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-- "Neue"Grammatik (http://Rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=847)
eingetragen von Karin Pfeiffer-Stolz am 07.05.2004 um 14.30
Es kommt darauf an, wie und was man unter Grammatikunterricht versteht. An der Grundschule muß Sprachunterricht praktisch sein -- theoretische Überlegungen werden von den meisten Schülern dieser Altersstufe nicht verstanden. Guter Deutschunterricht ist ohnehin immer auch Rechtschreib- und Grammatikunterricht. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war lange genug im aktiven Schuldienst tätig.
Wer sich alte Sprachbücher anschaut, ist überrascht von der Vielfalt situationseingebetteter Grammatikübungen. Die Überschriften verraten meist gar nicht, daß es um Grammatik geht. Reihenübungen erleichterten das Einschleifen und Bilden von Automatismen.
Vergleicht man die alten Sprachbücher mit den heute gebräuchlichen, fällt gleich das armselige Angebot an sinnvollen Übungen ins Auge. Moderne Sprachbücher wirken im Vergleich zu den alten wie Illustrierte, die man "konsumieren" kann. Und trotzdem irgendwie steril. Trostlos.
Die Folge der "Schulbuchmisere": Grammatikunterricht wird losgelöst vom gesamtunterrichtlichen Konzept erteilt: theoretisch, sinnentleert, auf fliegenden Blättern, gespickt mit Fachbegriffen und Erklärungen. In den letzten Jahren zunehmend mit der Methode des "selbstentdeckenden Lernens" (was auch immer das sein mag)gekoppelt. Unsere Schüler sollen heute eher ÜBER etwas schwätzen können, als daß sie es ÜBEN und LERNEN. (Pfui, wie rückständig! ÜBEN ist ein Folterwerkzeug rückständiger und autoritärer Pädagogik!) Schüler sollen nach modernem Unterrichtsverständnis etwas VERSTEHEN und ERKLÄREN, noch ehe sie die Chance bekommen, es AUSZUPROBIEREN. Sie lernen also, über Dinge zu reden, von denen sie keine Ahnung haben.
Wenn ich Professor Ickler richtig verstehe, dann meint er diese Art von verkopftem Grammatikunterricht, der zu früh einsetzt und zu früh wieder vom Stundenplan verschwindet.
Die Verfrühung und Verkomplizierung von Lerngegenständen durch Spezialisierung und Verkopfung zieht sich quer durch alle Unterrichtsfächer und -gegenstände. Sie ist eine von den vielen Ursachen für Unterrichtsfrust und oft zitiertem "Leistungsstreß", der nichts anderes ist als "Orientierungsstreß". Gerade die Beliebigkeit ist es, die solchen Streß erzeugt.
Was an Beliebigkeit und Unsicherheit durch die Rechtschreibreform entstanden ist, wird diesen Mißstand eher noch verschärfen.
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Karin Pfeiffer-Stolz
eingetragen von Norbert Schäbler am 07.05.2004 um 13.19
Wenn es eine neue Grammatik geben sollte, dann müßte sie in erster Linie der Losung der Kultusministerkonferenz entsprechen. Sie müßte „kindgemäß“ sein.
Das ist die Grammatik der allgemeinbildenden Schulen im übrigen schon seit Anfang der 70er Jahre.
KMK-definierte Kindgemäßheit erwies sich beispielsweise darin, daß die Bezeichnungen für die Wortarten variabel gestaltet wurden. Der Begriff „Verb“ durfte ab 1971 ausgetauscht werden gegen: „Tunwort, Zeitwort, Tätigkeitswort“. Für „Nomen“ galten auch: „Substantiv, Namenwort, Hauptwort, Dingwort, Nennwort“. „Adjektive“ wurden ebensowohl definiert als: „Wiewort, Eigenschaftswort, Beiwort“.
Daß der kultusministerielle Eingriff in das kategorische System nennenswerte Erfolge gebracht hätte, kann ich nicht bestätigen, will jedoch an dieser Stelle darauf hinweisen, daß Bayerns Bildungshüter offensichtlich selbst ins Schwanken gerieten, denn, nachdem sie den Gebrauch von lateinischen Ausdrücken zwischenzeitlich ganz aus dem Lehrplan verbannt hatten, führten sie später die Begriffe „Verb, Substantiv, Adjektiv“ wieder als mögliche Alternative ein, weil – so die Begründung – „die weiterführenden Schulen derartige Begrifflichkeit voraussetzten“.
Dies als Beispiel kultusministerieller Weitsichtig- und Engstirnigkeit.
„Kindgemäß“ ist im übrigen ein Ausdruck, bei dessen Verwendung sich mir die Fußnägel aufrollen. Was man hiermit meint, ist doch wohl besser mit „altersgemäß“ bezeichnet.
Bei „Kindgemäßheit“ assoziiere ich nämlich ausschließlich Zuwendungshandlungen wie füttern, Hintern abputzen, hegen, pflegen, behüten, spielen und treiben lassen.
