen.) "Dann ist Vitzliputzli was?" (Zum Beispiel: ... in die Anonymität gegangen.) Um dieses "was" handelt es sich hier, und damit wird alles mögliche "erfragt", zum Beispiel ein Verb. Wenn hingegen "leid tun" als Material vorliegt bzw. verfügbar ist, sagt man nicht: "Was tut es mir?" Auf diese Weise läßt sich "leid" gar nicht erfragen. Die entsprechende Frage wäre: "Was empfinde ich dabei?"
Man sollte schon ein bißchen etwas von Grammatik verstehen, bevor man sich über die angeblichen Grammatikfehler eines Fachmanns lustig machen will. Vitzliputzli ist dafür nicht geeignet.
(Die Erwiderung von "Vitzliputzli" findet sich in dem o. g. Forum.)
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Reinhard Markner am 28.05.2002 um 12.26
Google findet drei (3) Belege für diese fehlerhafte Konstruktion. Kein Grund zur Sorge, wie mir scheint.
eingetragen von Stephan Fleischhauer am 28.05.2002 um 08.08
Noch einmal zum Anfang des Fadens.
Wenn man sagt "Ich habe sehr Mitleid mit ihm", wird dann der grammatische Fehler sofort bemerkt? Werden "gesteigerte Substantive" zum Teil bereits toleriert?
eingetragen von J.-M. Wagner am 22.05.2002 um 21.27
Zitat:Das ist ja völlig klar, lieber Herr Markner. Die Frage ist aber m. E. erstens, um welche Art Problem es sich handelt, ein orthographisches, ein grammatisches oder ein semantisches. Und zweitens wies Herr Ickler darauf hin, daß es unter Umständen vorkommt, daß die fraglichen Konstruktionen (besser: "Gefüge"? ["Physiker, bleib' bei deinen Formeln -- und tu' nicht mehr in Worten kramen"?]) aus Substantiv und 1. Partizip auch schon vor der Reform vorkamen (Bsp.: Meine Medizin studierende WG-Mitbewohnerin erzählte, daß im Krankenhaus ...) und also nicht prinzipiell falsch, aber "unschön" sind. Die Frage ist also, ob es sich bei den Neuschreibungen lediglich um eine besonders häßliche Variante der Unschönheit handelt, oder um echte Fehler, und wenn letzteres zutrifft, von welcher Art der Fehler ist; außerdem erhebt sich die Frage, wie man die Fehler von den Unschönheiten abgrenzt. Die Antworten darauf sind mir noch nicht klar.
Ursprünglich eingetragen von Reinhard Markner
Durch die obligatorische Getrenntschreibung entfällt die Möglichkeit der fakultativen Getrenntschreibung. Das gilt auch im Falle von »so_genannt« usw. (»die von ihren Betreibern so genannte Reform« im Unterschied zu »die sogenannte Reform«). Ein Problem lag hier bislang nicht vor.
Herr Ickler schreibt zu § 36 in seinem Kritischen Kommentar (2. Aufl., S. 80):
»Ein rechtschreibliches Problem ergibt sich also hier in ganz anderer Weise als bei § 34: Man muß unterscheiden, ob überhaupt eine Zusammensetzung vorliegt oder eine Wortgruppe.« Das wird zum Beispiel bei dem »(an sich, bekanntermaßen) segenspendenden Herrn von Ribbeck«, welcher »(aktuell) Segen spendend durch seinen havelländischen Garten« wandelt, wichtig (S. 82). Die Probleme beginnen mit »Der Beginn war erfolgversprechend. -- Und nicht: *Der Beginn war Erfolg versprechend.« (S. 83) In der Fußnote auf ders. Seite folgt dann nach dem bereits angegebenen Beispiel (für den Parallelismus mit einem Adjektiv) noch dieses (»im harten philosophischen Stil«): Die Seele »ist Gott suchend, liebend und schauend und zu den höchsten menschlichen Strebungen fähig.« (Was auf den darauffolgenden Seiten des Kritischen Kommentars steht, ist für mich nicht so leicht verdaulich; ich werde es noch einige Male lesen müssen, bis ich es wirklich durchschaut habe.)
Das letztgenannte Beispiel hat mich auf eine (dumme?) Idee gebracht: Gibt es Substantivierungen zu den der Seele zugesprochenen Eigenschaften? Ich phantasiere einfach mal drauflos: Was betrachtet der Autor? Das Gott-suchend- bzw. -liebend- bzw. -schauend-sein der Seele? Und wie wäre das bei dem Parallelismusbeispiel: Geht es hier um das Aufschlußreich-und-die-Textkorpuswahl-unserer-Untersuchung-bestätigend-sein, und ist das evtl. auflösbar in das Aufschlußreich-sein und das Die-Textkorpuswahl-unserer-Untersuchung-bestätigend-sein? Oder geht es um eine Bestätigung der Textkorpuswahl unserer Untersuchung? Dann heißt das doch auf deutsch: Die Festellung XYZ ist aufschlußreich und bestätigt die Textkorpuswahl unserer Untersuchung -- oder? (Man könnte auch XYZ ist eine aufschlußreiche und die Textkorpuswahl unserer Untersuchung bestätigende Feststellung verwenden.) Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Und damit geht es bei der Seele darum, daß sie Gott sucht, ihn liebt und ihn schaut, und daß sie zu den höchsten menschlichen Strebungen fähig ist. Aber bedeutet das im philosophischen Verständnis noch das gleiche wie die Partizipialkonstruktion?
