Sprachpanscherei
Die Wirtschaftswoche
Ob-la-di, ob-la-da!
Politikersprache. Politiker reden unverständliches Kauderwelsch, weil sie gar nicht verstanden werden wollen. Abgeschaut haben sie sich das bei vielen Managern. Eine Handelsblatt-Reportage über die sprachlichen Meisterleistungen deutscher Staatsmänner.
BERLIN. Die Antwort war Schweigen. Als der Verein Deutsche Sprache (VDS) Ende August den Preis für den „Sprachpanscher des Jahres“ verlieh, blieb der Preisträger stumm. „Englisch wird die Arbeitssprache“, hatte Günther Oettinger einst gesagt, „Deutsch bleibt die Sprache der Familie und der Freizeit, die Sprache, in der man Privates liest.“
Das war zwar klar formuliert, in der Sache aber völlig daneben, befanden die 27 000 Mitglieder des VDS, und sie stellten dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg die Preisträger-Urkunde zu – per Einschreiben. Ein Dankeswort des Gepriesenen ist nicht überliefert. Und auch die träge Öffentlichkeit nahm im sich nur langsam verabschiedenden Sommerloch kaum Notiz.
Eigentlich schade. Denn nicht nur ist Günther Oettinger der erste Politiker, den die Tugendwächter vom VDS zum „Sprachpanscher des Jahres“ ausrufen. Seit 1997 schickte der VDS seine Einschreiben zumeist an Manager wie Bahn-Chef Johannes Ludewig, Telekom-Boß Ron Sommer oder Klaus Zumwinkel, den Vorstandsvorsitzenden der Post.
Oettingers preisgekrönter Satz ist auch beinahe visionär, denkt er doch einen Mechanismus zu Ende, der die Sprache des Politischen hierzulande fest im Griff hat. Da Tatsachen nicht ausreichen, das Publikum anzuziehen, müssen wilde Formulierungen her. Und sind die Tatsachen eine Zumutung, werden sie in besser verträgliche Hüllen gewickelt. Als beredtes Vorbild dienen die sprachpanschenden Manager. Warum dann nicht gleich nur noch Englisch sprechen, etwa im Bundestag, der ab dieser Woche wieder in Plenum und Ausschüssen die Probleme des Landes sprachlich wälzt? Statt zu entblättern, verschleiert die Politsprache im „Sanierungsfall“ Deutschland mehr denn. In Deutschlands Politik regiert die LOI – die Lingua Oeconomici Imperii.
So beim Übel Massenarbeitslosigkeit. Damit wird jede Regierung nolens volens identifiziert. Konsequenterweise entfalten Redner mit Parteibüchern jeglicher Couleur die meiste Phantasie bei der Kreation einer Sprachwelt, die nichts anderes im Schilde führt, als die üble Wirklichkeit vor dem Wähler zu kaschieren.
Kanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Franz Müntefering haben jüngst bei der Vorstellung ihrer „Vorhabenplanung“ erneut die Linie vorgegeben und ordentlich Sprach-Blasen abgelassen. Konfrontiert mit dem absoluten Tiefpunkt ihrer persönlichen wie der Koalitions-Umfragewerte, zwitscherte die Kanzlerin: „Wir haben sehr offen darüber gesprochen, daß bei all den günstigen Daten die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger noch nicht da ist, daß Zweifel bestehen, daß Fragen gestellt werden und daß ein großes Maß an Skepsis da ist.“ Zukünftig aber – „Die Richtung stimmt in unserer Regierungsarbeit!“ – werde man arbeiten: „Wir als Regierung verstehen uns als treibende Kraft, die die Dinge in die Hand nehmen will.“
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Politiker finden hübsche Begriffe für häßliche Realitäten.
Ganz euphorisch beteuerte darauf Sprachapparatschik Müntefering: „Selbstbewußtsein ist möglich und angebracht!“ Aber: „Die Regierung zu messen an dem, was im Wahlkampf gesagt worden ist, ist unfair.“ Wohl denn: Take ist [it?] easy!
Ins allseitig Englische driften vor allem die Haushalts- und Finanzexperten der Koalition. Gerne sprechen sie von „downsizing“ und „case management“, und auch das euphemistische „outsourcing“, was oft den Abbau von Arbeitsplätzen verhüllt, sowie die „lean production“ (dito) kommen in diesem Double-Speak nie zu kurz. Die Berliner Politikexperten scheinen ihren Oettinger längst verinnerlicht zu haben.