„Altersgemäßheit“ dagegen hat etwas mit Förderung und Forderung zu tun. Denn, dem Reifegrad entsprechend kann man die Kinder an jenem Ort abholen, an dem sie sich gerade befinden. Selbstverständlich muß sich der Pädagoge dabei der Sprache bedienen, die das Kind versteht, und er muß den Abstraktionsgrad des Denkens kennen, der die Altersstufe auszeichnet.
Ganz entschieden widerspreche ich in diesem Zusammenhang der Behauptung von Professor Ickler, daß man die Kinder nicht allzu früh mit Grammatik füttern sollte. Mit einem Beispiel will ich das belegen.
In der Grundschule kann, muß und sollte man den Kindern sehr wohl Wesentlichkeiten der Wort- und Satzbildung verdeutlichen, zumal sich die Wirksamkeit eines altersgemäßen Grammatikunterrichts unmittelbar an stilistischen Verbesserungen im Bereich der schriftlichen Sprachgestaltung ablesen läßt.
Ich greife als Beispiel die „offene und variable Satzgliederstellung innerhalb der deutschen Sprache“ heraus, und formuliere für 8jährige Schüler den Auftrag, mit folgender Wortansammlung Sätze zu bilden: „Vater, Mutter, schenken, Blumenstrauß, mittags ...“
Man wird es kaum glauben, wie lehrreich eine solche Schulstunde werden kann, die sich nicht auf grammatische Stupiditäten erstreckt.
Ganz schnell haben die Schüler nämlich verstanden, daß es hier einen Schenker und einen Beschenkten gibt, bzw. einen „Satztäter“ und einen „Satznehmer“.
Und wenn man einigen Schülern gar noch beschriebene Wortschilder in die Hand gibt, mit denen sie sich vor der Klasse aufstellen, dann fordern die auf den Stühlen verbliebenen Mitschüler ihre zum Rollenspiel aufgeforderten Kollegen ständig auf, ihre Positionen zu vertauschen, damit stets neue Sätze entstehen:
„Vater schenkt Mutter mittags einen Blumenstrauß.
Mittags schenkt Vater Mutter einen Blumenstrauß.
Einen Blumenstrauß schenkt Vater Mutter mittags ...“
Bei derartigem Sprech- oder Sprachhandeln lassen sich die schönsten Schlüsse – sogar fächerübergreifende - ziehen. Schüler z.B. erkennen, daß der Schüler, der das Wort „schenkt“ in Händen hält, stets auf der gleichen Stelle stehen bleibt, daß die Schüler, welche die Worte „einen“ bzw. „Blumenstrauß“ in Händen tragen, stets in der gleichen Reihenfolgen nebeneinanderstehen; und fächerübergreifend kann man feststellen, daß in einigen Familien sogar die Frauen Blumen verschenken.
Wie gesagt: Diese einfachsten Erkenntnisse tragen viele Früchte im schriftlichen Sprachgebrauch (ehemals Aufsatzerziehung), insbesondere dann, wenn sich dem anschaulichen Rollenspiel noch eine gründliche, formale und abstrahierende Übung mit weiteren Wortsammlungen anschließt.
Eine abschließende, nicht ganz ernst zu nehmende Bemerkung:
Sollte es eine 96er-Grammatik geben, dann dürfte das in den Schulstuben zu ernsthaften Schwierigkeiten führen, denn nach ebenso ernsthaften Überlegungen der Bildungsfürsten sollte die Kapazität einer Klasse ja maximal zwischen 18 von 24 Schülern betragen.
Stellen wir uns in diesem Zusammenhang einmal vor, ein Lehrer wollte den Schülern in der vierten Jahrgangsstufe den Gebrauch des Attributs (Beifügung) beibringen, und er würde in seine Wortansammlung Wörter wie „krank geschrieben“, „Dienst habend“ und „rötlich braun“ einfügen.
Das könnte ganz schön eng werden, weil nach der Verordnung zugunsten der gehäuften Getrenntschreibung dann die gesammelte Schülermannschaft schilderhaltend vor der Tafel stünde, und keiner mehr da wäre, der das Kommando zum Umstellen gibt.
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nos
eingetragen von gestur am 06.05.2004 um 21.18
finde ich klasse. Genauso war es in der Gymnasium-Oberstufe. Über allen möglichen Quatsch mußte geschwafelt werden, nur nicht über die deutsche Sprache. Es war abschreckend. Auf Deutsch als einzigartige Sprache und seine Besonderheiten bin ich erst über das Erlernen von Fremdsprachen und den Vergleich mit anderen indogermanischen Sprachen gekommen. Vermutlich ist es gut, daß ich nicht Germanistik studiert habe.
eingetragen von Karin Pfeiffer-Stolz am 06.05.2004 um 19.58
Das kann ich bestätigen: Eine Verfrühung von verkopften Lerninhalten macht heute den Schulunterricht nicht nur ineffektiv, sondern fördert auch Ignoranz und Überdruß. Weil Unverstandenes zu früh gelehrt wird, haben die Schüler das Gefühl, daß es normal ist, ohne Hirn und Verstand über etwas schwafeln zu müssen. Außerdem glauben sie später, ohnehin schon alles zu wissen (weil es mal auf dem Stundenplan gestanden hat). Wenn sich dann in lernpsychologischer Hinsicht das Zeitfenster zum Lernen und Verstehen öffnet, wird der Eingangskanal blockiert, die Lernanstrengung bleibt aus. Resultat: Vertane Mühe. Es muß auch hier alles zu seiner Zeit erfolgen, um sinnvoll zu sein. Es ist zum Beispiel wenig sinnvoll, einem Zweijährigen das Schreiben beibringen zu wollen. Es wäre sinnvoll, mit ihm zu singen und zu klatschen.
