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Forum > Rechtschreibreform und Gruppendynamik
Rechtschreibreform und Gruppendynamik
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J.-M. Wagner
17.06.2002 12.42
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Wdhlg.: Re: Re: Nolens volens

(Ursprünglich eingetragen von Walter Lachenmann im Strang "Von den Reizen der neuen Rechtschreibung")

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Frau Menges meint, Eltern kauften nur Kinderbücher in neuer Rechtschreibung. Haben sie denn eine Wahl? Es gibt keine anderen mehr. Die Umstellung wurde nicht auf Grund von Elternwünschen vorgenommen, ...
Die meisten Eltern fragen gar nicht nach der Rechtschreibung.

Lieber Herr Lachenmann, verlegen Sie auch Kinderbücher bzw. würden Sie dies tun?

Selbst habe ich mit Kinderbüchern beruflich nichts zu tun. Aus Gesprächen mit Kollegen und insbesondere einem sehr beliebten und ausgezeichneten Autor von Kinderbüchern, der sich schrecklich darüber ärgert, daß er von seinem Verlag vor die Alternative gestellt wird, entweder die reformierte Schreibung zuzulassen oder künftig nicht mehr gedruckt zu werden, ist mein Eindruck folgender:

In den Schulen gilt: Alles in neuer Rechtschreibung. Eltern wollen, daß ihre Kinder in der Schule möglichst wenig Schwierigkeiten haben, sie haben auch ohne Rechtschreibung genug andere Probleme. Also verlangen sie in den Buchhandlungen alle Bücher für ihre Kinder in neuer Rechtschreibung.
Das sagen wenigstens die Buchhändler. Und da setzt sich das fort. Kommt ein Verlag mit Kinderbüchern in herkömmlicher Rechtschreibung, sagt der Buchhändler: Das nehmen mir die Eltern nicht ab. Also sagt der Verleger zum Autor: Schreibst Du Deine Kinderbücher weiter in herkömmlicher Rechtschreibung, nehmen mir die Buchhändler diese nicht mehr ab.
Niemand will die neue Rechtschreibung wirklich, aus Überzeugung. Aber so entsteht diese Kette, die den Anschein erweckt, sie hätte sich bei Kinderbüchern durchgesetzt.

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J.-M. Wagner
17.06.2002 12.41
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Zur Agenturschreibung

In dem "Beschluss zur Umsetzung der Rechtschreibreform" heißt es:

»Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben am 16. Dezember 1998 in Frankfurt einvernehmlich nach intensiver Beratung beschlossen, die Reform der deutschen Rechtschreibung weitestgehend und in einem Schritt umzusetzen. ...
Ausschlaggebend für den Umsetzungsbeschluss war die Überlegung, daß die neuen Schreibweisen in naher Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein werden und daß die (Zeitungs-) Leser künftig in allen Bereichen des öffentlichen Lebens mit den neuen Regeln konfrontiert werden. Ein weiterer Punkt war, daß es nicht Aufgabe der Agenturen sein kann, die Reform zu steuern oder zu verhindern.« (Einleitung)
»Die Agenturen haben am dem 1. August eine Beobachtungsphase begonnen, deren Dauer noch nicht festgelegt ist. In dieser Phase soll die Anwendung der neuen Rechtschreibregelungen beobachtet werden, bevor über eine neue Überarbeitung der Wortlisten entschieden wird. Über eine neue Überarbeitung soll ein noch zu bildendes Gremium befinden, dem neben den Agenturen Vertreter der Medien und der Wissenschaft angehören sollen.
Stand 01.10.99« (nachgesetzter Hinweis)

Darüber kann man lange nachdenken, und es wird einem eine ganze Menge daran auf- und dazu einfallen. Mir ist hier lediglich wichtig, daß „die neuen Schreibweisen in naher Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein werden“ -- wenn das so ist, sollte auch ganz selbstverständlich klar sein, daß dem so ist; warum aber sollte es dann eine Überlegung darstellen? Was wurde an Argumenten erwogen, um zu diesem Schluß zu kommen?

Ohne jedwede Spekulation läßt sich dem Text nur entnehmen, daß für zutreffend gehalten wird, daß man »künftig in allen Bereichen des öffentlichen Lebens mit den neuen Regeln konfrontiert« wird. Ein Teil dieser "öffentlichen Konfrontation“ entfällt gewiß auf die Schulen. Insofern kann man m. E. davon ausgehen, daß hinter dieser Formulierung -- ob bewußt oder unbewußt, ist dabei jedoch nicht klar -- die „Begründung“ steckt, „weil es die Kinder in der Schule jetzt so lernen“.
Das stimmt zwar, aber was für Konsequenzen sollte man daraus eigentlich ziehen?
__________________
Jan-Martin Wagner