Es ginge zu weit, in dieser Welt des verklärenden Jargons und sinnentkernter Phrasen alle jene kleinen Wortschweinereien aufzuführen, die immer nur das eine wollen: hübsche Begriffe für häßliche Wirklichkeiten finden. Ein paar kleinere Schmankerln dennoch: „stabilitätsgerechte Lohnabschlüsse“ bedeuten Lohndrückerei, „zeitgemäße Aufsichtsratsvergütung“ meinen Gehaltseskalation für Führungskräfte, „freisetzen“ heißt entlassen. Begriffe, die für das Gegenteil dessen stehen, das sie eigentlich benennen – die aber netter klingen.
Würde nicht jeder von uns gerne „freigesetzt“, ahnte er nicht, daß er so in die absolute Unfreiheit der Arbeitslosigkeit gesperrt würde? „Set me free!“ und „Born to be free!“ Wie naiv klingen da die Parolen der – freigesetzten – Beatnicks, der Flowerpower-Generation, ja der ganzen Pop-Hemisphäre. Tempi passati.
Der Amerikanistik-Professor Gert Raeithel aus München: „Man müsse so einfach und direkt schreiben, wie ein Stein zu Boden fällt, sagte einst Thoreau. Das wäre heute ein Rezept für Erfolglosigkeit und wirtschaftlichen Ruin. Der Stein darf nicht auftreffen: Oder warum sonst schwebt einem Automobilhersteller eine Modellreihe im oberen Bereich der unteren Mittelklasse vor?“
Tatsächlich bezeichnet schon der Wandel der politischen Bedeutung von „freisetzen“, wie sich unsere Welt – falsch: wie sich unsere Bilder von der Welt – verändern. Im Zentrum aller Versuche, sich der Welt per Sprachbilder zu bemächtigen, steht seit jeher der Bedeutungswandel des Wortes „Reform“. Denn Reformen können ohne mühselige Vermittlungsarbeit nicht an den Mann gebracht werden. Deswegen geht die Politik gerade hier „ökonomisch mit der Wahrheit um“, was nichts anderes heißt als: lügen.
In der Politik, doch selbst in der Wirtschaft stand das Wort Reform zwei Jahrzehnte lang – zwischen den sechziger und achtziger Jahren – für Gleichberechtigung, Strafrechtsreform, kulturelle Liberalisierung, Enttabuisierung, Arbeitnehmervertretung, für eine offene Gesellschaft. Reform stand für eine Ausweitung des politischen Horizonts.
Noch nicht gefesselt vom ökonomischen Abstieg, versuchte die Gesellschaft zumindest mehr libertäre Demokratie und mehr sittliche Freiheit. Doch schon damals tobte hinter der bunten Kulisse der Horizonterweiterung der Krieg der Weltanschauungen, der sich prompt in den Begrifflichkeiten der Politik niederschlagen sollte. Es war Kurt Biedenkopf, der 1973 auf dem Bundesparteitag seiner CDU nach verlorener Wahlschlacht gegen Willy Brandts SPD das Gefecht der Begriffe eröffnete: „Was sich heute in unserem Lande vollzieht, ist eine Revolution neuer Art. Revolutionen finden heute auf andere Weise statt. Statt der Gebäude der Regierungen werden die Begriffe besetzt, mit denen sie regiert.“
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Wer Begriffe und Gedanken bestimmt, hat auch Macht über die Menschen.
Durch die SPD würden, so der damalige Generalsekretär der Konservativen, „die Begriffe besetzt, um der CDU den Zugang zu den politischen Schlüsselbegriffen zu versperren.“ Höhepunkt der apokalyptischen Vision des Kurt Biedenkopf: „Die SPD versucht systematisch, Sprachbarrieren gegen die Kommunikation der CDU mit der Bevölkerung zu errichten. Sie schließt so einen möglichen Wechsel des Wählers zur politischen Alternative CDU sprachlich aus.“
Als gebildeter Professor wußte Biedenkopf, daß er nur in den Polit-Speak übersetzte, was der italienische Kommunist Antonio Gramsci ein halbes Jahrhundert vorher in Kerkerhaft niedergeschrieben hatte: Die politische Macht müsse nicht über politische Taten, sondern über „kulturelle Hegemonie“ erkämpft werden. Erster Schritt: der Bourgeoisie die Begriffe klauen und mit neuen, eigenen Inhalten füllen.
Bemerkenswert bei Biedenkopfs Hegemonieklage war vor allem der kategorische Wortgebrauch: „systematisch“ und „schließt aus.“ Er weist der Sprache radikalste Macht zu: als Bedeutungsentferner und Blockademacht gegenüber dem Gegner. Verwöhnt von einer damals vielen Konservativen schon naturgegeben scheinenden Pacht auf die Macht, fanden die Christdemokraten großen Gefallen an Biedenkopfs Tiraden gegen die roten Wahlgewinnler.
