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-- Kommentar zur Beschlußvorlage 2004 (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=770)
eingetragen von Detlef Lindenthal am 27.01.2004 um 07.58
1. Sprachverbote
Die Kommission spricht von einer „Überlastung der Politik mit Fragen, die einer politischen Bewertung nicht zugänglich und allein fachlich zu entscheiden sind“, erklärt also die Politik für unzuständig. Das ist ganz schön dreist, das Hunderl beißt sein Herrchen.
Halt – „fachlich zu entscheiden“??? An der gesamten „Reform“ ist niemals etwas fachlich entschieden worden, denn eine Fachleuteanhörung haben die „Reformer“ gemieden wie der Teufel das Weihwasser.
Wörterverbote und Grammatikverbote sind durchaus eine politische (antipolitische, menschenfeindliche) Angelegenheit; ebenso die Tatsache, daß an unseren Schulen die in den Nachrichtenredaktionen benötigte Zeichensetzung nicht mehr unterrichtet werden darf.
2. Fachsprache?
Sprache ist doch gerade dafür da, daß sich Menschen verschiedener Fächer miteinander verständigen können. Daß es dagegen „Fachsprachen“ gäbe, gar noch mit jeweils eigener Rechtschreibung, ist mir aus meiner Schul- und Berufszeit nicht erinnerlich; es muß eine Erfindung der „Reformer“ sein; sowas meinen sie dann mit „Vereinheitlichung der Rechtschreibung“.
Meine Meinung dazu: Ein Beamtenstaat dreht durch. Er frißt sich selbst auf.
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Detlef Lindenthal
eingetragen von Theodor Ickler am 27.01.2004 um 05.03
Kommentar zur Beschlußvorlage der KMK vom 14. Januar 2004
von Theodor Ickler
Unter Ausschluß der Öffentlichkeit wird zur Zeit daran gearbeitet, die Weichen für die Durchsetzung der sogenannten Rechtschreibreform endgültig zu stellen. Ab August 2005 soll es als Fehler geahndet werden, wenn Schüler so schreiben, wie es bisher üblich war und von allen namhaften Schriftstellern, von den deutschen Akademien der Wissenschaften und der schönen Künste, schließlich auch von einer überwältigenden Mehrheit der Gebildeten für richtig gehalten wird. Die Beschlußfassung ist für den 5. Februar 2004 vorgesehen. Aus dem vorliegenden Textentwurf lassen sich weder die Tragweite der Beschlüsse noch die eigentlichen Ziele der Reformer leicht erkennen. Auch mag die Abstumpfung des Sprachgefühls durch Gewöhnung an die reformgeschädigte Zeitungsorthographie schon ein Stück weit vorangekommen sein. Deshalb scheinen einige Erläuterungen angebracht. (Die Beschlußvorlage ist im wesentlichen vom hessischen Ministerialrat Christoph Stillemunkes ausgearbeitet worden; beteiligt war ferner Ministerialrat Dr. Tobias Funk vom Sekretariat der KMK.)
1. Aus dem dritten Bericht wird das Propagandamärchen von der hohen und immer noch zunehmenden Akzeptanz der Rechtschreibreform übernommen. Repräsentative Untersuchungen sind dazu nicht vorgelegt worden. In Wirklichkeit breitet sich eine (weithin fehlerhafte) Neuschreibung deshalb aus, weil sie den Zeitungsredaktionen aufgenötigt worden ist und weil einige Geschicklichkeit dazu gehört, sie aus den Voreinstellungen der Textverarbeitungsprogramme zu entfernen. (Was die Reform dort, wo sie „akzeptiert“ ist, in den Texten angerichtet hat, kann in einer gesonderten Dokumentation nachgelesen werden: „Folgen der Rechtschreibreform in Texten deutscher Sprache“, beim Verfasser anzufordern.)
2. Der Umfang der geplanten Änderungen ist beträchtlich, aber schwer zu erkennen; daher folgen hier einige Hinweise, die aber anhand des bisher nicht zugänglichen vierten Berichts noch ergänzt werden müßten.
