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-- Nerius (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=822)
eingetragen von Theodor Ickler am 14.03.2004 um 03.57
UNIVERSITÄT ROSTOCK
Philosophische Fakultät
Institut für Germanistik
Prof. Dr. Dieter Nerius
Universität Rostock, Philosophische Fakultät, Institut für Germanistik, Tel. (0381) 498-25811
18051 Fax. (0381) 498-2578
Rostock e-mail: dieter.nerius@philfak.uni-rosctock.de
Sitz: August-Bebel-Str. 28
Rostock, den 11.10.99
Anhörung vor dem Ausschuss für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 06.10.1999
S t e l l u n g n a h m e
zum Antrag der Volksinitiative "Wir stoppen die Rechtschreibreform"
(Stichpunkte)
Empfehlung an den Landtag, sich gegen die Volksinitiative auszusprechen und die bereits eingeführte Neuregelung der deutschen Orthographie von 1996 beizubehalten.
Zwei Arten von Gründen sind für diese Empfehlung maßgebend:
1. Fachlich-inhaltliche Gründe
2. Politisch-rechtliche Gründe
Zu 1.
Die 1996 mit der gemeinsamen Absichtserklärung von Deutschland, Österreich, der Schweiz und einer Reihe weiterer Länder vereinbarte Neuregelung der deutschen Rechtschreibung löst die zum großen Teil 1901 festgelegte bisherige Rechtschreibregelung ab, die seinerzeit ähnlich umstritten war, wie das teilweise bei der heutigen Regelung der Fall ist (Beispiele). Diese Regelung von 1901 war wie die heutige ein Kompromiss, der zwar bestimmte Veränderungen gegenüber dem vorherigen Gebrauch vornahm, aber viele rechtschreibliche Probleme beibehielt und festschrieb, die sich im Laufe der Entwicklung ergeben hatten. Außerdem hatte das offizielle Regelwerk von 1901 erhebliche Lücken und enthielt beispielsweise keine Regelungen für die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Interpunktion. Im Laufe der Zeit wurde die orthographische Regelung durch die Orthographiewörterbücher (Duden) ohne eine offizielle Legitimation nicht nur ergänzt um Regeln für diese Gebiete, sondern insgesamt immer weiter perfektioniert und
verkompliziert, was vielen Menschen die Beherrschung der geschriebenen Sprache sehr erschwerte (Hinweis Fehlerstatistiken).
Da es sich bei der Orthographie im Unterschied zu anderen sprachlichen Normen um eine Norm handelt, die von Menschen bewusst gestaltet und verändert werden kann, hat man mehrmals in diesem Jahrhundert versucht, die rechtschreiblichen Schwierigkeiten durch eine Änderung der Orthographie zu mindern und damit den Menschen den Zugang zur geschriebenen Sprache zu erleichtern sowie die negativen Auswirkungen einer vielfach unzureichenden Beherrschung der Orthographie zu verringern.
Aus mannigfachen Gründen gelang das bis zur Neuregelung von 1996 nicht. Diese ist der erste erfolgreiche Versuch einer partiellen Weiterentwicklung der deutschen Orthographie in unserem Jahrhundert, und zwar über Staatsgrenzen hinweg. Es ist ein insgesamt recht bescheidener Schritt, denn er ist das Ergebnis langer Verhandlungen und vielfacher Kompromisse unter den beteiligten Sprachwissenschaftlern und Politikern.
Das Ziel der Neuregelung besteht darin, durch einzelne inhaltliche Änderungen die Systemhaftigkeit unserer Rechtschreibung und den Generalisierungsgrad ihrer Regeln zu erhöhen, und zwar mittels Reduzierung von Ausnahmen und Sonderfällen, die sich im Laufe der Entwicklung ergeben haben. Damit wird die Erlernung und Beherrschung der Orthographie für den Sprachbenutzer in gewissem Umfang erleichtert, ohne dass die Kontinuität der Schrifttradition beeinträchtigt würde.
Diesem Ziel sind alle Änderungen der bisherigen Regelung verpflichtet, was sich in allen 6 Bereichen des Regelwerkes zeigen lässt.
Erläuterung an Beispielen aus den Bereichen: Laut-Buchstaben-Beziehungen
Groß- und Kleinschreibung
Getrennt- und Zusammenschreibung
Worttrennung
Interpunktion
Natürlich kann man über einzelne Änderungen unterschiedlicher Meinung sein und auch unter den Sprachwissenschaftlern gibt es darüber Differenzen, denn die Entscheidungskriterien verlagern sich von den stärker semantisch basierten der bisherigen Regelung in der Neuregelung häufig zu stärker formal grammatisch basierten, die eine leichtere Lehr- und Lernbarkeit ermöglichen. Bei objektiver Bewertung und ohne vorgefassten Unwillen erweist es sich, dass die eingeführte Neuregelung durchaus einen deutlichen Schritt in Richtung auf Systematisierung und Vereinfachung der Orthographie darstellt, der vor allem für die Schule erhebliche Vorteile bringt. Die Neuregelung ist in dieser Hinsicht nicht nur der bisherigen überlegen, sie ist auch deutlich besser als der Ruf, in den sie durch die starken und weit überzogenen Vorwürfe ihrer Gegner geraten ist. Starke Worte aber ersetzen keine Argumente, was sich auch an der Präsentation der Antragsteller zeigen lässt, die nicht nur die Kritik überzieht, sondern auch fehlerhaft ist.
Zu 2.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 in Sachen Orthographiereform kann die Strategie der Gegner der Neuregelung, diese von einem sich nicht anschließenden Bundesland her auszuhebeln, als gescheitert angesehen werden. Da nun auch das dafür ausersehene Bundesland Schleswig-Holstein den durch die seinerzeitige Volksbefragung verursachten Sonderweg wieder aufgibt und die neue Rechtschreibung ebenso praktiziert wie alle anderen Bundesländer, ergibt sich die Frage:
Was soll eigentlich mit der Volksinitiative gegen die orthographische Neuregelung für unser Bundesland MV erreicht werden? Im Falle des Erfolges wäre das Ergebnis doch, dass unser Land eine Rechtschreibinsel in Deutschland mit allen daraus erwachsenden negativen Konsequenzen würde, deren Abzeichnung gerade Schleswig-Holstein zur Aufgabe eines solchen Sonderstatus veranlasst hat. So würde sich auch das von den Reformgegnern weit überzogene Kostenargument geradezu ins Gegenteil verkehren, denn auf Dauer wäre es natürlich viel teurer einen orthographischen Sonderstatus aufrecht zu erhalten (eigene Schulbücher usw.). Wollen wir, um noch eine weitere Konsequenz zu nennen, unseren Kindern die Ausbildungs- und Berufschancen in Deutschland durch eine mecklenburg-vorpommersche Rechtschreibung erschweren? Das kann doch wohl das Ziel nicht sein! Also, was dann? Da man darauf eine akzeptable Antwort schuldig bleiben muss und die Konsequenzen eines solchen Schrittes nicht bedacht hat oder nicht sehen will, kann dem Landtag nur dringend empfohlen werden, dem Antrag der Volksinitiative nicht zuzustimmen.
Prof. Dr. D. Nerius
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Th. Ickler
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