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eingetragen von Sigmar Salzburg am 04.12.2010 um 10.26

Horst Haider Munske, Germanist und ausgestiegener Reformer, schreibt in seinem Buch „Lob der Rechtschreibung“ (C.H.Beck 2005) auf Seite 28:

In ihrem gutgemeinten Bestreben, die Sprachgemeinschaft zu beglücken, sind echte Rechtschreibreformer unersättlich. Sie fänden erst endgültige Befriedigung, wenn völlige Einfachheit und Systematik erreicht würden. Diese vorgefaßte Haltung hindert sie auch, die überkommenen Regeln nach verborgenem Sinn zu befragen und die Vermutung zu akzeptieren, daß sich vielleicht im Laufe der Zeit praktikable Kompromisse herausgebildet haben. Könnte es nicht sein, daß es nur an einer ordentlichen Beschreibung der Regeln fehlt? Oder daß die Dudenredaktion in ihrem rechtschaffenen Bemühen um die Festlegung der Schreibung zu viel des Guten getan hat? Solche Überlegungen sind ihnen fremd. Im Grunde hindert sie nur eins, ihre Ziele offen zu bekennen und zu verfolgen: der erwartete Widerstand der Betroffenen.

Erfahrungen früherer Reformversuche haben gezeigt, was diese am meisten aufbringt: Änderungen im Schriftbild. Gerade das aber wäre z.B. mit der Beseitigung der Großschreibung und der Vereinfachung der Laut-Buchstaben-Beziehung unweigerlich verknüpft. So schielen Reformer stets danach, ob sich Widerspruch meldet, der ihr Vorhaben verhindern könnte, und sie erweisen sich als anpassungsfähig, sobald solche Gefahr ernstlich droht. Das führt dazu, daß Rechtschreibreformen im Laufe ihrer Planung und ihrer Durchsetzung immer magerer werden, bis sie schließlich ganz sterben.

So erging es der Reform vom Jahre 1876, die auf der I. Berliner Rechtschreibkonferenz vorbereitet und beschlossen wurde. Stein des Anstoßes war vor allem die Vereinfachung der Vokallängebezeichnung. Sie fand so wenig Akzeptanz, daß die Regierung von der Durchsetzung Abstand nahm. Statt dessen griffen der preußische und der bayerische Kultusminister in Vorschriften für die Schule auf einen moderaten Vorentwurf zurück, der im Grund nur eine Vereinheitlichung der Regeln in den deutschsprachigen Staaten vorsah. Dies machte Konrad Duden 1880 zur Grundlage seines «Orthographischen Wörterbuchs der deutschen Sprache». Hier konnte 25 Jahre später die II. Berliner Rechtschreibkonferenz anknüpfen und beides miteinander verbinden: Wahrung der Rechtschreibtradition und Vereinbarung einer Einheitsorthographie.

Auch die jüngste Reform zeigt ähnliche Verfallserscheinungen. Ursprünglich sollten die gescheiterten Reformen der 50er und 60er Jahre wieder aufgenommen werden, u. a. mit der sog. 'gemäßigten Kleinschreibung', der Vereinfachung der Längebezeichnung, der Vereinheitlichung von ei und ai sowie der Beseitigung der Unterscheidungsschreibung von das und daß. Dies alles wurde schon in der Frühphase dank des Einspruchs der Kultusministerkonferenz aufgegeben. So kam es dazu, daß die unbedingt gewollte Reform sich in dem schwierigen Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung und in Randthemen der Silbentrennung, der Stammschreibung und der Kommasetzung austobte. Auch dies wäre längst vergessen, hätten nicht die Kultuspolitiker darauf bestanden, das Begonnene partout durchzusetzen. Das hat den frühen Tod aufgeschoben und ein langes Leiden erzwungen.