Besonders Heiner Geißler, dem zwölf Jahre später, in Biedenkopfs Fußspuren getreten, beim Wort Revolution prompt Lenin einfällt: „Das Blabla mancher Politiker und Journalisten ist nicht meine Sache. Die Wahrheit muß deutlich gesagt werden: Politische Entwicklungen oder Revolutionen werden heute nicht dadurch in Gang gesetzt, daß man Bahnhöfe oder Telegrafenämter besetzt, sondern Begriffe.“
Geißlers Konzept als Chef-Programmatiker der CDU: „Allemal gilt, daß, wer Begriffe und Gedanken bestimmt, auch Macht über die Menschen hat. Denn nicht die Taten sind es, die die Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten.“ Hegel hätte das nicht klarer ausdrücken können. Die Worte des deutschen Philosophen sind plötzlich Leitmotiv der deutschen Politik. Naivität beim manipulativen Umgang mit Begriffen konnte jedenfalls fortan keiner mehr vortäuschen. Das gilt bis heute.
In der Politik forderte diese Erkenntnis fortan allzu häufig: Worte statt Taten! Helmut Kohl erkannte das früh in seiner Karriere und schalt die „Flucht in politische Sprachspiele“. Wenn er selber zum Sprachhammer griff, hatte er fast blindwütig stets die Apo im Sinn, wenn er den Umgang der Fälscherwerkstatt Politik mit Begriffen schalt: „Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, instruiert, aufgebläht, demontiert. Der Kampf der Worte gerät zum Machtkampf.“
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Die Ära Kohl ist ein Paradebeispiel für sprachpanschende Traurigkeit.
Kohl selbst, der gern den Naiven gab, war selbst kein Kind von sprachpanschender Traurigkeit. Und tat so, als wäre das Aufblähen und Verblenden von Tatsachen nicht das Hauptinstrument der Politik. Mit kalkulierendem Zynismus sprach er beispielsweise – wie vor ihm Helmut Schmidt, Rudolf Augstein und die „Bild“-Zeitung – stets von „Anarchisten“, wenn er die Terroristen der „Baader-Meinhof-Bande“ oder wechselweise die maoistische „Rote-Armee-Fraktion“ und polizeilich gesuchte Kriminelle der KPD/ML ins Visier nahm. Drei Fliegen mit einem Wort.
Der Kanzler, selbst ein großer Blähmeister von Begriffen („geistig-moralische Wende“), hat eine neue Phase des Kriegs der Sprachknöpfe eingeleitet: die permanente Revolution der Worte an Stelle des Machtkampfs, die Herrschaft der Sprechblasen über politische Entscheidungen.
Während kaum einer Regierungszeit wurde soviel leeres Stroh gedroschen wie in den letzten Kohl-Jahren, als die tatsächliche Macht längst den Worten davongelaufen und zu Rot-Grün übergelaufen war. Entsprechend hohl klang damals – in trauter Kollaboration mit Norbert Blüm – Kohls gedrechselte Rhetorik wie „Die Renten sind sicher!“
In der Schröder-Zeit tauchten in der politisch korrekten Schaumsprache Euphemismen wie Vorwärtsverteidigung, Menschenpark, Gesundschrumpfung oder Geringverdiener auf. Krisen-Politik und Krisen-Wirtschaft sowie heikle neue Technologien hinterließen deutliche Spuren in den Versuchen der Politik, mit diesen Entwicklungen so zu Rande zu kommen, daß sie dem grübelnden Bürger zumutbar erscheinen sollten. Folglich mußten die sich durch einen unverdaulichen Mix aus McKinsey-Slang, Manager-Lingo und 68er-Jargon beißen.
Dieser andauernde double speak war und ist Politik, er ist Hegemonialkampf in Gramscis Sinn. In seinem Roman „1984“, geschrieben 1946/47, prägte George Orwell dafür die Bezeichnung „newspeak“: „Solche Phraseologie ist notwendig, wenn man Dinge benennen möchte, ohne die dazugehörigen mentalen Bilder von ihnen hervorrufen zu wollen.“ Frage: Steckt hinter dieser Umdeutung der Begriffe System? George Orwell hätte glatt mit Ja geantwortet.
Worte sind wertegeladene Träger von Realitäten, die sie dadurch verändern. Sie erschaffen neue Wirklichkeiten – Worte sind Politik. Als Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen ist das konsequent, so wie die coole Alltagssprache der Kids, aber auch die der Baseball-Kappen tragenden Väter die Eingewöhnung des Amerikanischen versinnbildlichen.
