Dreimal mehr, als nötig gewesen wären.
Spiegel, 15.07.2010
Volksentscheid in Hamburg
Einpeitscher für rebellische Eltern
Von Birger Menke
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dpa
Bis Sonntag entscheidet Hamburg über die Schulreform, vielleicht sogar über die Zukunft der schwarz-grünen Koalition. Ohne Walter Scheuerl wäre es dazu nicht gekommen: Er schürt den Protest seit mehr als zwei Jahren, machte aus einem Gucci-Aufstand eine kleine Elternrevolte mit allen Mitteln.
Dienstagnachmittag, fünf Tage vor dem Finale des Hamburger Volksentscheids, Lilienstraße 15 das Büro von Wir wollen lernen liegt in der Stadtmitte, zwischen Jungfernstieg und Mönckebergstraße. Walter Scheuerl, 48, kommt herein, weißes Hemd, helle Anzughose, freundliches Lächeln. Über sich selbst sagt er, für manche sei er einfach der Scheuerl, ein Ungetüm.
Wer verstehen will, wie es einer Elterninitiative gelingen konnte, in ganz Hamburg eine glühende Debatte über das sonst oft dröge Thema Bildung auszulösen, wie sie über alle Hürden einen Volksentscheid erzwang, bei dem die Bürger bis Sonntag über eine Schulreform und vielleicht auch über die Zukunft der schwarz-grünen Koalition richten der muss sich mit Walter Scheuerl befassen.
Vor gut zwei Jahren startete er seine Mission, aus dem Nichts. Gerade hatte die Republik eine Premiere bestaunt: Ole von Beust (CDU) und Christa Goetsch (Grüne) schlossen den ersten schwarz-grünen Koalitionsvertrag auf Länderebene.
Nachdem Beust im Mai 2008 seinen Amtseid gesprochen hatte, versprach der damalige CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla die volle Unterstützung der CDU Deutschlands. Beinah zeitgleich, wenige Stunden nach Beusts Vereidigung, gründete Scheuerl die Initiative Wir wollen lernen.
Scheuerl setzte auf eine Revolte in der CDU und täuschte sich
Er ahnte damals nicht, was vor ihm lag, ging davon aus, dass es in der Hamburger CDU eine Revolte geben würde gegen eine Reform quer zur Parteilinie: Hatte die CDU doch einer Schulreform zugestimmt, die neben einem zweigliedrigen System aus Gymnasium und Stadtteilschulen die Primarschule vorsah, die Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre.
Scheuerl erzählt, wie ihm CDU-Mitglieder versicherten, zu dieser Kürzung des Gymnasiums werde es nicht kommen; es bleibe beim Versprechen aus dem Wahlkampf: Am Gymnasium wird nicht gerüttelt. Doch Scheuerl täuschte sich, die Revolte blieb aus. Bürgermeister Beust stellte sich aus persönlicher Überzeugung hinter die Reform und zog seine Partei mit.
Scheuerl nennt das fatal für die CDU. Für ihn selbst bedeutete es eine Wende: Er spürte, etwas Großes könnte aus seiner Volksinitiative werden. Immer mehr enttäuschte CDU-Wähler kamen zu ihm, anfangs meist aus dem Bürgertum Wohlhabende aus Hamburgs Nobelvierteln, Anwälte, PR-Beraterinnen, die sich um die Leistungsfähigkeit der Gymnasien und die Karrieren ihrer Kinder sorgten.
Die Argumente der hanseatisch-vornehmen Variante einer außerparlamentarischen Opposition: Gymnasien müssten ihre Profile aufgeben, könnten ihre Schüler nicht mehr lange genug musisch, bilingual oder altsprachlich bilden. Scheuerl, Sohn eines Erziehungswissenschaftlers und einer Lehrerin, schürte zudem die Furcht, dass die leistungsstarken Schüler unter den Schwachen leiden würden, dass die Primarschule Fünft- und Sechstklässler ausbremse, die aufs Gymnasium gehörten. Daraus sprach der Leistungsgedanke, während die Gegenseite für mehr Chancengerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen warb.
Die Schmähungen und das Kleinreden verstummten im Herbst 2009
Gucci-Aufstand nannte Die Zeit Scheuerls Truppe, grüne Politiker sprachen von den letzten Resten des Ständestaates, einer elitären Minderheit. Scheuerl dient dafür als ideale Projektionsfläche: Er ist Rechtsanwalt bei einer großen Kanzlei, seine beiden Kinder sind Gymnasiasten im noblen Stadtteil Othmarschen.
Doch die Schmähungen und das Kleinreden verstummten, als im Herbst 2009 etwas geschah, das selbst Beust als Paukenschlag bezeichnete: Wir wollen lernen sammelte beim Volksbegehren, der letzten Hürde vor dem Volksentscheid, 184.500 Unterschriften gegen die Reform. Dreimal mehr, als nötig gewesen wären.
DARF'S EIN BISSCHEN LÄNGER SEIN?
Bis 18. Juli entscheiden Hamburgs Bürger, was aus der Schulreform wird: Lernen die Schüler künftig sechs Jahre lang gemeinsam, oder werden sie weiter nach vier Jahren getrennt? SPIEGEL ONLINE hat Pro-und-Contra-Stimmen aus der Politik gesammelt.