Munske hat 1997 die Reformkommission unter Protest verlassen und im SPIEGEL v. 22.9.97 gefordert: „die Überrumpelung stoppen“.


eingetragen von J.-M. Wagner am 21.10.2003 um 17.12

Der Verweis auf diesen Aufsatz von Prof. Gallmann paßt zwar nicht ganz hierher, weil er darin nicht nur empfiehlt, von manchen Freiräumen der Reform keinen Gebrauch zu machen, sondern auch, an anderen Stellen über das hinauszugehen, was die Reform vorsieht; damit findet sich bestätigt, was Prof. Ickler schon über Gallmanns Vorstellungen hat anklingen lassen:

http://www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Varianz.pdf
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Jan-Martin Wagner


eingetragen von Sigmar Salzburg am 13.01.2003 um 16.32

Für das „Kleine Plattdeutsche Wörterbuch" von Dr. Johannes Saß/ss (Wachholtz 2002; 17 Auflagen seit 1956) wurden die Schreibregeln laut Vorwort (natürlich völlig unamtlich) „vorsichtig modifiziert, insbesondere wurden sie entsprechend der Änderung der hochdeutschen Rechtschreibung von 1996 aktualisiert. Der Wortbestand deckt im Großen und Ganzen das Gebiet des Nordniederdeutschen ab, ..."

Gerade sehe ich bei Google: „Der neue Sass. ... von Johannes Saß"

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Sigmar Salzburg


eingetragen von Reinhard Markner am 13.01.2003 um 12.37

Der Mann hieß Saß und war selbst ein Reformer -- 1941.


eingetragen von Sigmar Salzburg am 13.01.2003 um 09.37

Die Streichung des Stammlautes „h" in „rauh" ist vor allem auch ein Eingriff in die Sprache. Wenn auch das Bewußtsein dafür durch die „Reform" vom Aussterben bedroht ist, ist es doch landschaftlich noch ganz lebendig:

Das kleine „Kleine Plattdeutsche Wörterbuch" von Dr. Johannes Sass (Wachholtz 2002, in Neuschreibung) gibt für „rau" an:
ruuch ruge, druv druuve ...
Die Nähe zu englischen „rough" ist offensichtlich.
Für den Süden hat Frau Dr. Menges selbst mitgeteilt: „Der Bayer spricht von rauch: Die Mauer ist rauch, aber wenn er sich in hochdeutscher Sprache versucht, dann ist es eindeutig rau und kein h ist zu hören."
In meinem Griechisch-Lexikon (Göttingen 1829) steht „rauch" neben „rauh", ersteres für gr. Wörter der Bedeutung zottig, noppig, uneben, hart.

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Sigmar Salzburg


eingetragen von Henning Upmeyer am 13.01.2003 um 09.24

Genau das ist im Berufsalltag der Normalfall. Umlaufende Fachzeitschriften z.B. müssen in Minimalzeit überflogen werden, um wirklich wichtige Artikel zu erkennen. Nur diese werden dann ganz genau studiert oder fotokopiert. Das gleiche gilt bei der Auswahl eines Fachbuches in der Buchhandlung. Die Beispielreihe läßt sich beliebig fortsetzen.


eingetragen von Theodor Ickler am 13.01.2003 um 08.40

In dem reformpropagandistischen Sammelwerk von Nerius (Deutsche Orthographie. Duden-Verlag 2000) schreiben die Phonetiker Meinhold und Stock folgendes:

"Im Zusammenhang mit der Deutlichkeit der graphischen Wortgestalt ist oftmals die Bedeutung der Oberlängen und Unterlängen der Schrift erwähnt worden: Rauhe soll deutlicher sein als raue, weil die Oberlänge als markante Formeigenschaft der Wortgestalt wirkt. Die tatsächliche Bedeutung dieser vertikalen Formelemente ist gut erkennbar, wenn man flüchtige Handschriften, die die Form der Buchstaben weitgehend auflösen oder nivellieren, entziffern muss; dann kann das Vorhandensein einer Ober- oder Unterlänge eine entscheidende Identifizierungshilfe bieten. Beim präzisen Druckbild dagegen dürften sich solche Einbußen an Markantheit der graphischen Wortgestalt kaum nennenswert bemerkbar machen, zumindest nicht im normalen Leseprozess, allenfalls beim Überfliegen, wo das optische Identifizieren des Wortbildes in der Minimalzeit erfolgt." (S. 391f.)
((Die Großschreibung von Rauhe folgt hier der Neuregelung zur Großschreibung nach Doppelpunkt, sinnvoller wäre die Kleinschreibung des angeführten Wortes gewesen.))
Unterm Strich bleibt also: Die Verfasser wissen sehr wohl, daß rau eine objektiv schlechtere Schreibweise ist.
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Th. Ickler