Ass, nummerieren und überschwänglich sind nicht „neu zugelassen“, sondern zwingend vorgeschrieben, ebenso wie einbläuen, Zierrat, Tollpatsch und andere Dummheiten. Sie gehen auf Einfälle des Reformers Augst zurück und sollen offenbar beibehalten werden. Wer sinnvollerweise einbleuen, Zierat usw. schreibt, macht in Zukunft einen Fehler.
Das Gerede um zusammen schreiben vs. zusammenschreiben – als ob dies je problematisiert worden wäre! – dient ebenso der Ablenkung wie die Behauptung, Kritiker hätten zusätzlich auch die Neuschreibung Topp gefordert.
Die Partikelliste zu § 34 (1) umfaßt nun rund 110 Einheiten und ist doch nur eine von vielen Listen – schon diese Ausmaße verbieten es eigentlich, mit geschlossenen Listen zu arbeiten, und genau dies hatten die Reformer Ende 1997 auch schon eingesehen. Übrigens würde bereits diese Änderung häufig gebrauchter Wörter ausreichen, den abermaligen Neudruck aller Rechtschreibwörterbücher zu begründen.
Das Kriterium, daß ein anderes Wort zwischen die Bestandteile gerückt werden kann, taugt nur zusammen mit weiteren Kriterien (wie Betonung) zur Abgrenzung der trennbaren Verben. So wird mitnehmen zusammengeschrieben, obwohl ein anderes Wort dazwischen geschoben werden kann: mit in die Schule nehmen.
Es wird behauptet, daß auch das bisher übliche alleinstehend zulässig sei, aber nach dem dritten Bericht der Kommission „lässt sich für nichtkomparierbare Fügungen aus dem amtlichen Regelwerk nur eine einzige Schreibung ableiten, also beispielsweise nur allein stehend (und nicht auch alleinstehend).“ Erratische Einträge wie gewinnbringend im amtlichen Wörterverzeichnis konnten nicht auf eine Regel zurückgeführt werden, und das Argument der gesamthaften Steigerbarkeit haben erst die Reformkritiker zur Geltung gebracht. Die Kommission hat es sich halbherzig zu eigen gemacht und jahrelang an der absurden Konstruktion festgehalten, erst bei tatsächlicher Steigerung, aber nicht im Positiv, trete Zusammensetzung ein, also: Aufsehen erregend, noch aufsehenerregender ... usw. Im dritten Bericht war es dann zu der vielbelächelten „Toleranz-Metaregel“ gekommen:
„Im hier diskutierten Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung ist in Fällen wie Gewinn bringend oder gewinnbringend also eine Toleranz-Metaregel anzusetzen. Dieser komplizierte Sachverhalt muss im amtlichen Regelwerk so nicht explizit aufgezeigt werden, er sollte aber wenigstens indirekt in einer passenden Erläuterung ein Äquivalent haben.“
Die Wiederzulassung der Großschreibung von festen Begriffen wie Erste Hilfe betrifft viele hundert Wörter und führt zu einem gewaltigen Änderungsbedarf in den Wörterbüchern. Die Reformer suggerieren, es handele sich eigentlich um gar keine Änderung, denn „Fachsprache“ sei von der Reform ohnehin nicht betroffen. Bisher war vollkommen klar, daß irgendeine erste Hilfe klein, die wohldefinierte Erste Hilfe aber groß geschrieben wird. Solche Ausdrücke sind per se „fachsprachlich“ – freilich in einem sehr weitgefaßten Begriff von Fachlichkeit, der auch das Schwarze Brett u. v. a. einschließt (Nominationsstereotype). Die amtliche Neuregelung erregte Anstoß, weil sie hier nur Kleinschreibung vorsah. Nun soll das durch eine bloße „Erläuterung“ rückgängig gemacht werden; man gibt nicht zu, daß es sich um die Streichung einer ganzen Regel handelt, die jahrelang für berechtigten Unmut gesorgt hatte und von der sich die Nachrichtenagenturen zum Ärger der Rechtschreibkommission ausdrücklich distanziert haben.