Hm, vermutlich habe ich hier nur aufgedröselt, was "ist stilistisch markiert" bedeutet, und wie man quasi diese "Markierung aufhebt". Andererseits ist das die gleiche Art der Aufhebung wie bei den gänzlich falschen Fällen wie Die Ader ist Erz führend: Wenn man hier das Wort Erz getrennt von führen verwenden will, muß es Die Ader führt Erz lauten, das ist ist überflüssig (vgl. die Kategorie des Erz-führend-sein -- d. h. die Eigenschaft, Erz-führend = erzführend zu sein). Wenn man aber das ist behalten möchte, bleibt nur noch erzführend übrig. -- Mir scheint das alles eher ein Fall für die Frage nach richtigem und gutem Deutsch zu sein, speziell nach der Verwendung von Verben: An denen habe ich jeweils bei meinen "Aufhebungen" etwas geändert, und zwar habe ich das "Gerangel" zwischen dem den prädikativen Gebrauch bestimmenden ist und dem sich auf das separate Substantiv beziehende 1. Partizip beseitigt; mir scheint, daß so eine Konstellation quasi ein "Satzaussagewort" zuviel hat. -- Warum aber gibt es kein Problem damit bei der zweiten Variante des folgenden Beispiels: Dies ist ein alles vorhergehende in den Schatten stellender Fall. / Dieser Fall ist ein alles vorhergehende in den Schatten stellender. / Dieser Fall ist alles vorhergehende in den Schatten stellend. / Dieser Fall stellt alles vorhergehende in den Schatten. -- Antwort: Es ist die erste Variante, nur mit um das eigentliche Prädikat "wie um eine Achse" herum bewegten Satzgliedern. --
Es ist schon spät; ich sollte besser nach Hause gehen, bevor ich hier noch mehr ... verzapfe, ohne zu einer wirklich hilfreichen Erkenntnis zu kommen.
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Martin Reimers am 16.05.2002 um 23.03
Vielen Dank, Professor Ickler, für den Hinweis. Vielleicht sollte ich das nächste Mal doch in eines Ihrer Bücher schauen. Bislang habe ich das ja stetes vermieden, weil der geballte Schwachsinn mir auch so schon genug zusetzt. Man kann ja bald nicht mehr klar denken, wenn einem jeden Tag eine Herde von Wortmonstern über den Weg läuft.
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Martin Reimers
eingetragen von Theodor Ickler am 16.05.2002 um 14.37
Ich wollte hier nicht so viel wiederholen, deshalb die Kürze. Also zum Beispiel in Reihung mit unverfänglichen Adjektiven kommen auch schon mal erweiterte Partizipien vor; ich habe S. 83 meines Kritischen Kommentars ein paar Fälle, etwa diesen: Aufschlußreich und die Textkorpuswahl unserer Untersuchung bestätigend ist aber ...
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Th. Ickler
eingetragen von Reinhard Markner am 16.05.2002 um 11.54
Durch die obligatorische Getrenntschreibung entfällt die Möglichkeit der fakultativen Getrenntschreibung. Das gilt auch im Falle von »so_genannt« usw. (»die von ihren Betreibern so genannte Reform« im Unterschied zu »die sogenannte Reform«). Ein Problem lag hier bislang nicht vor.
eingetragen von J.-M. Wagner am 16.05.2002 um 11.04
Zitat:Sind diese Sonderbedingungen erst im Zuge der Reform entstanden, oder gab es sie schon vorher, so daß hierbei eigentlich ein "altes Problem" wieder ins Blickfeld gerückt ist -- oder droht sich das alte Problem mit der Reformschreibung zu einem neuen (erheblicheren?) Problem zusammenzutun?
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
In attributiver Verwendung (und noch unter einigen Sonderbedingungen) kann die Schreibweise Besorgnis erregend nicht ausgeschlossen werden, außer bei Steigerung/Intensivierung. Vgl. Unmut erregend usw. Sie ist allerdings stilistisch markiert (gehoben, fachlich usw.). Prädikativ sollte das Partizip I ebenfalls normalerweise nicht verwendet werden, die Grammatiken von Duden und Bertelsmann schließen es schlicht aus.
Zitat:Na dann ist doch klar, worum es eigentlich geht; muß man sich das Leben unnötig schwer machen und alle möglichen Fälle von Besorgnis erregend in einem Durchgang abzuhandeln versuchen? Würde es nicht genügen, erst einmal genau die Fälle kritisch unter die Lupe zu nehmen, welche von der Reform hervorgerufen wurden?