eingetragen von J.-M. Wagner am 18.11.2002 um 15.07

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Reinhard Markner
»Christa Dürscheid : Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Einige Anmerkungen aus linguistischer Sicht«. Erscheint in : Hua, Zongde (Hrsg.): Germanistische Forschung - Festschrift zum 100. Geburtstag von Prof. Weilian Zhang. Shanghai : Verlag für Fremdsprachen.
Der im Beitrag von Herrn Markner angegebene Link zu dem Text von Christa Dürscheid ist inzwischen obsolet, der Aufsatz findet sich aber in der Sammlung

http://www.uni-muenster.de/Philologie/Dekanat/main_zertifikate_beitraege.htm

an zweiter Stelle ("Redaktionelle Beiträge"; etwas nach unten scrollen). -- Man kann auch den alten Link verwenden, wenn man ihn auf

http://www.uni-muenster.de/Philologie/Dekanat/

verkürzt und dort im linken Seitenrand auf "Zertifikate: Schriftlichkeit und Mündlichkeit" klickt und danach die "Redaktionellen Beiträge" auswählt.
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Jan-Martin Wagner


eingetragen von Reinhard Markner am 20.09.2002 um 15.16

Google sprach :
phonetisch 4820
fonetisch 73 (darunter trotz Einschränkung auf deutschsprachige Seiten einige niederländische Texte)


eingetragen von Christian Dörner am 19.09.2002 um 12.21

Beim Foton, das soeben die Fotosphäre (wäre nicht auch Fo|tos|fä|re im Sinne der Reformer?) verläßt, um sich auf den Weg Richtung Erde zu machen, sind sich die Wörterbücher allerdings noch immer uneinig.
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Christian Dörner


eingetragen von Theodor Ickler am 19.09.2002 um 12.13

Auch Fon, Fonem usw. (Was wieder mal zeigt, daß die Fachsprachen dem Regelungswahn keineswegs entgehen.) Phaulheit ist übrigens nicht erlaubt (obwohl "Fachleute" im Sinne Augsts durchaus an griech. phaulos denken könnten).!
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Th. Ickler


eingetragen von Reinhard Markner am 19.09.2002 um 09.03

»Fonetisch« ist erlaubt ? Ich war zu faul, es nachzuschlagen.


eingetragen von Theodor Ickler am 19.09.2002 um 03.16

Das ist gar nicht unklar, lieber Herr Markner. Fries schreibt nur so, wie es die Kultusminister "erlauben". Haben Sie von einem deutschen Professor etwas anderes erwartet?
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Th. Ickler


eingetragen von Reinhard Markner am 18.09.2002 um 18.22

»Phonetisch« ist ihm wiederum zu kompliziert, er schreibt lieber »fonetisch«. Warum er dann nicht gleich auch »ortografisch« schreibt, bleibt unklar.


eingetragen von Theodor Ickler am 18.09.2002 um 17.33

Herr Fries meint mit "literat" offenbar nur "schriftlich", aber das wäre ihm zu einfach.
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Th. Ickler


eingetragen von Elke Philburn am 18.09.2002 um 16.34

Ich schätze mal, es ist ein Anglizismus:

literate = des Lesens und Schreibens kundig (z. B. "literate societies") oder gebildet.

