"Stille Post"-Effekt?
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Elke Philburn
Uns wurde seinerzeit durch die Goethe-Institute die zusammengefaßte Version von Klaus Heller an die Hand gegeben, die natürlich nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Regelwerk wiedergibt und damit ein geschöntes Bild der Reform erzeugt. Vollständiges Neuschreib wird man damit kaum erzeugen können.
So schlecht scheint mir diese Zusammenfassung von Herrn Dr. Heller auf den ersten Blick gar nicht zu sein. Wenn ich mir dort die Beschreibung zu dem in der Prxis hervorstechendsten Element des »Neuschreib«, der vermehrten ss-Schreibung, anschaue, so ist seine Kurzfassung recht präzise: »ss für ß nach kurzem Vokal« lautet die Abschnittsüberschrift, die als Merkregel die bekannten Falschschreibungen (vgl. "Sammlung: Probleme der ss/ß-Schreibung") vermeiden würde. Auch die Erläuterungen zur jeweiligen Verwendung von ss oder "ß" sind korrekt und durch einfache Beispiele gut illustriert. Eigentlich müßte damit eine fehlerfreie reformierte s-Schreibung gelingen. Woher also kommt die falsche Merkregel nach Kurzvokal 'ss', nach Langvokal 'ß'", auf die so viele Fehler zurückzuführen sein dürften; warum und wie ist die entstanden? Liegt das eventuell an einer Art Stille Post-Effekt, was die Verbreitung der Reformschreibungsregeln betrifft?
Hellers Erläuterungen haben allerdings einen großen Nachteil: Sie beruhen darauf, daß man weiß, wie das Wort vor der Reform geschrieben wurde, taugen also nur etwas für die Umstellung/Umgewöhnung derjenigen, die mit der alten Schreibung (notwendigerweise bestens?) vertraut sind. Denn es heißt bei Heller ja z. B. »ss für ß [...]« also muß man wissen, wo ein "ß" stand, denn nur ein solches soll ggfs. durch ss ersetzt werden. Deshalb ist diese Kurzfassung für den Lernenden nicht brauchbar, und damit besteht weiterhin Bedarf an einer Merkregel.
Oder es heißt, es »wird auch der Wechsel von ss zu ß nach kurzem Vokal aufgehoben [...]« wieder muß man etwas davon wissen, wie es früher war; hier allerdings keine konkrete Schreibung eines Wortes, sondern eine alte Regel, und das stellt eine höhere Schwierigkeit dar als das Wissen um eine Schreibung. Wenn man diesen anspruchsvollen Teil der Erläuterung überliest, weil man ihn nicht versteht, bleibt als Fazit, grob gesprochen, nach kurzem Vokal kommt 'ss'". Ich will damit nicht gesagt haben, daß sich diese Schlußfolgerung zwangsläufig ergibt, ich wollte nur zeigen, warum sie nicht allzu fern liegt und zu einem gewissen Teil durch die Darstellung der Reformschreibungsregeln bedingt sein kann. Das gilt auch für die folgende Passage:
Wenn man in der Erläuterung zum "ß" den Anfang des Satzes mit den bekannten Wörtern Maß, Muße und Straße etwas oberflächlich liest und das Ende wegen der Beschreibung »Doppellaut vor stimmlosem s-Laut« gedanklich fallenläßt, bleibt als Information »die Länge des vorausgehenden Vokals« hängen, mit der man das "ß" in Verbindung bringt. Aha, dann ist die gesuchte Merkregel wohl: nach Kurzvokal 'ss', nach Langvokal 'ß'". Noch Fragen? Nein, jetzt ist es ja klar. Ach so, und wer's immer noch nicht ganz begriffen hat, der bekommt in einer Extrawurst noch den Hinweis auf dass statt daß" geliefert und dies mit der Begründung, dies geschehe »entsprechend der allgemeinen Regel, dass nach kurzem Vokal ss steht«. Prima! Das heißt ja, daß die Merkregel genau richtig ist!!
Also: Man muß in der didaktischen Herangehensweise bei der Vermittlung der Reformschreibung unterscheiden zwischen denen, die schon wissen, wie es vor der Reform geschrieben wurde, und denen, die es neu lernen und das Vorwissen nicht haben. In die zweite Gruppe gehören auch viele von denen, die heute nicht mehr zur Schule gehen, denn nicht alle, die die alte Schreibung gelernt haben, beherrschen diese auch. Vereinfachte Darstellungen der Reformschreibungsregeln, die im wesentlichen auf die Erleichterung der Umstellung der Schreibung abzielen, sind daher für viele Menschen unbrauchbar.