Was den Bezug zur Wortart betrifft, so waren es die Reformer, die weiterhin von Substantivgroßschreibung redeten und damit gewisse Verpflichtungen eingingen, die sie nicht einlösen können.
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Martin Reimers am 15.05.2002 um 22.05
Im Moment kann ich mir zu den Sonderbedingungen, die eine attributive Getrenntschreibung "Besorgnis erregend" erlauben, nicht so viel vorstellen. Könnte es sein, daß der gerade weil eine Getrenntschreibung "Unmut erregend" denkbar ist, die von "Besorgnis erregend" Probleme aufwerfen würde, da die Gefahr einer Verwechslung mit dem Adjektiv "besorgniserregend" besteht?
Aus dem Rahmen fallen hier ja sicherlich die künstlich geschaffenen Sonderbedingungen im Duden, die zu stilistisch vollkommen indiskutable Formulierungen führen ("eine große Besorgnis erregende Entwicklung", "ein großes Aufsehen erregendes Ereignis"). Diese syntaktischen Monster sind einzig und allein zu dem Zweck gezüchtet worden, eine grammatisch gebotene Getrenntschreibung zu belegen.
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Martin Reimers
eingetragen von Theodor Ickler am 15.05.2002 um 13.51
In attributiver Verwendung (und noch unter einigen Sonderbedingungen) kann die Schreibweise Besorgnis erregend nicht ausgeschlossen werden, außer bei Steigerung/Intensivierung. Vgl. Unmut erregend usw. Sie ist allerdings stilistisch markiert (gehoben, fachlich usw.). Prädikativ sollte das Partizip I ebenfalls normalerweise nicht verwendet werden, die Grammatiken von Duden und Bertelsmann schließen es schlicht aus.
Was den Bezug zur Wortart betrifft, so waren es die Reformer, die weiterhin von Substantivgroßschreibung redeten und damit gewisse Verpflichtungen eingingen, die sie nicht einlösen können.
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Th. Ickler
eingetragen von J.-M. Wagner am 15.05.2002 um 13.22
Zitat:Finden Sie, daß Ihre Frage beantwortet wurde -- oder haben Sie den Eindruck, daß lediglich "eine Antwort gegeben" wurde (wie im Märchen vom klugen Hirtenknaben, welcher auf alle Fragen ein Antwort zu geben wußte)?
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Seit Beginn der Reformdiskussion vertrete ich die Maxime: "Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten." (...)
Nun könnte man fragen, ob das Umgekehrte ebenfalls gilt: "Was die Grammatik verbietet, kann die Orthographie nicht erlauben."
Falls letzteres der Fall sein sollte, versuche ich es noch einmal so:
Ich bevorzuge folgende Formulierung: »Was die Orthographie erlaubt, darf nicht zu grammatischen Inkonsistenzen führen.« (Was ich unter "grammatischer Inkonsistenz" verstehe, wird aus dem folgenden ersichtlich.)
Eigentlich kann ich Herrn Melsas Ausführungen zur Anwendung der Großschreibung nichts wirklich neues hinzufügen -- außer, daß man sich klarmachen sollte, welche Konsequenz die bisherige Regelung hat, unter welchen Umständen Großbuchstaben verwendet werden -- bzw. warum sie überhaupt benutzt werden: Was will man damit erreichen?
Zitat:Die Großschreibung ist zwar (m. E.) ein rein orthographisches Phänomen und hat daher (an sich) nichts mit Grammatik zu tun, jedoch führte die bisherige Verwendung großer Buchstaben zu einer (partiellen) Umkehrbarkeit der von mir beschriebenen Ursache-Wirkungs-Kette: Aus einer gegebenen Großschreibung des Anfangsbuchstabens eines Wortes ließen sich präzise Schlußfolgerungen über die Wortart ziehen (wenn man von dem Fall absieht, daß das Wort am Satzanfang steht). Nur darin kann m. E. der Sinn der Großschreibung liegen, daß diese Rückschlüsse ermöglicht werden. Diese Aussage mag trivial erscheinen, ich habe sie jedoch in der bisherigen Diskussion vermißt (auch wenn sie mehr oder weniger implizit aus anderen Beiträgen hervorgeht).
Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
Ich will ja gar nicht bestreiten, daß es im allgemeinen Schreibgebrauch einen klaren Zusammenhang zwischen der Verwendung der Großschreibung und bestimmten grammatischen Funktionen der groß geschriebenen Wörter gibt. Hierbei ist die Richtung von "Ursache" und "Wirkung" allerdings derart, daß eine gegebene grammatische Funktion über die Großschreibung entscheidet.