Neben (!) das grammatisch falsche Leid tun tritt die Variante leidtun – angeblich parallel zu kundtun; die wirkliche Parallele wäre wohltun, aber das soll nur noch getrennt geschrieben werden (im Gegensatz zu wohltuend). Daß sich hier „eine eindeutige Entscheidung für adjektivischen und substantivischen Gebrauch nicht treffen lässt“, ist für jeden Grammatiker eine geradezu ungeheuerliche Behauptung, da leid in dieser Verbindung seit tausend Jahren immer nur Adjektivadverb gewesen ist; nie hat jemand daran gezweifelt. Warum ausgerechnet die seit je übliche Schreibweise leid tun nicht mehr zulässig sein soll, sondern durch zwei neue Schreibweisen ersetzt wird, ist unbegreiflich; vielleicht ist der wahre Grund, daß die Reformer keinen Fehler eingestehen und daher die bewährte Schreibweise auf gar keinen Fall wiedereinführen können?
Das ebenso falsche Recht haben bleibt unangetastet, wird also in Zukunft obligatorisch, also: wie Recht du doch hast usw. Deutschland ist damit das einzige Land der Welt, in dem die Schulkinder von Amts wegen auf einen objektiv fehlerhaften Umgang mit ihrer Muttersprache verpflichtet werden.
Die exzessive Großschreibung wird nochmals erweitert: vor Kurzem, bis auf Weiteres usw., ferner die Einen, die Meisten usw. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die erfahrensten Orthographen die um sich greifende Großschreibung solcher Floskeln (auch bei im Allgemeinen usw.) als „übertrieben“ erkannt und allmählich wieder zurückgedrängt. Nun wird diese moderne Entwicklung rückgängig gemacht, zum Schaden für die deutsche Schriftsprache. Schon vor Jahren kam der Verdacht auf, die Reformer trieben die Großschreibung bis ins Absurde, um schließlich das „geliebte Ziel“ (so der Reformer Augst in einem autobiographischen Rückblick), nämlich die generelle Kleinschreibung, als einzige Lösung doch noch durchsetzen zu können.
Um nicht zugeben zu müssen, daß sie sich geirrt haben, schlagen die Reformer weiterhin den Weg ein, neben den falschen Neuschreibungen auch die bisherigen als „Varianten“ wiederzuzulassen.
Die übergroße und immer noch wachsende Zahl der „Varianten“ wird jetzt als besonderer Vorzug gerühmt, bisher galt sie als „Zone der Unsicherheit“, die durch die Rechtschreibreform zu beseitigen oder wenigstens einzuschränken sei. Besonders bei der Getrennt- und Zusammenschreibung werden die Unsicherheiten der Sprachnormierer jetzt als „größere Freiheit“ für die Schreibenden angepriesen.
3. Es soll geändert werden, aber niemand soll es merken. Zur Irreführung der Adressaten sagen die Reformer statt „Änderung“ meist „Anpassung“, verschweigen aber, woran angepaßt werden soll: an ihre ganz speziellen Einfälle und Wünsche nämlich. Dabei kann es sich durchaus um die Marotten eines einzigen Reformers handeln wie die volksetymologischen Schreibungen (Tollpatsch) von Gerhard Augst oder die nun plötzlich vorgeschlagene Großschreibung seit Kurzem, die Meisten usw., die auf den Schweizer Reformer Gallmann zurückgeht.
Wie schon im dritten Bericht bemühen sich die Reformer, die wirtschaftlichen Interessen der Verlagskonzerne zu berücksichtigen. Sie sind ihnen wichtiger als die sachliche Richtigkeit und das Interesse der schreibenden und lesenden Bevölkerung. Die Wiener Absichtserklärung wurde 1996 überhaupt nur unterzeichnet, weil „Bertelsmann schon gedruckt“ hatte, wie eine beteiligte Person damals bemerkte. Aus demselben Grunde hatte die Amtschefskommission im Anschluß an den ersten Bericht und die Mannheimer Anhörung Anfang 1998 zunächst alle Korrekturen untersagt. Die wiederholte Beteuerung, durch die nun vorgesehene Reparatur entstünden „keine besonderen Kosten“, ist jedoch illusorisch. Obwohl die Änderungen kaum an die fehlerhafte Substanz der Neuregelung gehen, sind sie in ihren Folgen durchgreifend genug, um den Neudruck aller orthographischen Materialien erforderlich zu machen.
