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-- Frühe Kritik: Kuhlmann (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=616)
eingetragen von Theodor Ickler am 12.02.2003 um 08.20
Auf die bemerkenswerten Arbeiten von Heide Kuhlmann ist bereits hingewiesen worden. Hier noch einmal ein früher Aufsatz von ihr:
"Schreiben doch nicht light? - Über Sinn, Unsinn und bevorstehenden Exitus einer Rechtschreibreform"
In: Z – Zeitschrift für Kultur- und Geisteswissenschaften, Nr. 10, 1995/96, S. 83-85.
Den Niedergang der deutschen Schriftkultur oder gar den Untergang des Abendlandes würde die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung - oder was nach siebenjährigem Hickhack von den zum Teil befremdlich anmutenden Reformvorschlägen geblieben ist - nicht bedeuten. Für derartige Bedenken schien es ohnehin zu spät, galt doch die Verabschiedung des Reformpaketes durch die Kultusministerkonferenz (KMK) am 28. September [1995] als bloße Formsache. Das Regelwerk, ausgearbeitet von Linguisten und Beamten der zuständigen Kultusministerien, liegt bereits seit neun Monaten vor. Um so erstaunlicher ist es, daß die Verantwortlichen, die Kultusminister selbst, sich erst drei Wochen vor der entscheidenden Sitzung mit den Details der Reform, die in ihrem Auftrag entstand, auseinanderzusetzen begannen. Hans Zehetmair, der bayerische Amtsinhaber, machte den Anfang: Der Reformvorschlag sei ohne Korrekturen "nicht akzeptabel" (Der Spiegel, Nr. 37/1995). Die Entscheidung wird vorerst bis zur nächsten KMK-Sitzung im Dezember vertagt, mit ungewissem Ausgang.
Die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Vereinfachung der deutschen Orthographie wird heute kaum ernstlich angezweifelt. Für eine neue, übersichtlichere Darstellung der Regeln und die Beseitigung offenkundig willkürlicher (Vor-)Schreibungen hätte es einer Reform, wie die beteiligten Sprachwissenschaftler sie verstanden wissen wollen, nicht bedurft. Am Ende der langjährigen Arbeit der Experten steht dennoch deutlich mehr als nur eine "begrenzte Unfugbereinigungsaktion" (Die Zeit, Nr. 38/1995). Der öffentliche Diskurs kreist währenddessen um immer gleiche Einzelbeispiele, ohne Prinzip und Umfang der Reform kritisch zu hinterfragen.
Woher kommt der schier unerschöpfliche Reformdrang der Neuregler, der weit über jene Ziele hinausgeht? Über ihre Motive ist nur wenig Konkretes in Erfahrung zu bringen, die Frage wird erst gar nicht gestellt: Die amtliche Regelung von 1901/02 müsse den 'heutigen Erfordernissen' angepaßt, die in vielen Teilbereichen 'im Laufe der Zeit kompliziert gewordenen Regeln' vereinfacht werden. Man wolle das Erlernen der Schriftnorm erleichtern, Aussprache und Schreibung (die Laut-Buchstaben-Beziehungen) besser aufeinander abstimmen, die Morphem-Konstanz konsequenter durchsetzen.
Über die 'heutigen Erfordernisse' lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Es drängt sich - nicht zuletzt angesichts drastischer Einsparungen im gesamten Bildungs- und Kulturbereich - unweigerlich der Verdacht auf, vermittels einer Simplifizierung der Orthographie sollten didaktisch verursachte Rechtschreibschwächen kompensiert werden. Die Schule als eine mögliche Ursache für wachsende Rechtschreibprobleme kommt auch für Zehetmair selbstverständlich nicht in Betracht. Er sieht in der Häufung der Orthographiefehler (die als solche übrigens nicht nachgewiesen ist) lieber "ein Symptom für die Oberflächlichkeit unserer Zeit" (Der Spiegel, a.a.O.) und verweist auf die bundesrepublikanischen Bildungsanstalten, die sich "mit einigem Erfolg" (ebd.) um die Entwicklung von Sprachkompetenz bemühten. Das Bündnis zwischen Politik und Wissenschaft lag, so schien es, offen zutage, ermöglichte doch erst die politische Weichenstellung nach 1986 die ernsthafte Inangriffnahme einer Reform, deren Prinzip wesentlich auf Einsparung beruht: Reduzierung von Buchstabenkombinationen, Bedeutungen, Regeln. Es hätte beinahe funktioniert, wäre Minister Zehetmair nicht urplötzlich von einem "inneren Widerstand" (ebd.) heimgesucht worden.
Die Kritik seitens intellektueller Kreise an dieser Form der 'Vereinfachung' war und ist stets begleitet vom Vorwurf der Emotionalität, der Unsachlichkeit oder gar der Ideologisierung. Das Gerede vom bevorstehenden 'Kulturbruch' oder dem um sich greifenden 'Neo-Analphabetismus' ist für sich genommen tatsächlich wenig stichhaltig. Auch Zehetmair muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß seine Kritik an der Reform zwar von ehrlicher Entrüstung zeugt, inhaltlich jedoch an mangelnder Substanz leidet. Schlimm genug, neben der sehr verspäteten Einsicht, es gehe hier nicht um irgendeine Vereinbarung, sondern um einen folgenreichen Beschluß, daß der bayerische Kultusminister ein Nachrichtenmagazin nötig hat, um sich zu einer noch intensiveren Auseinandersetzung mit dem Reformpaket anregen zu lassen, dessen Regeln er bislang "noch nicht gut genug" (ebd.) kennt.