Durch die Rechtschreibreform wird genau dieses Prinzip durchbrochen, und das bedeutet, daß ein der bisherigen Orthographie zugrundeliegender Konsens aufgegeben wird! (Auch diese Aussage mag trivial erscheinen, ich halte sie aber für den Kern der Sache.) Damit ist die "falsche Großschreibung" m. E. ein orthographisches Problem, und zwar ein massives! Es ist eine völlig unbrauchbare orthographische Regelung, weil sie den Leser auf eine "falsche Fährte" führt, und weil dadurch die Sinnhaftigkeit der Großschreibung insgesamt in Frage gestellt wird.
Reformschreibungen wie sehr *Besorgnis erregend sind m. E. außerdem als grammatisch falsch zu bezeichnen, weil (bzw. wenn) sie adjektivische Funktion haben -- als Adjektiv ist besorgniserregend ganz einfach ein einziges Wort. Handelte es sich wirklich um ein erweitertes Partizip, so wäre die Verwendung eines Synonyms ohne "sprachliche Beeinträchtigung" möglich: Besorgnis hervorrufend, Besorgnis erzeugend etc. sind aber m. E. nur in Konstruktionen sinnvoll, in denen es um eine bestimmte Besorgnis geht, die hervorgerufen oder erzeugt (oder eben erregt) wird, und nicht um die adjektivische Feststellung, daß etwas an sich besorgnisserregend ist; dies wurde ja bereits am Beispiel fleischfressend (generelle Eigenschaft) und Fleisch fressend (konkret in diesem Moment Fleisch verzehrend) hinreichend diskutiert. Im Fall eines erweitereten Partizips kann aber sehr nicht ohne weiteres hinzugefügt werden, sondern nur, wenn es ein weiteres Adjektiv verstärt, welches sich auf Besorgnis bezieht: sehr große Besorgnis erregend.
Letztlich ist dieses Problem also ein semantisches, welches auf der grammatischen Ebene durch den Unterschied zwischen Adjektiv und Partizip in Erscheinung tritt -- und seinen Niederschlag in der Orthographie durch die Zusammen- oder Getrenntschreibung (in Verbindung mit der Großschreibung) findet. Damit ist auch noch einmal die Hierarchie klargestellt, welche m. E. den Maßstab dafür angibt, welche Ebene die Vorgaben für andere Bereiche liefert: Semantik --> Grammatik --> Orthographie. Diese Vorgaben zielen dabei notwendigerweise auf die Umkehrbarkeit dieser Kette in dem Sinn, daß von einer vorgefundenen Schreibweise auf die Bedeutung geschlossen werden kann. Daß dies nicht 100%ig gelingt, ist klar; jedoch sollte ebenso klar sein, daß dies das eigentliche Ziel ist und daß durch eine Änderung der Orthographie keine Verschlechterung eintreten sollte. -- Was meinen Sie zu diesen Antworten?
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von J.-M. Wagner am 05.05.2002 um 17.56
Zitat:Nochmal: In welchen Bereich gehören die Regeln zur Großschreibung? Ich will ja gar nicht bestreiten, daß es im allgemeinen Schreibgebrauch einen klaren Zusammenhang zwischen der Verwendung der Großschreibung und bestimmten grammatischen Funktionen der groß geschriebenen Wörter gibt. Hierbei ist die Richtung von "Ursache" und "Wirkung" allerdings derart, daß eine gegebene grammatische Funktion über die Großschreibung entscheidet. Das bedeutet nun aber noch nicht, daß die Großschreibung umgekehrt zwangsläufig etwas über die grammatische Funktion aussagt; davon kann man nur ausgehen, wenn es bei der Verwendung der Großschreibung keine Ausnahmen von den von Herrn Melsa beschriebenen Fällen gibt. Bislang war das zwar so -- aber muß es zwangsläufig so sein? Also: Inwieweit ist die Großschreibung per se grammatisch relevant? Welche Regel sagt einem das?
Ursprünglich eingetragen von Christian Melsa
Der Normalfall ist die Verwendung von kleinen Buchstaben. In bestimmten Fällen werden, fast immer nur am Wortanfang, große Buchstaben gesetzt. Die Regeln dafür, was groß geschrieben werden soll, sind ziemlich überschaubar: Wörter am Satzanfang, gewisse Anredepronomen und Substantive (bzw. substantivisch verwendete Wortgruppen). Eigennamen sind eine Untergruppe der Substantive. Alles andere jedoch wird auf jeden Fall klein geschrieben. Man kann die Lehren der Grammatik nicht einfach verwerfen, dazu noch höchst selektiv, nur um ein paar zu wenig bedachte Schreibweisenänderungen zu fundamentieren, deren anfängliche Begründung bei näherer Betrachtung völlig falsch ist. leid, recht, pleite, bankrott, feind, not usw. sind eben einfach keine Substantive, wo sie bisher schon klein geschrieben wurden. Das läßt sich ja mit ziemlich einfachen Proben (Wie-/Was-Fragen) nachweisen.