„Durch die Änderungen werden bisherige Schreibweisen nicht falsch.“ Wohl aber werden falsche richtig. Die Wirkung ist dieselbe: Lehrer, die justiziabel korrigieren wollen, brauchen Nachschlagewerke, in denen alle richtigen Schreibweisen verzeichnet sind. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Neue Milliardenkosten sind unvermeidlich.
4. Die Zwischenstaatliche Kommission will nun ausdrücklich und entgegen der Wiener Vereinbarung die „Funktion der Dudenredaktion“ übernehmen. Nun, die Aufgabe der Dudenredaktion besteht bekanntlich in erster Linie darin, Wörterbücher zu machen. Das kann die Rechtschreibkommission aufgrund ihrer Zusammensetzung und der gesamten Konstruktion eines nur gelegentlich tagenden Gremiums unmöglich leisten.
Auch die angestrebte Verlängerung des Berichtszeitraumes läuft darauf hinaus, den „Experten“ freie Bahn für alle Änderungswünsche zu verschaffen. Sie wollen möglichst überhaupt keine Rechenschaft mehr ablegen, gleichwohl aber mit staatlicher Autorität in die Sprache eingreifen. Den Kultusministerien wäre das wohl gerade recht, denn sie brauchten sich um das peinliche Thema fast gar nicht mehr zu kümmern.
Das Fernziel der Substantiv-Kleinschreibung wird unbeirrt festgehalten; es kommt scheinbar harmlos als Parenthese zur Sprache, als bloßes „Beispiel“ einer „Änderung von grundsätzlicher Bedeutung“, obwohl es in all den Jahrzehnten nie um etwas anderes ging als diesen zentralen Programmpunkt.
Die Vorlage geht mit keiner Silbe auf die ablehnenden Voten der deutschen Schriftsteller, den Appell der internationalen Schriftsteller zur Buchmesse 2003, die gemeinsame Erklärung aller deutschen Akademien der Wissenschaften und der schönen Künste im Herbst 2003 oder auf den Kompromißvorschlag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ein. Das alles ist der KMK so gleichgültig wie die schriftsprachliche Tradition und Kontinuität. Es geht ihr stattdessen darum, die Macht einer Handvoll selbsternannter „Fachleute“ zu festigen und auszubauen, die sich nach ihren eigenen Worten vor vielen Jahren „den Auftrag holten“, die deutsche Schriftsprache zu verändern.
Die RSR war u. a. damit begründet worden, daß orthographische Entscheidungen bisher in den Hinterzimmern der Dudenredaktion ohne Mitwirkung der Betroffenen gefällt wurden. Nun will die Kommission solche Entscheidungen aus eigener Machtvollkommenheit treffen. Nach den bisherigen Erfahrungen geschieht das unter strengster Geheimhaltung, die Betroffenen werden stets vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Kommission plädiert für die Ausschaltung der Politik aus einer Frage, die die ganze Bevölkerung betrifft, und für die ungebremste Herrschaft der Experten – soweit sie zum eigenen Zirkel gehören. „Die Politik tut gut daran, hier nur das Verfahren zu regeln, sich von der Entscheidung in Einzelfragen aber freizuhalten. Politische Instanzen waren auch früher nicht beteiligt, wenn der Duden in einer neuen Auflage Änderungen vornehmen wollte.“ - Nein, aber gerade dies war ja ein Motiv der Reform gewesen. Der jetzige Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission, Karl Blüml, sagte seinerzeit: „Das Ziel der Reform waren aber gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlages in die staatliche Kompetenz zurückzuholen.“ (Standard 31.1.1998) Experten waren und sind die Dudenredakteure auch, sogar in viel höherem Grade Lexikographen als die Kommissionsmitglieder, die übrigens zum Teil durchaus lukrative private Geschäftsbeziehungen zu den großen Wörterbuchverlagen unterhalten.