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Die Reformer hatten vor allem unterschätzt, welchen Protestwillen die von ihnen zunächst auch geplante Abschaffung des Elternwahlrechts weckte. Sie reagierten und schafften die Abschaffung ab. Vor allem aber reifte mit dem Volksbegehren die Erkenntnis, dass von einem Aufstand weniger Reicher keine Rede mehr sein konnte.
Beust und Goetsch mussten Scheuerls Erfolg anerkennen. Von Beginn an führte er eine Kampagne, die polarisierte. Darum wurde die Debatte über die Schulreform immer giftiger und darum gilt Scheuerl heute vielen als Ungetüm.
Wer Kampagnen aushebeln muss, lernt, wie sie funktionieren
Fast täglich verschickten Scheuerl und sein Team Info-Mails mit Verweisen auf Presseberichte, zuweilen aber auch eigenwilligen Statistik-Interpretationen. Er meldete zum Beispiel voller Freude, Hamburgs Gymnasiasten brächten bessere Ergebnisse zustande als Schüler in Finnland wenig überraschend, da beim Pisa-Gewinnerland eben alle Schüler berücksichtigt wurden.
Wir haben aus Informationen Nachrichten gemacht, sagt Scheuerl. Als Medienanwalt weiß er, wie das geht. Und wie Kampagnen gefahren werden: So vertrat er etwa ein Unternehmen, das Qualitätssiegel für Fleischprodukte vergibt, gegen eine Tierschutzorganisation. Die Tierschützer hatten ein Video veröffentlicht, das zeigen sollte, wie auf einem zertifizierten Hof Schweine im Stall neben den Kadavern von Artgenossen leben.
Wer solche Kampagnen aushebeln muss, lernt, wie sie funktionieren. Und weiß zugleich, wie weit sie gehen dürfen, zumindest juristisch betrachtet.
Scheuerl spricht von Krisensituationen, die er für seine Mandanten zu beschwichtigen habe. Nutzen ihm solche Erfahrungen für die eigene Kampagne? Ja, sein Einsatz für Wir wollen lernen sei eine Umkehrung seiner beruflichen Tätigkeit, sagt er, zögert kurz und schiebt nach: Wir rufen aber natürlich keine Krisen hervor, wir wecken Problembewusstsein.
Das dürfte bei einigen Hamburgern Kopfschütteln auslösen. Cord Wöhlke etwa, Inhaber der Drogeriemarktkette Budnikowski, berichtete Anfang Mai von Drohungen, es werde Boykottaufrufe geben, sollte er weiterhin für die Schulreform-Pläne werben. Von einem Einschüchterungsversuch sprach im Herbst die Schulbehörde: Die Initiative hatte Mitarbeiter per Mail gefragt, was sie zur Umsetzung der Reform befähige. Sie antworteten nicht, nach einer Weile erhielten sie ihre Lebensläufe zugeschickt inklusive Einträgen wie erfolglose Bewerbung.
Das wurde von der CDU zum Nazi-Vergleich hochgepusht
Scheuerl sagt, man könne ihm und der Initiative nichts vorwerfen. Er versteht auch bis heute nicht, wieso es so viel Wirbel gab, als er im Oktober 2009 per Mail verbreitete, die Primarschulpläne hätten eine Tradition in der NS-Pädagogik des Erziehungswissenschaftlers Peter Petersen. Politiker reagierten empört, es hagelte Rücktrittsforderungen, Scheuerl entschuldigte sich. Trotzdem sagt er: Das wurde von der CDU zum Nazi-Vergleich hochgepusht.
Überhaupt habe er das Taktieren der Politiker unterschätzt und gelernt, dass Politiker, wenn sie unter Druck stehen, bestimmte Argumentationsmechanismen in den Raum werfen, so Scheuerl, dem selbst einmal parteipolitische Ambitionen nachgesagt wurden. Für ihn sei so ein Umfeld fehlender Aufrichtigkeit nicht erstrebenswert.
Den Vorwurf, dass er selbst reichlich austeile, lässt er nicht zu. Er spricht freundlich, oft auch leicht amüsiert, immer gedanklich hellwach und ohne den Anschein, lange nachdenken zu müssen, bevor er seine pointierten Sätze aneinanderreiht. Das wirkt überlegen, auch gelassen und provoziert seine Gegner umso mehr.
Heute argumentiert Scheuerl nicht mehr nur mit den Gefahren für die Gymnasien. Er spricht viel über Kinder aus sozial schwachen Familien, über Migranten, die ihre begabten Kinder früher auf ein Gymnasium schicken wollen: Die Primarschule verhindert, dass die Schüler aus Mümmelmannsberg auf das Gymnasium Sankt Ansgard gehen. Er argumentiert aus der Perspektive der Schwachen, das wirkt mehrheitsfähiger und ist zugleich realitätsfern Mümmelmannsberg ist ein Problemviertel, Sankt Ansgard ein katholisches Privatgymnasium.
Am Sonntag werden Hamburgs Bürger entscheiden, ob Walter Scheuerls Mission Erfolg hat. Sicher ist: Auch wenn sie scheitert, werden andere sie weiterzuführen versuchen. Das Saarland und Nordrhein-Westfalen bringen Schulreformen auf den Weg. Eltern- und Lehrerverbände haben bereits mit Scheuerl Kontakt aufgenommen.
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