Ich will darauf hinaus, daß es hier einen Schwachpunkt gibt: Die grammatische Funktion eines Wortes im Satz ergibt sich z. T. aus der Satzkonstruktion; wie manche Präpositionen die Verwendung eines bestimmten Falles (z. B. des Dativs) nach sich ziehen, so ist manchmal allein aufgrund der Stellung eines Wortes im Satz klar, zu welcher Wortart es gehört. Unbestrittenermaßen ist das leid bei leid tun kein Substantiv, sondern ein Adverb [stimmt das?]. Diese Funktion würde es selbst dann besitzen, wenn es groß geschrieben werden würde (und zwar aus semantischen Gründen)!! Deshalb nochmal die Frage: Wie zwingend gilt die Umkehrung, daß ein innerhalb des Satzes groß geschriebenes Wort in eine der genannten Kategorien fällt?
Zitat:Meines Erachtens wäre das nicht erforderlich, denn man führte bei den Regeln zur Großschreibung lediglich eine weitere mit ein: daß eben *Leid tun geschrieben wird, obwohl es hier ein Adverb ist -- basta. Die alte Dudenregel R 61, die genau das verbietet, gilt ja nicht mehr. (In den Anmerkungen zu R 64 taucht das leid tun bei dem Verweis auf »alte Adjektive oder Adverbien« auf; dort wird auch explizit gesagt, daß es sich dabei nicht um das Leid handelt.) Grammatisch (und semantisch) gesehen bereitet das natürlich nur dann keine Schwierigkeiten, wenn man es nicht als ein Substantiv ansieht. (Und das ist doch nicht zuviel verlangt, oder? )
Ursprünglich eingetragen von Christian Melsa
Natürlich könnte man die neuen Schreibweisen dennoch durchsetzen, wenn man eben bei der Gelegenheit auch noch gleich die Grammatik mitreformiert.
Mit dem obigen Argument der syntaktisch bedingten Erkennbarkeit der grammatischen Funktion eines Wortes ließe sich m. E. auch die sog. liberalisierte Kleinschreibung begründen. Dies hat einen interesssanten Nebenaspekt: Da bei *Leid tun (und in anderen Fällen) die bislang in beiden Richtungen eindeutige Zuordnung von Schreibung und grammatischer Funktion aufgegeben wird, bedeutet dies eine Aufweichung der Kennzeichnungsfunktion der Großschreibung -- und damit einen Schritt hin zu ihrer Abschaffung. Aber das ist eine Spekulation am Rande.
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Christian Melsa am 05.05.2002 um 16.23
Ergänzung zu meinem vorigen Beitrag: Diese Lawine zu vermeiden, dürfte übrigens auch der Ursprung des Ansatzes von "Toleranz-Metaregeln" sein. Denn der Zwang, das eine an das andere anzupassen, etwa die Grammatik an neue Schreibweisen (oder eben die Schreibweisen an die Grammatik), wird durch gewisse Metaregeln bewirkt. Wenn die aber nun tolerant genug sind, ist der Startschuß zur Narrenfreiheit in der künstlichen Sprachkonstruktion gefallen. Man könnte es auch überspitzt als Grundlage zur Generalamnestie für Stümper bezeichnen.
(Ist ja schlimm, wie man durch die Ungeheuerlichkeit der Realität immer wieder in die Polemik getrieben wird!)
eingetragen von Christian Melsa am 05.05.2002 um 15.21
Zitat:Der Normalfall ist die Verwendung von kleinen Buchstaben. In bestimmten Fällen werden, fast immer nur am Wortanfang, große Buchstaben gesetzt. Die Regeln dafür, was groß geschrieben werden soll, sind ziemlich überschaubar: Wörter am Satzanfang, gewisse Anredepronomen und Substantive (bzw. substantivisch verwendete Wortgruppen). Eigennamen sind eine Untergruppe der Substantive. Alles andere jedoch wird auf jeden Fall klein geschrieben. Man kann die Lehren der Grammatik nicht einfach verwerfen, dazu noch höchst selektiv, nur um ein paar zu wenig bedachte Schreibweisenänderungen zu fundamentieren, deren anfängliche Begründung bei näherer Betrachtung völlig falsch ist. leid, recht, pleite, bankrott, feind, not usw. sind eben einfach keine Substantive, wo sie bisher schon klein geschrieben wurden. Das läßt sich ja mit ziemlich einfachen Proben (Wie-/Was-Fragen) nachweisen. Natürlich könnte man die neuen Schreibweisen dennoch durchsetzen, wenn man eben bei der Gelegenheit auch noch gleich die Grammatik mitreformiert. Interessant wäre allerdings, zu erfahren, wie dort dann die neuen Regeln lauten sollen, um die neuen Schreibweisen zu ermöglichen. Derartige Änderungen wären ja auch zugunsten einiger reformbedingter Getrenntschreibungen fällig. Und natürlich würden solche Änderungen bestimmt irgendwo wieder neue Probleme an anderen Stellen aufwerfen. Mit lawinenartigem Wachstum würden sich Sprachregeln auftürmen, die keine Wurzeln im Usus haben, sondern einzig und allein auf die Hirngespinste ein paar weniger unbedingt reformwilliger Orthographen zurückzuführen sind. In Anbetracht derer Motive - Vereinfachung - ein besonders tragisches Schauspiel.
Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
Das eigentliche "Problem" wäre also, inwiefern die Substantivgroßschreibung eine Frage der Grammatik ist oder "bloße orthographische Konvention" (und also ggfs. auch bei Abverbien angewendet werden kann). Aber ist das wirklich ein Problem?
eingetragen von J.-M. Wagner am 05.05.2002 um 14.28
Zitat:Nun kan man natürlich behaupten, die Schreibung es tut mir sehr *Leid sei insofern grammatisch nicht zu beanstanden, als sich das sehr auf *Leid tun als Ganzes beziehe und also bei es tut mir sehr *Leid kein "gesteigertes Substantiv" vorläge; vielmehr wäre sehr *Leid eine Konsequenz der grammatisch erforderlichen Umstellung des Verbs (wie bei guttun -- sehr gut tun -- es tut mir sehr gut).
Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
Insofern halte ich die Aussage an sich, es tut mir *Leid sei grammatisch falsch, für nicht unmittelbar klar und eindeutig - im Gegensatz zum Fall des es tut mir sehr *Leid. (Zwar folgt daraus etwas für den anderen Fall, aber das kann man ja mal ignorieren - wenn man sich in puncto Grammatik disqualifizieren will.)
Damit geht man aber der eigentlichen Frage aus dem Weg -- nämlich der danach, ob es hier um das Wie oder um das Was geht. Die Antwort ist einfach: Es geht hier nicht um das Leid (vgl. unten: Leid - was ist das?), und also geht es um das Wie. Das gleiche gilt für weh tun und sehr weh tun -- hier wird weh weiterhin klein geschrieben, obwohl es auch das Weh gibt. (Dazu ein Beispiel: Bei bestimmten Behandlungen wie z. B. Massagen kann man fragen, wie es demjenigen damit geht: Tut es dir gut, oder tut das weh? Eine Was-Frage müßte in diesem Zusammenhang lauten: Tue ich dir damit etwas Gutes?)
»Was die Grammatik verbietet, kann die Orthographie nicht erlauben« -- über die Gültigkeit dieser Aussage kann nur entschieden werden, wenn klar ist, was zur Grammatik gehört. Das eigentliche "Problem" wäre also, inwiefern die Substantivgroßschreibung eine Frage der Grammatik ist oder "bloße orthographische Konvention" (und also ggfs. auch bei Abverbien angewendet werden kann). Aber ist das wirklich ein Problem?
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Christian Melsa am 02.05.2002 um 15.04
Dies ist die Originalschreibweise aus dem Offenen Brief der Familie Steinhäuser:
Uns tut es unendlich leid, dass unser Sohn und Bruder so ein entsetzliches Leid über die Opfer und ihre Angehörigen, die Menschen in Erfurt und Thüringen, über ganz Deutschland gebracht hat.
Da Leid also im selben Satz gleich noch einmal in seiner eigentlichen substantivischen Rolle auftaucht, erschien es sicherlich als unangebracht schief, leid ebenfalls groß zu schreiben. Das heißt, falls es sich überhaupt um eine bewußte Entscheidung handelt.
Das Hamburger Abendblatt jedenfalls druckt in der heutigen Ausgabe diesen Brief als Foto ab und ist sich nicht zu albern zu der Überschrift:
"Es tut uns so Leid", schreiben die Eltern
eingetragen von Ruth Salber-Buchmüller am 02.05.2002 um 11.58
Der OFFENE BRIEF der Eltern
des Robert S. wird in der WELT
wiedergegeben mit: "Es tut uns
unendlich Leid".
Die WAZ hingegen schreibt auf der
ersten Seite in der Überschrift:
Die Eltern des Amokläufers:
"Es tut uns leid".
Es kann durchaus sein, daß hier
ein weisender Finger des Chefredakteurs
wirkt.
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Ruth Salber-Buchmueller
eingetragen von Elke Philburn am 30.04.2002 um 21.18
Zitat:
Sich an die Großschreibung *Leid tun zu gewöhnen, bedeutete meines Erachtens, sein Sprachgefühl auf übelste Weise zu beschädigen.
Tippen Sie mal so leid es mir tut in Google ein. Trotz der gut 1500 Verweise ist die vorgeschriebene Großschreibung nach wie vor eine Seltenheit, die sich fast nur auf den Seiten der Reformkritiker findet.