Abschließend versucht die Vorlage den Eindruck zu erwecken, mit dem „Beirat für die deutsche Rechtschreibung als Vertretung der professionell Schreibenden“ hätten auch die Journalisten und Schriftsteller dem Bericht der Kommission zugestimmt. Aber dieser Beirat besteht aus Personen, die von der Kommission selbst vorgeschlagen und ihr genehm sind; sie haben sich bereits nach dem dritten Bericht als unkritische Unterstützer zu erkennen gegeben und können keinesfalls als echte Repräsentanten der betroffenen Gruppen gelten. Immer wieder haben die deutschen Schriftsteller ihre Ablehnung der Reform erklärt, und daß unter den deutschen Journalisten fast keiner mehr ist, der die Reform verteidigt, pfeifen die Spatzen von den Dächern.
Das Grundübel besteht natürlich darin, daß die KMK sich ausschließlich auf die Zwischenstaatliche Kommission verläßt. Dort sieht sie allen orthographischen Sachverstand versammelt, und sogar die Beurteilung der Reform und ihres Erfolges überläßt sie ganz und gar deren Urhebern, die naturgemäß zu einem objektiven Bild weder fähig noch willens sind.
Eine Billigung dieser Vorlage würde den Streit um die Rechtschreibung keinesfalls beenden, die KMK jedoch für lange Zeit diskreditieren.
Anhang: Zur reformierten Silbentrennung
Die neuen Regeln zur Worttrennung sollen unverändert bleiben. Gerade dieser Teil der Reform wirft jedoch besondere Probleme auf. Die grundsätzliche Orientierung an Sprechsilben ist beibehalten und sogar noch verstärkt worden. Das gilt erstens für die neue Abtrennbarkeit von einzelnen Vokalbuchstaben (A-bend, Berga-horn), zweitens für die Trennbarkeit von st (ges-tern), drittens für die erweiterte Möglichkeit, auch zusammengesetzte Fremdwörter nicht morphologisch, sondern silbisch zu trennen: Inte-resse, pa-rallel usw. Zugrunde liegt die Annahme, daß die Kenntnis der alten Sprachen nicht mehr allgemein vorausgesetzt, die morphologische Trennung also nur einer kleinen Gruppe einschlägig Gebildeter abverlangt werden könne. Diese Voraussetzung steht jedoch in einem gewissen Gegensatz zu der Tatsache, daß aus altsprachlichen Elementen fortwährend neue deutsche (und internationale) Wörter gebildet werden. Elemente wie inter-, hyper-, bio- usw. können durchaus als Bestandteile der Allgemeinsprache angesehen werden; auch der Laie verbindet mit ihnen einen Sinn und verwendet sie großzügig zur Bildung neuer Wörter.
Die reformierten Wörterbücher gehen unterschiedlich mit der neuen Regelung um. Der Rechtschreibduden erklärte zunächst, er gebe „nur die Variante an, die von der Dudenredaktion als die jeweils sinnvollere angesehen wird.“ Besonders sinnvoll erschienen der Redaktion: Anas-tigmat, Emb-lem, Emb-ryo, Emig-rant, E-nergie, E-pis-tyl, Katam-nese, Me-töke, Monoph-thong, monos-tichisch, Pen-tathlon, Prog-nose und viele tausend ähnliche Trennungen. Schon 1996 hielten Autoren und Politiker, die dem konkurrierenden Bertelsmann-Konzern nahestanden, dem Duden die unvollständige Darstellung aller nunmehr erlaubten Worttrennungen vor. Klaus Heller beanstandete, daß der Duden die Trennung Hämog-lobin unterschlagen habe. Zufällig stand sie 1996 im Bertelsmann-Wörterbuch, zu dem Heller das Geleitwort verfaßt hatte. (Aus der Neuauflage 1999 ist sie allerdings wieder verschwunden.) In der Folgezeit bemühten sich viele Wörterbücher, wirklich alle aus den neuen Regeln ableitbaren Trennstellen anzugeben, so etwa das „Wahrig Universalwörterbuch“ (2002): Palimp-sest, Palind-rom, An-tonomasie, Tee-nager, Bi-omüll, Sad-hu. Schon 1998 brachte der