(Wobei ich selber nicht erkennen kann, in welchem Sinn der Verfasser dieses Wort benutzt.)


eingetragen von J.-M. Wagner am 18.09.2002 um 15.57

Was, bitte, ist ein "literates Wort" (vgl. "orthografieundschrift.pdf", Seite 13)? In meiner Duden-Grammatik (von 1973) kommt das Wort nicht vor, und im normalen Duden gibt es nur den Literaten.
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Jan-Martin Wagner


eingetragen von Reinhard Markner am 18.09.2002 um 15.18

Der [expandierbare] Kern einer nominalen Gruppe wird in der deutschen Orthografie mit initialer Majuskel markiert. Ein nominaler Kern determiniert eine Genus-Domäne, vgl.:
(1) Jochen fehlt es am Nötigsten.
Nötigste ist selbst Genus-determinierend
(2) Dieser Wein ist der beste.
beste wird im Genus von Wein determiniert
(3) Jochen liebt den Besten.
Besten ist selbst Genus-determinierend
(4) Jede/jeder/jedes Dritte ist nötig.
Dritte ist selbst Genus-determinierend
Insbesondere die Differenzierung zwischen Groß- und Kleinschreibung nimmt allerdings in der deutschen Orthografie teilweise auf für den Laien nur schwer beurteilbare syntaktische und semantische Unterscheidungen Bezug. Dass verschiedene Probleme auch von Experten nicht leicht zu lösen sind, zeigt folgender Problemfall [eine Nachfrage bei der Hotline der Duden-Redaktion, Tel : (01 90) 87 00 98, 3,63 DM/Min., ergab zwar am 24.09.2001 eine Rechnung über 54 DM, aber keine Klärung des Problems]:
(5) Sie war unsere Jüngste. Beispiel aus Duden 1, amtliche Regeln §57
Jüngste ist nicht selbst Genus-determinierend und müsste eigentlich klein geschrieben werden; der Grund für die Großschreibung scheint von den Verantwortlichen für diese Normierung darin gesehen zu werden, dass sich jüngste nicht auf ein Substantiv bezieht, wie etwa beste in Beispiel (2). Was ist aber dann in Fällen wie (8) oder (9)?
(6) Dieser Wein ist der beste.
beste wird im Genus von Wein determiniert Beispiel aus Duden 1, Stichwort beste
(7) Wir haben jetzt eine neue Sekretärin; sie ist die jüngste/Jüngste.
(8) Wir haben jetzt eine neue Sekretärin, welche die jüngste/Jüngste ist.
(9) Sie, unsere neue Sekretärin, ist die jüngste/Jüngste.
In Fällen wie (10) und (11) scheint der Grund für die Großschreibung eher darin gesehen zu werden, dass es sich hierbei um feste Wortgruppen" handeln soll (Duden 1, R47):
(10) Es ist das Beste, wenn wir jetzt gehen.
(11) Sie hat sich nicht das Geringste vorzuwerfen.
Die Differenzierung zwischen Groß- und Kleinschreibung in der deutschen Orthografie involviert also eine relativ komplexe syntaktische und semantisch-pragmatische Analyse. Benutzerfreundlicher wäre eine Liberalisierung bei Problemfällen.

http://www2.rz.hu-berlin.de/linguistik/institut/syntax/docs/orthografieundschrift.pdf


eingetragen von Reinhard Markner am 24.08.2002 um 08.51

»Beurteilt man die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung aus linguistischer Sicht, muss man den Kritikern zugestehen, dass sie einige Probleme aufwirft.«

»Christa Dürscheid : Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Einige Anmerkungen aus linguistischer Sicht«. Erscheint in : Hua, Zongde (Hrsg.): Germanistische Forschung – Festschrift zum 100. Geburtstag von Prof. Weilian Zhang. Shanghai : Verlag für Fremdsprachen.

http://www.uni-muenster.de/Philologie/Dekanat/Duerscheid.html


eingetragen von Theodor Ickler am 03.07.2002 um 16.44

Gunnar Böhme: "Zur Entwicklung des Dudens und seinem Verhältnis zu den amtlichen Regelwerken der deutschen Orthographie". Peter Lang, Frankfurt 2001, XVI, 466 S. (Theorie und Vermittlung der Sprache Bd. 35)

Das Buch ist eine von Dieter Nerius betreute Dissertation. Die Reihe wird von Gerhard Augst mitherausgegeben.

