Konsequenzen
Fast wäre es konsequent, in den neuen Rechtschreibregeln das "ß" auch bei den Dehnungszeichen mit anzugeben; schließlich ist es ja darauf beschränkt, nach einem langen Vokal (oder einem Diphthong) in Erscheinung zu treten. Dies wird bei der Motivation der Heyseschen s-Regel bzw. der Begründung, warum diese sinnvoll ist, unter dem Stichwort Lautprinzip vermerkt. (Hier habe ich absichtlich die Feinheiten weggelassen, um etwas rhetorischen Spielraum zu gewinnen; es geht ja wohl genau genommen um eine Schemenkonstanz bei der Verwendung des "ß" oder so ähnlich, ich habe das gerade nicht im Kopf.)
Das bedeutet doch aber, daß es bei dem Lautprinzip der 'ß'-Schreibung gar nicht um den durch das "ß" ausgedrückten scharfen (stimmlosen) s-Laut geht, sondern um den ihm vorhergehenden Laut wie eben bei den Dehnungszeichen (e, h, eh), bloß daß danach sofort der s-Laut kommt. (Deswegen wäre diese Einordnung nicht ganz konsequent. Warum sie eigentlich sogar irreführend wäre, will ich weiter unten zeigen.) Das finde ich eigenartig; eher würde ich bei "ß-Lautprinzip (absichtlich noch stärker verkürzte Bezeichnung) an den s-Laut des "ß" denken.
Auch hat Herr Markner im Strang »Reformen von 1880« darauf hingeweisen, daß es [die Auffassung gab (und vielleicht gibt es sie auch noch), daß es] Fälle gibt, in denen ein h wie ein Dehnungszeichen plaziert ist, es diese Funktion jedoch nicht hat (die von ihm zitierten Beispiele sind bähen, blähen, rauher). Genauso hat das "ß" vordringlich die Funktion, einen stimmlosen s-Laut zu bezeichnen; der wird gewöhnlich als Doppel-s notiert, an anderen Stellen aber durch "ß" wiedergegeben, in manchen Fällen (wenn unmittelbar darauf ein zum Wortstamm gehörender Konsonant folgt) aber auch durch s (Pfosten, Rispe, Auster, Schuster).
(Kann es übrigens sein, daß der letzte Fall Konsonant im Wortstamm von den alten Dudenregeln (hier: R 183-188) nicht erfaßt wurde? Welche der alten Dudenregeln spricht gegen die Schreibung der *Hußten? Und, Herr Ickler, wie kommen Sie eigentlich auf weniger als 212 Regeln bei der alten Dudenrechtschreibung? In meinem 1986er Exemplar geht es von R 1 bis R 212, jede in ihrem eigenen Kasten.)
Für mich ist der entscheidende Punkt dabei, woran sich diese Notationsfrage (ss oder "ß"; zu s s. o.) entscheiden läßt genauer: worauf diese Entscheidung im Kern zurückgeht. Ich denke, daß der Schlüssel dazu im "ß" selber liegt denn es ist kein Zeichen für eine Ligatur aus s und z, sondern aus dem Lang-s und dem Schluß-s der Frakturschrift. Mithin ist es eine typographische Variante von ss (diese Wahl der Bezeichnung habe ich von Herrn Ickler übernommen).
Das Besondere an einer Ligatur ist der eindeutige Zusammenhang mit der Untrennbarkeit des Wortes an der Stelle ihres Auftretens: Nur dort, wo die Trennung eines Wortes nicht möglich ist, kann eine Ligatur auftreten, und umgekehrt zeigt eine Ligatur an, daß an dieser Stelle keine Trennung möglich ist.
[Nachtrag: Das stimmt nicht!! Siehe dazu den unmittelbar folgenden Beitrag von N. Lindenthal. Im Falle des "ß" trifft es jedoch zu.]