Dudenverlag allerdings ein „Praxiswörterbuch“ heraus, das sich in gewissem Maße von den Verpflichtungen der amtlichen Neuregelung freimachte und „für alle, die schnell und zuverlässig eine einheitliche Schreibweise sicherstellen wollen“, nur das angab, „was DUDEN empfiehlt“. Die Fremdwörter sind teilweise wieder eher „organisch“, also morphologisch getrennt: Pro-gnose, Kon-stellation, nicht Prog-nose, Kons-tellation wie im Rechtschreibduden. Auch den A-pop-lektiker hat die Redaktion wieder aufgegeben, nicht aber das Apos-tolat und den Apos-taten. Epi-skop bleibt, aber nur eine Zeile weiter steht neuerdings Epis-kopat. Neben di-ploid stehen Diph-thong und Dip-tychon. Es soll heißen Di-alog, aber Dia-spora; Pros-pekt, aber Per-spektive. Zwischen Dutzenden von Wörtern mit Ana-, Anti-, Hypo- und Inter- stehen ganz unerwartet Anas-tomose, Antis-tes, Hypos-tase und Inte-resse. Sy-nopse, sy-nergetisch findet man zwischen zahlreichen morphologischen Trennungen, die das auch im Deutschen produktive Präfix syn- absichern. Die hundertfach verwendete Vorsilbe re- soll überall korrekt abgetrennt werden: Re-spiration, Re-stitution usw., nur bei ganz wenigen Wörtern wie Res-pekt und Res-triktion nicht. An-ästhesie und Syn-ästhesie sind sinngemäß getrennt, aber mitten dazwischen überbietet Ki-nästhesie sogar noch den Rechtschreibduden (Kin-ästhesie).
Zur Zeit ist die Situation sehr unübersichtlich, zumal eine mit der Rechtschreibkommision vereinbarte 60seitige Liste von Trennungen nicht veröffentlicht ist, so daß die Allgemeinheit sich kein eigenes Bild vom aktuellen Stand und von der Zuverlässigkeit der Wörterbücher machen kann. Mag die Orientierung an Sprechsilben zunächst wie eine Erleichterung wirken, so ist doch zweierlei zu bedenken: Die neue Silbentrennung hinterläßt lauter Bruchstücke, mit denen man nichts weiter anfangen kann. Aus unorganisch getrenntem Mo-narchie und Hie-rarchie kann man nur zu unnützen und sinnlosen Bausteinen wie Narchie und Rarchie gelangen, aus Sinanthropus und Pithekanthropus zu Nanthropus und Kanthropus, ferner zu Nalgie und Ralgie (aus A-nalgie, Neu-ralgie). Diese Trennweise vermehrt die Masse des Undurchsichtigen und daher nicht produktiv Beherrschbaren ins Unermeßliche; sie ist daher auf weitere Sicht eine Erschwernis.
Besonders widersinnig ist die Neuregelung im Hinblick auf den ursprünglichen Zweck: An der Schreibweise sollte nicht länger der unterschiedliche Bildungsgrad der Schreibenden zu erkennen sein. Gerade dies ist aber nun mehr als je zuvor der Fall. Der Gebildete wird niemals O-blate trennen, auch wenn das Wörterbuch es „zuläßt“. Die Medizinprofessorin wird ihrer Schreibkraft so wenig erlauben, die „leichteren“ Trennungen anzuwenden, wie sie zulassen wird, daß sie auf den Inhalt des Diktierten Einfluß nimmt. Selbstherrlichen Verlagen bleibt es vorbehalten, ihren Fachautoren solche Mißgriffe unterzuschieben. Dem Altphilologen Joachim Latacz wird im Katalog zur Troia-Ausstellung (Stuttgart Juni 2001) die Silbentrennung Pers-pektive unterstellt; ähnliches widerfährt Prof. Hubert Cancik mit dem Griechischen, der angeblich Herak-les trennt. Von diesen und weiteren Änderungen haben, wie auf Nachfrage bestätigt wird, die Verfasser nichts gewußt.
Diese problematischen Folgen einer auf den ersten Blick liberalen, jedoch vornehmlich für die Grundschule entwickelten Neuregelung scheinen nicht hinreichend bedacht worden zu sein.
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Th. Ickler
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