Böhme zeigt an kleineren Regelkomplexen wie z. B. der Dreibuchstabenregel, in welcher Weise der Duden im Wandel der Zeiten die amtlichen Regeln auslegte und anwandte. Am Ende heißt es etwas überraschend:

"Die wichtigste Schlußfolgerung aus der vorangegangenen Untersuchung ist zunächst ganz pauschal die Unerläßlichkeit des Weiterbestehens einer in einem offiziellen Regel- und Wörterverzeichnis kodifizierten amtlichen Regelung der deutschen Orthographie." (433)

Dies folgt aber keineswegs aus den Darlegungen. Böhme fährt fort und schließt sich wörtlich an die bekannte Poisition seines Doktorvaters Nerius an:

"Da diese Norm (von 1901/02) staatlicherseits festgelegt wurde, ist sie auch nur durch erneute staatliche Eingriffe zu ändern." (433)

Er sieht die Ursache des Reformbedarfs darin, daß 1901/02 nicht alle Bereiche geregelt wurden und der Staat in der Folgezeit nicht hinreichend auf die Tendenzen im Schreibgebrauch und auf das Bedürfnis der Schreibenden nach "weiteren, verbindlichen und verläßlichen Anweisungen für jeden Einzelfall" reagierte.

"Dadurch blieb es fatalerweise privaten Initiativen wie der von Konrad DUDEN und seinen Nachfolgern mit dem Duden überlassen, im Interesse der Sprachbenutzer den Interpretationsspielraum durch Konkretisierungen und Differenzierungen der Regelung auszufüllen und Normierungen über den amtlich vorgegebenen Rahmen hinaus vorzunehmen." (434)

(Was soll daran fatal sein? Das wird es doch erst durch die staatliche Privilegierung. Andernfalls könnte man den Duden als mehr oder weniger sinnvollen Vorschlag für eine einheitliche Schreibweise betrachten.)

Böhme beklagt die "mangelnde staatliche Kontrolle solcher Orthographiedarstellungen wie der im Duden" (434)

Er fordert für die Zukunft:

"Die deutsche Rechtschreibung muß umfassend kodifiziert sein. D. h., daß alle orthographischen Regelteilbereiche so vollständig und detailliert wie möglich in einem amtlichen Regelwerk fixiert sein müssen. Die Normierung sämtlicher Einzelfälle, die nicht oder nicht eindeutig anhand der Vorschriften im Regelapparat erfaßbar sind, muß über ein amtliches Wörterverzeichnis erfolgen.
(...) Die Einhaltung dieser Vorgaben (in nichtamtlichen Wörterbüchern, Th. I.) müßte staatlicherseits regelmäßig kontrolliert werden."

Man wirft dem Duden einerseits vor, den Kontakt zu den seit langem nicht mehr abgedruckten und kaum noch bekannten Regeln von 1901 verloren zu haben, andererseits beklagt man, daß die seither vorgenommenen Änderungen - meist Anpassungen an den Schreibgebrauch - nicht den amtlichen Segen gefunden hatten, weil der Staat sich kaum noch um solche Dinge gekümmert, sondern sie längst - und 1955 auch offiziell - an den Duden abgetreten hatte. Der Sache nach waren also die Benutzer mit der privatwirtschaftlichen Betreuung durchaus gut bedient und zufrieden, der einzige Makel bestand in den Augen von Böhme und Nerius darin, daß sie nicht staatlich war.