In Zeiten, in denen die Bedeutung elektronischer Medien kontinuierlich wächst, immer weniger Menschen Bücher lesen oder anderes als Steuererklärung und Einkaufsliste zu Papier bringen, mag ein beinahe libidinöses Verhältnis zu Sprache und Schrift antiquiert erscheinen. Dennoch: "Kultur hat immer mit Anstrengung und Herausforderung zu tun", wie Werner Keller, Präsident der Goethe-Gesellschaft Weimar, treffend bemerkte (Westfalenpost vom 02.12.1994). Die Frage, ob es sinnvoll ist, ohnehin bedauerliche Entwicklungen durch eine Primitivierung der Schreibung zu unterstützen, muß weiterhin gestellt werden dürfen.
Wer bei dem Vorwurf der Primitivierung eitlen Bildungsdünkel vermutet, irrt - es handelt sich insbesondere im Bereich der Fremdwortschreibung um einen solchen aktiven und dazu wenig transparenten Vorgang: Die Neuregelung sieht eine 'gezielte Variantenführung' vor, d.h. im Gegensatz zur heutigen Verfahrensweise, nach der neue Schreibungen erst in Wörterverzeichnisse aufgenommen werden, nachdem sie sich verbreitet haben (und alte Schreibungen erst getilgt werden, wenn sie durch neue verdrängt worden sind), werden künftig 'integrierte' (sprich: eingedeutschte) Varianten zugelassen, wo bereits die Mehrzahl ähnlicher Wörter integriert ist. In Wortgruppen mit 'angebahnter Integration' werden entsprechende - noch nicht existente - Varianten ausgetüftelt und vorgeschlagen, die Entwicklung damit vorweggenommen. Diese Verfahrensweise schafft eine Flut von Doppelschreibungen, die weder zur Vereinheitlichung noch zur Vereinfachung der Orthographie beiträgt. Die Entscheidung über die Wahl der Variante bleibt - wie bisher - in den meisten Fällen dem Schreibenden überlassen, allerdings nicht ohne bemerkenswerte Ausnahmen: 'Bildungssprachige' Wörter (z.B. Metapher) gelten den Reformern hinsichtlich ihrer fremdsprachigen Schreibung als stabil, spätestens hier findet die neue Liberalität ein jähes Ende. Vor diesem Hintergrund darf man sich getrost wundern, warum für einen medizinischen Fachterminus wie Hämorrhoiden eine eingedeutschte Variante gesucht und gefunden wurde. Ob hier oder bei der konsequenteren Durchsetzung des Stammprinzips, welches absurd wird, wenn Wortstämme phantasievoll aber falsch hergeleitet werden, bei der 'modifizierten Großschreibung' oder der neuen Kommaregelung, die in weiten Teilen eher einer Komma-Empfehlung gleicht, die Reform läßt es in mancher Hinsicht an Stringenz und Klarheit fehlen.
Ein 'Esperanto der Verschriftung' hat bisher niemand gefordert. Die Sprachwissenschaftler halten eine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen Lauten und Buchstaben zumindest theoretisch für möglich und sehen darin eine wünschenswerte, erhebliche Vereinfachung der Rechtschreibung. Dies kommt der Einführung einer Art Lautschrift - und damit der Aufgabe der gegenwärtigen Schreibkultur - gefährlich nahe. Wenn dieses Ansinnen, und manches weist bereits in diese Richtung, in den vorliegenden Reformvorschlägen nur sehr zaghaft durchgesetzt worden ist, dann allein aus Rücksicht auf die zu erwartenden Proteste. Selbst wenn der aktuelle Vorschlag - wie alle bisherigen - scheitern sollte, künftige Reformversuche werden es an aufregenden Neuerungen nicht fehlen lassen. Schließlich enthalten linguistische Systemanalysen "durchweg unausgesprochene Zielvorstellungen" (H.H. Munske: Überlegungen zur Rechtschreibreform [...]. In: Zeitschrift f. germ. Linguistik, 23.1/1995, S. 61). Man wird eben warten, bis die Sprachgemeinschaft endlich 'bereit' ist für den vermeintlichen Königsweg.
Wie gut Rechtschreibung beherrscht wird, hängt nicht nur von der 'Qualität' der Regeln ab, sondern auch davon, wie diese gelehrt werden. Jede Regel muß erlernt werden, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, die neuen machten dabei weniger Mühe als die alten. Zu befürchten wäre jedoch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft von Schreibenden, wobei sich die eine nicht allein durch sicherere Beherrschung der Orthographie, sondern durch Anwendung einer wesentlich anderen Schriftnorm abheben würde. Daß Reformbefürworter Hermann Zabel, entnervt vom ständigen Kampf gegen allzu undifferenzierte Pressekampagnen, die Schlagzeile "Reuma und Astma für die Masse, Physik und Philosophie für die gehobene Klasse" (Ärzte Zeitung; zit. nach Zabel: Die 3. Wiener Gespräche [...]. In: Muttersprache, Juni 1995, S. 131) als eines der wenigen Beispiele wertet, in denen die Ergebnisse der Wiener Konferenz vom November 1994 "kurz und zutreffend" (ebd.) beschrieben werden, läßt hinsichtlich der zu erwartenden Entwicklungen tief blicken.
Ein Scheitern dieser Reform, die sich wohl kaum mit der Umstellung des Postleitzahlensystems vergleichen läßt, wie Dieter E. Zimmer jüngst in der Zeit (a.a.O.) behauptete, würde - außer vielleicht bei den beteiligten Linguisten - keine große Trauer auslösen. So lange jene sich nicht von ihren Vorstellungen lösen, wird es auf absehbare Zeit keine 'Unfugbereinigung' im Duden geben, obwohl sie nötig wäre.
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Th. Ickler
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