Die Volksverblödung hat eben ihre Grenzen.
eingetragen von J.-M. Wagner am 30.04.2002 um 19.20
Zitat:Was bedeutete es, daran keinen Anstoß zu nehmen? Zwei Dinge:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Kann man sich z. B. so sehr an Leid tun gewöhnen, daß man daran keinen Anstoß mehr nimmt, sondern allenfalls nach einiger Besinnung sagt: Also eigentlich müßte das ja klein geschrieben werden, aber es ist nun mal der Usus, es groß zu schreiben?
a) Wenn es jemand vorliest, hört man immer dieselbe Aussage "DAS TUT MIR LEID", ganz egal, ob LEID groß oder klein geschrieben wurde. Daher stellt dies m. E. keinen Grammatikfehler im unmittelbaren Sinne dar (wie etwa bei weil mit Hauptsatzstellung - aber in welchem Sinne ist das eigentlich "falsch", außer, daß es unüblich ist?), und das ist m. E. der Ansatzpunkt für die Versuchung, sich daran zu gewöhnen. Dagegen hat man bei sehr *Leid tun quasi ein "gesteigertes Substantiv" vor sich, und das paßt nicht zu der bestehenden Grammatik.
Insofern halte ich die Aussage an sich, es tut mir *Leid sei grammatisch falsch, für nicht unmittelbar klar und eindeutig - im Gegensatz zum Fall des es tut mir sehr *Leid. (Zwar folgt daraus etwas für den anderen Fall, aber das kann man ja mal ignorieren - wenn man sich in puncto Grammatik disqualifizieren will.)
b) Wenn man weiterhin von der (von Herrn Melsa sehr interessant beleuchteten) Kennzeichnungsfunktion der Großschreibung von Substantiven (u. ä.) ausgeht, ist das LEID von *Leid tun gleichbedeutend mit (dem) Leiden (vgl. auch "Erlkönig hat mir ein Leids getan"). Oder mit einem Verb ausgedrückt: "Leid" bedeutet, daß derjenige leidet, auf den es sich bezieht. Das ist bei leid tun aber nicht gemeint, sondern man will ausdrücken, wie man sich in bezug auf jemand anderen fühlt (und wenn bei einem ein Leid vorliegt, dann eher bei jenem). Dabei leidet man selber nicht, sondern man ist betrübt und bedauert etwas auf besonders mitfühlende Weise. Würde man selber leiden, so würde man nicht sagen, daß einem etwas leid tut, sondern daß es einem verdammt dreckig ginge (o. ä.). (Ich will damit nicht ausschließen, daß sich jemand übermäßig um jemand anderen sorgt und nicht nur betrübt ist, sondern deswegen selber leidet - wie z. B. eine Mutter, wenn es um ihr Kind geht -, aber dann ist die Wortwahl tut mir leid fehl am Platz, da unzutreffend bzw. "daneben".)
Die Reformschreibung *Leid tun ist semantisch falsch, denn sie liefert aufgrund der grammatisch relevanten Großschreibung nicht das mit leid tun Gemeinte. Mehr noch: Aufgrund dieses Fehlers ist sie ein Hohn, ja fast ein Affront gegenüber jenen, die wirklich leiden.
Sich an die Großschreibung *Leid tun zu gewöhnen, bedeutete meines Erachtens, sein Sprachgefühl auf übelste Weise zu beschädigen.
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Jan-Martin Wagner
eingetragen von Christian Melsa am 09.04.2002 um 19.32
Bekanntlich war die Großschreibung ja ursprünglich so eine Art Verzierung, gleichzeitig natürlich auch Hervorhebung, gewissermaßen eine Hervorhebung durch Verzierung. Das läßt sich besser nachvollziehen, wenn man bedenkt, wie die Buchstaben aussahen, als die deutsche Sprache in Schrift richtig lebendig zu werden begann.
Zufällig habe ich gerade gestern ein paar alte Schriften verglichen und auf Großschreibung untersucht. Interessanterweise ist die Substantivgroßschreibung schon in Luthers Bibelübersetzung vorhanden (zumindest in der letzten Revision von seiner Hand; diese hatte ich vorliegen). Es werden nicht nur die Eigennamen mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben, sondern auch die meisten Substantive - aber uneinheitlich, sogar beim selben Wort. Ein paar Beispiele aus dem Markusevangelium:
[...] Denn alles Volck verwundert sich seiner lere. (Kapitel 11, Vers 18)
[...] Sagen wir aber, sie war von Menschen, so fürchten wir vns fur dem volck. [...] (11,32)
Was wird nu der Herr des weinberges thun? Er wird komen, vnd die Weingartner vmbbringen, vnd den Weinberg andern geben.(12,9)
Oder im Römerbrief:
Sind wir auch Kinder, so sind wir auch Erben, nemlich. Gottes erben und miterben Christi. [...] (8,17)
Hervorhebungen natürlich von mir. So wild es auch durcheinandergeht - wenn Wörter groß geschrieben werden, sind es aber immer Substantive. Andere Wortarten scheinen einzig und allein am Satzanfang groß geschrieben worden zu sein (ich habe jedenfalls noch kein Gegenbeispiel gefunden), denn der beginnt ja sowieso immer mit einem Großbuchstaben.