Die von Böhme skizzierte, bis ins kleinste Detail geregelte und zugleich von der Staatsmacht streng kontrollierte Rechtschreibung ist wohl eher eine Horrorvision. Vielleicht soll damit die Staatsgläubigkeit des ehemaligen SED-Genossen Nerius bis in ihr selbstparodistisches Extrem getrieben werden.

Das Buch ist in herkömmlicher Rechtschreibung gedruckt. Der Verfasser versichert, weder emotionale noch fachliche Vorbehalte gegen die Neuregelung zu haben. Aber er wolle "keinen Bruch entstehen lassen zu der Orthographie, die zum überwiegenden Teil den Gegenstand meiner Untersuchung ausmacht (...) Zum anderen geschah dies in Reminiszenz an die erste, fast hundertjährige deutsche Einheitsorthographie und in Verbeugung vor den Leistungen ihrer Verfechter aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, allen voran Konrad DUDEN." (Vorwort)
Herausgeber und Betreuer, also Augst und Nerius, müssen mit dieser Regelung einverstanden gewesen sein.

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Th. Ickler


eingetragen von Theodor Ickler am 20.04.2001 um 08.34

Im neuesten Heft der "Muttersprache" (1/2001, S. 36-45) gibt es einen interessanten Aufsatz von Renate Baudusch: "Die Getrennt- und Zusammenschreibung als Problemschwerpunkt der deutschen Rechtschreibreform".
Frau Baudusch gehörte viele Jahre lang zum Reformarbeitskreis und hat sich besonders mit der Zeichensetzung beschäftigt. Soviel ich weiß, war sie zu DDR-Zeiten kein "Reisekader" und konnte an den Sitzungen im Ausland nicht teilnehmen. Zusammen mit dem GZS-Experten Dieter Herberg trat sie auch für eine bessere Lösung bei der Getrennt- und Zusammenschreibung ein, wurde jedoch von der Schaeder-Partei überstimmt, die dem verhängnisvollen IDS-Entwurf zum Sieg verhalf. Diese Vorgänge werden von Frau Baudusch noch einmal kurz nacherzählt.
"Die Getrenntschreibung als unmarkierten Normalfall anzunehmen und als generelle neue Regel in der amtlichen Regelung (§ 34, E3) zu fixieren bedeutet einen Eingriff in das System der deutschen Sprache, der nur scheinbar klare Verhältnisse schafft, mit dem jedoch gegen die noch im Fluss befindliche Sprachentwicklung und den bereits etablierten Sprachusus verstoßen wird. Für Entscheidungsfindungen auf diesem Gebiet der orthografischen Norm bleibt nur die Möglichkeit, die tatsächlich auf diesem Gebiet vorhandene Unschärfe in der Abgrenzung zwischen Wortgruppe und Zusammensetzung als sprachimmanent hinzunehmen und diese Kategorien nach der auf die Prager Linguistik zurückgehenden Theorie von Zentrum und Peripherie nicht als geschlossene Schachteln zu betrachten, sondern sie als Kategorien mit fließenden Übergängen entwicklungsdynamisch zu begreifen."

In ihrem neuen Aufsatz stellt Renate Baudusch sehr gut dar, wie falsch die Nichtberücksichtigung der Betonung war - wovon ja Schaeder inzwischen selbst abgerückt ist. Besonders am Beispiel der Fügungen und Zusammensetzungen mit "einander" zeigt sie ausführlich und mit vielen Beispielen, wie verfehlt die Reform hier ist. Die Betonung ist zwar nicht ausnahmslos, aber doch in vielen Fällen ein guter Hinweis auf die Schreibung.
Sie schließt mit den Worten:
"Mir ist klar, dass sich der hier aufgezeigte Sachverhalt nicht auf alle Bereich der GZS übertragen lässt; doch sollte das Kriterium der Betonung dort, wo es für die Schreibung hilfreich sein kann, als 'Brücke' sinnvoll genutzt werden können."

Die Lektüre dieses gedankenreichen und allgemeinverständlichen Aufsatzes sei wärmstens empfohlen!
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Th. Ickler


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