Das hat interessante Konsequenzen:
a) Ein Wort, welches einen stimmlosen s-Laut enthält, der sich bei der Trennung ambisyllabisch verhält (d. h. er tritt an den beiden entstehenden Silbenrändern auf), muß mit ss geschrieben werden, ansonsten aber, wenn keine Aufteilung des stimmlosen s-Lautes erfolgt oder eine Trennung an der Stelle sowieso nicht möglich ist, mit "ß" (ggf. mit s, s. o.).
b) Der Wechsel von ss zu "ß" bei manchen Wörtern (wissen er weiß) ist kein Verstoß gegen die Stammschreibung, denn in Form des "ß" bleibt das Doppel-s erhalten es erscheint lediglich in einer anderen typographischen Form (vgl. auch hier).
c) Als Konsequenz aus a) ergibt sich die Verwendung des "ß" an Stelle von ss in Fällen, bei denen der stimmlose s-Laut auf einen langen Vokal folgt, weil letzterer bei der Silbentrennung das Ende einer Silbe bildet. Das bedeutet aber auch, daß der an dieser Stelle zwangsläufig auftretende Widerspruch zu dem Prinzip, daß ein Doppelkonsonant die Kürze des vorangehenden Vokals anzeigt, durch das "ß" lediglich verdeckt, aber nicht beseitigt wird. Damit muß man leben; zum Glück macht einem das "ß" das leicht.
Mithin braucht man keine Extraregel für die Verwendung des "ß" nach einem langen Vokal oder einem Doppellaut dieser Fall folgt bereits aus der Ligatureigenschaft des "ß" , sondern nur für den zuvor beschriebenen dritten Fall, daß ein stimmloser s-Laut allein durch s notiert wird (vgl. dazu § 25 der amtlichen Neuregelung und § 4 im Icklerschen Rechtschreibwörterbuch).
Vor allem aber ist das Auftreten eines "ß" an sich kein Zeichen für die Länge eines davorstehenden Vokals im Gegenteil: Wenn es irgend etwas mit der Länge des davorstehenden Vokals zu tun hätte, zeigte es als typographische Variante eines Doppelkonsonanten seine Kürze an. Das "ß" als eine Art Dehnungszeichen anzusehen ist irreführend! Dieses Problem löst man m. E. am besten dadurch auf, daß man dem "ß" genau gar keine Funktion bezüglich der Länge oder Kürze seines linken Nachbarn zuspricht.
Und es ist auch umgekehrt die Länge des vorausgehenden Vokals nicht unmittelbar das entscheidende Kriterium für die Verwendung des "ß", sondern dies folgt mittelbar über das allgemeinere Prinzip des Verhaltens bei einer (evtl.) Trennung an dieser Stelle.
Wenn man meiner naiven Herangehensweise folgte und die Bezeichnung Lautprinzip in dem Zusammenhang mit der ss/ß-Schreibung umdeutete (so daß sie sich auf die Qualität des stimmlosen s-Lautes und sein Verhalten bei Worttrennungen bezöge), so käme man zu einigen klaren Konsequenzen (die im wesentlichen die Entstehung des "ß" widerspiegeln, s. o. Inwieweit ist eigentlich die Heysesche s-Schreibung mit den beiden s-Typen der Frakturschriften kompatibel; setzt die Heysesche s-Schreibung Antiqua voraus?), und mir scheint, daß man dann unmittelbar bei der oben beschriebenen Verwendungsregel für das "ß" ankäme, welche ja nichts anderes ist als die altbekannte Adelungsche Regel (warum heißt die eigentlich so, da doch nach http://staff-www.uni-marburg.de/~schneid9/geschich.pdf diese Schreibweise auf J. Ch. Gottsched zurückgeht?). Diese Regel hat den großen Vorteil, daß sie sich sowohl in klarer Weise an den vorhandenen Lauten orientiert, als auch, daß die Variation der Vokallänge bei regionalen Aussprachevarianten kein Problem für ihre Anwendung darstellt.
– geändert durch J.-M. Wagner am 27.04.2002, 12.43 –
__________________
Jan-Martin Wagner
|