Das Systematische daran ist nicht gesteuert, hat aber System – und ist kein Zufall. Kein Wunder also, daß es in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nur so wimmelt von „BSE“ – von „bad simple english“ : von Grandfathering Facility Management, Gender Budgeting, Inhouse-Schulung und Event-Sponsoring im Non-Profit-Bereich. Wie nebenbei erfüllen solche Verballhornungen trefflich alle Bedingungen Gramscis, Biedenkopfs, Geißlers: Politische und auch wirtschaftliche Entwicklungen werden durch Begriffe in Gang gesetzt. Die Politik hat gelernt – von der Wirtschaft.
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Wer Goethe folgt, der ist verraten und verkauft.
Bezeichnenderweise kamen in den vergangenen Jahren die von einer Jury erkorenen „Unwörter des Jahres“ vornehmlich aus dem Reich der Wirtschaft: Smartsourcing, „unternehmerische Hygiene“, „Entlassungsproduktivität“ und „beschäftigungsorientierte Entlassungspolitik“ sind nur eine kleine Auswahl jener schön-schrecklichen Euphemismen, mit denen die Wirtschaft und Politik die brutalen Seiten des Konkurrenzkampfes verschleiern und so verhüllen, was sie selber anrichten.
Man stelle sich vor, alle Amerikanismen würden aus der Sprache getilgt, und die Politiker offenbaren, was sie meinen! Vizekanzler Müntefering pirscht sich schon mal an die Verständnisklippe heran – so letzte Woche: „Wenn sich Spielräume ergeben, dann geben wir das den Menschen in Form geringerer Zinszahlungen in der Zukunft zurück!“ Ein einziges Ob-la-di, ob-la-da.
Doch wer außer Handelsblatt-Lesern weiß schon, was hinter Steuersubstrat, Kooperationsverbot und Grandfathering steckt? Welcher Journalist, der nicht Fachgelehrter in Sachen Steuer und Gesundheit ist, kann das treffsicher dem Publikum übersetzen? Schwammigkeit ist der Preis, wenn berufliche Vermittler zu Übersetzern avancieren. Genau deshalb aber, weil sie Eindeutigkeit scheuen, weil sie nicht festgelegt werden wollen, wählen Politiker diesen vieldeutigen Slang. Festnageln gilt nicht!
Wen stört noch die Invasion widersinniger Euphemismen wie „sozial Schwache“, wo doch „Arme“ einfacher, genauer, treffender und ehrlicher wäre? Hier offenbart sich aber auch ein gebrochenes Versprechen der deutschen Politik, die vor 15 Jahren aus dem „Raumschiff“ Bonn auszog, um in der Hauptstadt eine neue „Bürgernähe“ zu pflegen. Das Gegenteil, die fortgesetzte Raumpatrouille im Orbit sprachlicher Abstraktion, ist der Fall und schafft eine weit stärkere Distanzierung – durch den politischen Lingo des Nixverstans.
Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn, seit langem in Sorge über die wachsende Distanz zwischen Politik und Bürger, sagt es so: „Die Terminologie, der sich Wirtschaft und Politik bedienen, stammt immer seltener aus der Alltagssprache. Politiker bedienen sich einer abstrakten Terminologie, um damit eine oft nur scheinbar vorhandene Kompetenz auszudrücken. Sie kokettieren mit Kompetenz.“ Und umgekehrt „spiegelt die Sprache der Politiker oft den Umgang, den sie pflegen, wider. Man kann an unverständlicher Sprache, voll gespickt mit Fachterminologie, erkennen, daß sie nur noch wenig mit der Alltagswelt der Menschen zu tun haben und statt dessen zunehmend in Fachforen, Fachseminaren und der Wissenschaft leben.“
Wie „strange“ klingen da heute die Worte Goethes: „Haltet euch an Worte! Dann geht ihr durch die sichere Pforte zum Tempel der Gewißheit ein.“ Doch angesichts des double speak hat Goethe samt aller Gewißheiten abgedankt. Wer heute seinem Rat folgt, ist verraten und verkauft. Gezielte Mehrdeutigkeit und Verschwommenheit kennzeichnen die Sprache in der Politik. Dadurch aber, so Fritz Kuhn, „untergräbt die Politik ihre Glaubwürdigkeit“.
[04.09.2006] Von Rüdiger Scheidges
Quelle:
http://www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/125/id/211095/SH/0/depot/0/index.html
(Rechtschreibung etwas überarbeitet, DL)
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