Benötigt werden Merkregeln, welche die Schreibung egal, ob »Neuschreib«, die Icklersche Variante oder das alte Dudendeutsch möglichst direkt vermitteln, d. h. ohne sich dabei auf detaillierte Vorkenntnisse zu beziehen. Merkregeln, die etwas taugen, müssen außerdem narrensicher sein, d. h. sie dürfen nicht zu neuen Fehlern verleiten. Der Hellersche Einschub »entsprechend der allgemeinen Regel, dass nach kurzem Vokal ss steht« bei welchem der notwendige Zusatz wo vorher ß stand fehlt erfüllt diese Kriterien nicht: Es wird sowohl Vorwissen vorausgesetzt, als auch ist diese Kurzfassung nicht narrensicher, wie die vielen Fehler (z. B. "-niss) belegen.
Fazit: Keine Stille Post-Effekte, sondern hausgemachte Schwierigkeiten sind die Ursache der häufigen ss-Fehler.
Jetzt wird es spannend: Wie ist diese Situation zu korrigieren, und ist das überhaupt möglich? Existiert eine narrensichere Faustregel, welche die Reformschreibung ohne Vorwissen (über das alte Dudendeutsch) vermittelt? UND: Kann diese Regel die entsprechende Faustregel der bisherigen s-Schreibung, »Schreibe nur dann 'ss', wenn das Wort an der Stelle (zwischen den 's') getrennt werden kann, sonst 'ß'« an Einfachheit unterbieten?
Dieses halte ich für ein wichtiges Kriterium bezüglich der Akzeptanz einer neuen Regel im Sinne des BVerfG-Urteils! Meine bisherige Erörterung lief ja auf eine Einordnung des Problems der Fehleranfälligkeit der reformierten s-Schreibung in die a)-Kategorie (behebbarer Schaden) meines Eröffnungsbeitrags in diesem Strang hinaus. Hier aber kann sich zeigen, ob es nicht doch in die b)-Kategorie (unheilbar) gehört, je nachdem, wie die neue Merkregel ausfällt. UND: Wenn es allerdings gar keinen Versuch gibt, die Fehleranfälligkeit zu mindern (egal ob mit einer neuen Merkregel oder auf andere Weise), halte ich jede Diskussion für überflüssig, weil dann die neuen Regeln offensichtlich nicht die notwendige Akzeptanz im Sinne des BVerfG-Urteils gefunden haben.
Die letztere Regel (der unreformierten s- Schreibung) erfüllt das Kriterium der Narrensicherheit, denn als implizite Voraussetzung hat man bei jeder Form einer "ß-Regel, daß es um ein Wort geht, welches nicht mit s geschrieben wird. Man kann zwar den sonst-Teil der Regel für den Schwachpunkt bezüglich der Narrensicherheit halten, allein das würde implizieren, daß man fast überall "ß" schreibt was offensichtlich nicht der Fall ist. Offensichtlich ist das allerdings nur für jemanden, der viel (und sinnvolles) gelesen hat wer aber macht das heutzutage noch, insbesondere von den Kindern??!! Deshalb muß der Rechtschreibunterricht mit dem Training der Lesefähigkeit anfangen PISA läßt grüßen...
Natürlich gilt diese Voraussetzung (daß es um Wörter geht, die nicht mit s geschrieben werden) auch bei der Hellerschen Regel, und sie würde auch für die noch zu konstruierende verbesserte reformschreibliche Faustregel gelten. Dann muß man abwägen, welche der Merkregeln quasi mehr oder weniger von dieser Voraussetzung implizit Gebrauch macht bzw. mehr oder weniger dazu verleitet, diese Bedingung außer acht zu lassen. Aber ich will mir nicht weiter die Köpfe der Reformer zerbrechen...
Für die letztere Regel ist außerdem als Vorwissen erforderlich, der Silbentrennung eines Wortes auf die Schliche kommen zu können; dies kann und muß in jedem Fall als elementar vorausgesetzt werden, egal, nach welchem Regelwerk man schreibt. Diese Voraussetzung halte ich daher für unproblematisch.
Fazit: Solange es nichts besseres gibt, kann jedem nur empfohlen werden, sich an die genannte Merkregel der Adelungschen s-Schreibung zu halten.
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Jan-Martin Wagner
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