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Jörg Metes
16.06.2002 07.14
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Der Kunde ist nur Vizekönig

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler (im Strang 'Helden der Rechtschreibung', 20.04.2002):
In der Zeitung liegt heute eine Leseprobe der Senioren-Zeitschrift „Lenz“. Auf den wenigen Seiten lese ich:
Begrüssungsgeschenk (2x), noch mal, Darübereden, länger Arbeiten, wir Vielen, weiter zu führen, Atem beraubende Schönheit, wo Europa am Schönsten ist (2x), am Idyllischsten, am Besten, bruzzeln, um so, zurück erstatten (2x)
Im übrigen fragt man sich, warum eine Zeitschrift in Neuschrieb erscheint, wenn die Leserschaft noch nicht einmal zu 10 Prozent dafür ist.
- Auch die sogenannte Regenbogenpresse hat ganz überwiegend auf Reformschreibung umgestellt (die einzige mir bekannte Ausnahme ist frau aktuell) – und das, obwohl ihre Leserschaft zu immerhin ca. 50% aus Menschen über 60 besteht. Der Grund, aus dem sie umgestellt hat, dürfte der sein, daß die übrige Presse es ebenfalls getan hat. Eine Zeitung gleicht ihr Erscheinungsbild an dem der anderen ab. Werbekampagnen gleichen ihr Erscheinungsbild an dem der anderen ab. Das bundesweit tätige Bestattungsunternehmen Ahorn-Grieneisen gibt Werbebroschüren, die sich gezielt an alte Menschen richten, in Reformschreibung heraus (aber mit dem Slogan: Bleiben Sie sich treu). Nicht das Kundenprofil ist letztlich Maßstab aller Dinge, sondern das Profil der eigenen Branche. Trendgehorsam ist stärker als selbst die Kräfte des Marktes.
(Ich lasse den Einfluß, den Bertelsmann oder Langenscheidt nehmen, hier außer acht, weil unabhängige Verlage sich nicht anders verhalten.)
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Jörg Metes

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Jörg Metes
15.06.2002 23.48
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Der Trend zum Schweigen

Trendgehorsam scheint mir etwas ganz anderes zu benennen: das Bedürfnis nämlich, mit der Zeit zu gehen. Das Gefühl, mit ihr gehen zu müssen.
Wenn die Leser der 'Märkischen Allgemeinen' – wie der Chefredakteur an Frau Salber-Buchmüller schreibt – tatsächlich so gut wie nicht protestieren gegen die Reformschreibung, dann zeigt das für mich erst einmal nur, daß sie sich scheuen, es zu tun. Davon, daß die Mehrzahl der Leserbriefe an die 'Märkische Allgemeine' weiterhin in herkömmlicher Rechtschreibung verfaßt ist, kann ausgegangen werden (vgl. die Auskunft, die mir z.B. die 'Neue Westfälische' gegeben hat). Würde die 'Märkische Allgemeine' unter ihren Lesern eine offizielle Befragung durchführen, ergäbe sich schätzungsweise also ein anderes Bild als das, das der Chefredakteur zeichnet (doch eine solche Befragung wird nicht durchgeführt. In vielen Tageszeitungen wurde nicht einmal über die Umfrage von Allensbach berichtet).
Die Leser schweigen, weil man ihnen eine Rückkehr zur alten Rechtschreibung als undenkbar darstellt. Es entsteht das, was Elisabeth Noelle-Neumann eine Schweigespirale genannt hat. Timur Kuran nennt es Präferenzverfälschung. Im Vergleich dazu ist bereits Trendgehorsam ein unsachlicher Begriff; man sollte ihn vielleicht besser nur im Zusammenhang mit der Presse verwenden und nicht im Zusammenhang mit ihren Opfern: den Lesern.
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Jörg Metes

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Detlef Lindenthal
14.06.2002 01.56
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„... Trendgehorsam ...“

Würde man die gleiche Haltung, entsprechende Zeiten und Abrufzustände vorausgesetzt, auch Kadavergehorsam nennen?
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Detlef Lindenthal

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Jörg Metes
13.06.2002 22.15
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"Trendgehorsam"

Ich habe den Begriff in der FAZ gefunden, in einem Aufsatz, der mit der Rechtschreibreform eigentlich gar nichts zu tun hatte (Erwin Wickert, 'Wir Tugendländler', 27.04.02).
Doch paßt er nicht bestens auch in unser Thema?
Trendgehorsam.
Ich will ihn nur grade mal festgehalten haben.
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Jörg Metes

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Jörg Metes
27.04.2002 09.53
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Re: Altes Rezept