Grammatikunterricht kann immer nur dosiert erfolgen, muß in den Unterricht eingebettet sein und zu ihm zurückführen. Das wird von den wenigsten Lehrern so durchgeführt. Sie werden auch nicht dazu angeleitet. Für die meisten ist der Grammatikunterricht etwas, das man einmal im Jahr kurz streift, möglichst intensiv im Werkstattunterricht durchführt und dann im Lehrplan abhaken kann. So wie die Rechtschreibung.
Ich komme vom Hölzchen aufs Stöckchen. Dabei wollte ich nur sagen, daß meinen Erfahrungen nach stimmt, was Herr Ickler in seinem Beitrag bemerkt hat.
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Karin Pfeiffer-Stolz
eingetragen von gestur am 06.05.2004 um 17.51
Die Rechtschreibreformer haben keinen Auftrag bekommen, auch die Grammatikregel zu ändern. Auch die Verfasser von Grammatik-Lehrbüchern dürfen höchstens die Rechtschreibung ihrer Bücher, aber nicht die Grammatikregeln selbst verändern. Damit man Beispiele vorbringen kann, wo die Reformschreibung gegen Grammatikregeln verstößt, muß hier klargelegt werden, ob die betroffenen Grammatikregeln noch gelten.
Es ist allgemein bekannt, daß die Erlerner einer Sprache als Fremdsprache mehr Grammatikkenntnisse erwerben als die Erlerner dieser Sprache als Muttersprache in der Schule. (Das merkt man besonders an den Grammatikkenntnissen von Dozenten an Volkshochschulen.) Um Deutsch besonders gründlich zu lernen, müßte man es als Fremdsprache lernen.
eingetragen von Theodor Ickler am 06.05.2004 um 17.12
Bei uns lernen die Kinder noch sehr viel Grammatik. Zum Teil für meine Begriffe zu früh (5. Klasse) und zu viel, und sie hören zu früh damit auf. Die Lehrer arbeiten nicht wirklich mit diesen Kenntnissen bis in die Oberstufe, darum vergißt es sich wieder.
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Th. Ickler
eingetragen von Ruth Salber-Buchmüller am 06.05.2004 um 15.17
Die Kinder lernen schon lange
keine Grammatik mehr, keine Wort- und
Satzbestimmungen. Wie soll auch z.B. eine Bestimmung
hier erfolgen: Ein Denkmal artiges Gebäude"??
In Frankreich hat die neunte Klasse ein sehr aufwendiges
und umfangreiches Grammatikbuch. Davon können wir
nur träumen.
Bei G. Jauch gab es unter 10 Kandidaten nur einen (!),
der das Wort "Mann" deklinieren konnte, in der Reihenfolge
Nom., Gen., Dat., Akk. Das spricht Bände.
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Ruth Salber-Buchmueller
eingetragen von Theodor Ickler am 06.05.2004 um 14.24
Viele Grammatiken sind nach der RSR umgeschrieben worden, und die Verfasser verleugnen oft ihr besseres grammatisches (!) Wissen, um nicht mit der Reform in Widerspruch zu geraten. Das ist besonders beschämend. In der 2. Auflage meines Buches "Regelungsgewalt" steht was darüber, auch hier auf den Rechtschreibseiten verstreut, vor allem zur Dudengrammatik, und im nächsten Buch, "Rechtschreibreform in der Sackgasse" (im Druck) gibt es noch mehr davon. Leider kann ich nicht alles hier wiederholen, aber es ist, das kann ich schon mal sagen, eines der traurigsten Kapitel der Wissenschaftsgeschichte. Zur Germanistik insgesamt möchte ich fast sagen: "kann wegfallen".
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Th. Ickler
eingetragen von Karin Pfeiffer-Stolz am 06.05.2004 um 12.08
Grammatik nach den neuen Rechtschreibregeln
Was mich interessieren würde: Wie wird seit 1996 mit der Grammatik umgegangen? Die herkömmlich richtige Beschreibung der Sprache bezüglich Syntax oder Komparation zum Beispiel (Platz sparend: sparender? am sparendsten?) ist wohl kaum möglich, ohne nicht das gesamte Sprachgefüge zu zerstören.
Gibt es überhaupt eine „neue“ Grammatik, die nach der Einführung der sogenannten Reform entstanden ist? Wenn ja: Wie wird dieses Dilemma gelöst?
Karin Pfeiffer-Stolz
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Karin Pfeiffer-Stolz
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