Und hier komme ich von der Historie wieder zurück auf die Grammatik. Auch in der gegenwärtigen (unreformierten) Rechtschreibung werden zwar manche strenggenommen als Substantive zu klassifizierenden Wörter unter bestimmten Umständen klein geschrieben, aber niemals eine andere Wortklasse groß, es sei denn, sie gehören zu einer nominationsstereotypischen Wortgruppe wie Erste Hilfe, Schneller Brüter usw., dann wird eben die gesamte Wortgruppe als Ganzes wie ein Substantiv behandelt, es folgt also immer noch dem Schema der Substantivgroßschreibung zur Kennzeichnung der Redegegenstände. Abweichend davon sind nur die groß geschriebenen Anredepronomen (Du, Sie, Ihr, Ihnen, Euer...).
Leid in Das tut mir Leid, Recht in Wie Recht du doch hast usw. sind aber ja nun erwiesenermaßen keine Substantive, sondern nur homonym zu welchen. Darüber hinaus werden andere Wörter in parallelen Konstruktionen wiederum klein geschrieben: Wie weh mir das tut vs. Wie Leid mir das tut. Man müßte also schon auf den naiven Grundsatz zurückgreifen, alles, was auch als Substantiv vorkommt, auch in anderen Situationen groß zu schreiben, um die Großschreibung von Leid, Recht, Feind in den entsprechenden Fügungen zu rechtfertigen. Das würde natürlich der Kennzeichnungsfunktion der Großschreibung völlig zuwiderlaufen.
eingetragen von Norbert Schäbler am 09.04.2002 um 16.50
Als Lehrer und „Zwischenhändler“ in Bildungssachen schließe ich mich der Meinung von Professor Ickler an. Für mich war die Grammatik immer ein tragender Pfeiler des Rechtschreibunterrichts, zumal mit ihrer Hilfe im Unterricht zahlreiche Analogien erst ermöglicht wurden und sich letztlich auch erst mithilfe der Grammatik freies, wörterbuchunabhängiges und sprachgefühlhaftes Schreiben herausbilden kann.
Beispiele für Unabhängigkeit beim Schreiben habe ich in obigem Satz in Form zweier Attribute gegeben. Laut Wörterbuch sind sie unmöglich und zu beanstanden.
Herrn Icklers Vergleich mit den Bauwerken gefällt mir außerordentlich gut. Nichts habe ich einzuwenden gegen Fresken, gegen kunstvollen Schmuck oder Stuck, gegen ein Sammelsurium selbst widersprüchlichster Baustile an fremden Hausfassaden. Das ficht meine Toleranz nicht an.
Wenn mir aber ein Mensch vom Bauamt erzählt, er könne meinen eigenen Bau erst genehmigen, nachdem ich Fresken eingekauft hätte bei irgendwelchen Gauklern und Flohmarkthändlern, dann sorge ich dafür, daß der Mensch wegen mutmaßlicher Bestechlichkeit aus dem Bauamt fliegt.
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nos
eingetragen von Reinhard Markner am 09.04.2002 um 16.28
Glücklicherweise hat nicht erst die Reformkritik den an zweiter Stelle genannten Grundsatz befolgt (wenn auch vielleicht erstmals explizit aufgestellt, was zu klären wäre), denn andernfalls hätte doch die Duden-Redaktion längst "herzlich Willkommen" sanktionieren müssen, von den Reformern einmal abgesehen, die ja bekanntlich gerne Substantive und gleichlautende Wörter anderer Wortarten verwechseln.
eingetragen von Theodor Ickler am 09.04.2002 um 16.03
Seit Beginn der Reformdiskussion vertrete ich die Maxime: "Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten." So steht es u. a. in meinem Beitrag in der FAZ vom 14.11.1997, und ich wollte damit Schreibweisen wie Rad fahren gegen den alten Duden (in orthodoxer Auslegung) verteidigen.
Nun könnte man fragen, ob das Umgekehrte ebenfalls gilt: "Was die Grammatik verbietet, kann die Orthographie nicht erlauben."
Die Frage ist nicht ganz unwichtig, weil ein großer Teil unserer stärksten Einwände gegen die Neuregelung ja darauf beruht, daß die neuen Schreibweisen grammatisch falsch sind: sehr Besorgnis erregend, Bankrott gehen usw.
Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, daß formelhafte Wendungen entgegen ihrer (dadurch verdunkelten) grammatischen Struktur geschrieben werden - wie an einem Bauwerk ein funktionslos gewordenes Detail gleichsam als Schnörkel weiterlebt.
Kann man sich z. B. so sehr an Leid tun gewöhnen, daß man daran keinen Anstoß mehr nimmt, sondern allenfalls nach einiger Besinnung sagt: Also eigentlich müßte das ja klein geschrieben werden, aber es ist nun mal der Usus, es groß zu schreiben?
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Th. Ickler
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