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Das sind alte Weisheiten, die man sicher auch in Ratgebern über die Kunst des Gesprächs finden wird.
So sehe ich das auch. Doch halte ich Herrn Lachenmann zuliebe gerne noch einmal fest: Es gilt, bei der Kritik den richtigen Ton zu treffen. Die moralische Integrität des Gegenübers anzuzweifeln, gehört nicht zum richtigen Ton, genausowenig wie alle Arten von Beleidigung, Nötigung oder gar körperlicher Gewalt.
Frau Ludwig und mir zuliebe halte ich aber auch noch einmal fest: Es gibt bei Lehrern, Redakteuren oder Lektoren auch so etwas wie eine Berufsehre, an die man appellieren und bei der man diese Leute vielleicht packen kann.
Der Appell an die Berufsehre ist ein moralischer. Und wenn Herr Lachenmann noch so sehr darauf dringt, die Moral hier überhaupt herauszulassen: Ich beharre darauf, daß sie genau in diesem einen Sinne aber hineingehört.
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Walter Lachenmann
Was sollen sie machen? Ihren Beruf an den Nagel hängen?
Was wir erreichen wollen, ist, daß Lehrer, Redakteure und Lektoren (und Journalisten, Korrektoren, Übersetzer etc.: die sogenannten Mulitiplikatoren eben) sich der neuen Rechtschreibung verweigern – und zwar erfolgreich. Das Unbehagen an der Reform soll sich nicht legen, sondern steigern. Das Unbehagen, das es zu steigern (bzw. sicherlich: bei einigen auch erst zu wecken) gilt, ist eine moralische Empfindung. Es ist die Empfindung, das Falsche zu tun, wenn man 'dass' schreibt. Ist das allgemeine Unbehagen (das allgemeine Unbehagen in speziell dieser Gruppe, nicht: in der Bevölkerung insgesamt) groß genug, kippt auch die Reform.
Zitat:
Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
...daher bin ich neugierig zu erfahren, mit welchen Sachargumenten Sie (und auch andere hier im Forum) bisher recht gute Erfahrungen gemacht haben, um auch Leute zu erreichen, die man nicht so gut kennt. Oder denken Sie, daß es in erster Linie auf die Art des Auftretens ankommt und die Sachargumente eher zweitrangig sind?
Sachargumente muß man meiner Erfahrung nach eher parat haben als auf den Tisch legen. Ich suche die Auseinandersetzung mit denen, deren Arbeit ich an und für sich schätze. Ich bringe zum Ausdruck, daß ich sie schätze, und bekenne, daß ich eben deshalb unglücklich über ihre Orthographie bin. In der Regel stellt sich dann ohnehin gleich heraus, daß die Angesprochenen selber nicht glücklich sind. Ich erkundige mich, ob es dann nicht irgendetwas gibt, was sie tun können, und ermuntere sie, es zu tun.

Leute aber, denen die Reform tatsächlich völlig gleichgültig ist, kann ich manchmal (nicht brieflich, sondern im Gespräch) für das Thema interessieren, indem ich sie nicht bei der Berufsehre, sondern bei ihrem Ehrgeiz packe. Ich bringe das Thema auf die Frage der Gruppendynamik. Was, frage ich sie, glaubst du: Warum ist es den Leuten einerseits so wichtig, daß man 'daß' jetzt mit zwei 's' schreibt, und andererseits so egal, daß man 'du' jetzt eigentlich immer klein schreiben müßte? Es ist ein Rätsel, von dem sich auch die Gleichgültigen oft herausgefordert fühlen.
– geändert durch Jörg Metes am 29.04.2002, 08.33 –
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Jörg Metes

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Walter Lachenmann
27.04.2002 08.47
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Nur ein kleines Beispiel

Ich mache gerade ein Buch mit einem Korrespondenten der SZ, in dem feuilletonistische Texte von ihm aus 50 Jahren zusammengetragen werden. Zur »Einstimmung«, daß es sich um Zeitungsfeuilletons handelt, wollen wir – blaß gedruckt, nicht zum Lesen bestimmt – eine Zeitungsseite mit einem seiner Artikel als Faksimile auf dem Vorsatzblatt abbilden. Die Seite zeigt ein Foto vom Mississippi mit einer schönen Brücke und die Überschrift: Das Swingen ist ein langer ruhiger Fluss (weil der Artikel nämlich nach der Reform erschienen ist). Nun habe ich diese Titelzeile neu abgesetzt mit »Fluß« und in die Reproanstalt gegeben mit der Bitte, diese über das Original zu kleben, da ich in meinen Büchern keine reformierte Orthographie dulde. Klarer Fall von Urkundenfälschung, aber was soll's! Der Repromensch hat sich darüber gewundert, dann sofort gesagt, er fände diese neuen Schreibungen auch ziemlich blöd, hätte aber nicht gewußt, daß man so gar nicht schreiben müsse. Und wenn das so sei, dann würde er es auch sein lassen.
Ich könnte noch einige Geschichten dieser Art erzählen – es sind die steten Tröpfchen, die den Stein höhlen können. Wäre ich dem Mann mit Sprüchen gekommen, hätte er mich zu Recht blöd gefunden und weiter an die Sinnhaftigkeit der Reform geglaubt.
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Walter Lachenmann

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Martin Reimers
27.04.2002 07.38
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Überzeugungsarbeit

Professor Ickler hat etwas für unsere täglichen Auseinandersetzungen sehr Wichtiges gesagt – es kommt natürlich darauf an, im Gespräch Anknüpfungspunkte zu finden, die den Gesprächspartner selbst betreffen. Einen Grübler, den der Zustand unserer gegenwärtigen Kultur umtreibt, können andere Argumente überzeugen, als einen Spaßvogel. Für beide ist schließlich kein Mangel an Argumenten abzusehen, so daß wir nicht wie in den siebziger Jahren die K-Grüppler (oder die Staubsaugervertreter) irgendetwas herunterrasseln müssen

Ich denke, wir können zur Zeit sehr viel frische Argumente aus der Allensbacher Umfrage herauslesen. Frau Ludwig machte mich neulich im Gespräch erst richtig auf den Umstand aufmerksam, daß einem Drittel der Befragten die Rechtschreibung inzwischen egal ist. Das ist genau so beunruhigend wie der hohe Prozentsatz derer, die das Regelwerk anwenden (oder anzuwenden glauben), obwohl sie es nicht gutheißen. Beides muß auch denen zu denken geben, die die RSR immer noch verteidigen wollen (oder müssen).

Ansonsten sollten wir wohl immer wieder darauf verweisen, was die Umstellung für jeden bedeutet, der öfter einmal etwas zu Papier zu bringen hat: Grammatikfehler, grob mißverständliche Formulierungen und eine gnadenlose Einebnung von Bedeutungsnuancen.

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Martin Reimers

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Theodor Ickler
27.04.2002 04.45
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Altes Rezept

Kein Mensch läßt sich gern von seiner Meinung abbringen oder auch nur der bisherigen Gleichgültigkeit überführen. Zu Kreuze kriecht man nicht gern. Bekehrungen sind daher äußerst selten. Polemik wird nur von ohnehin Gleichgesinnten genossen und ist auch nur für sie bestimmt. So habe ich es jedenfalls immer verstanden.

Ganz anders sieht es aus, wenn man dem Umworbenen das Gefühl gibt, von sich aus auf die Wahrheit gestoßen zu sein. Das erreicht man auf verschiedenen Wegen. Natürlich muß man ihm den Stoff erst einmal in geeigneter Form zugänglich machen, damit er sich eine Meinung darüber bilden kann. Dann kann man auch mal versuchen, sein Einverständnis sozusagen kontrafaktisch vorauszusetzen. Gemeinsames Lachen wirkt auch verbindend, also etwa über etwas ziemlich Doofes, worüber es bestimmt keine Meinungsverschiedenheit gibt. Unwiderstehlich wirken Lob und Anerkennung, ob ehrlich oder nicht. Irgendeine gute Seite hat ja fast jeder, so daß man da schon einmal anknüpfen kann.

Das sind alte Weisheiten, die man sicher auch in Ratgebern über die Kunst des Gesprächs finden wird.

Nur keine Kraft verschwenden durch Pseudodiskussion mit Funktionären, also den Ministerialräten usw.

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Th. Ickler

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J.-M. Wagner
26.04.2002 21.44
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Re: Moral ... Erkenntnis ... Überzeugungsarbeit ...

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Walter Lachenmann
Ansonsten grundanständige Leute haben keine Bedenken gegen die Rechtschreibreform und wundern sich über die Aufregung von unsereins. Das muß man zur Kenntnis nehmen.
Das entspricht ganz genau meiner Erfahrung: Unverständnis ob der Bemühungen an sich.
Zitat:
Es ist nicht hilfreich, deren moralische Integrität anzuzweifeln. Hilfreicher ist sachliche und freundliche Überzeugungsarbeit, ohne allzu viel Missionarstum und ohne Moralkeule! (...)
Ich denke, daß das der einzig sinnvolle Weg ist. Niemand läßt sich in persönlichen Dingen – und ich sehe die Wahl der Art zu schreiben als eine persönliche Entscheidung an, ganz egal, welchen Gründen sie entspringt – von anderen bedrängen, und von aufdringlich-missionarisch oder besserwisserisch wirkenden Leuten läßt man sich ja nie gern etwas sagen, ganz egal, ob die nun vielleicht recht haben oder nicht.

Diese Herangehensweise ist aber nicht ganz einfach; sie verlangt Fingerspitzengefühl und etwas Einfühlungsvermögen, am besten eine gewisse Vertrauensbasis. Die hat man aber nicht immer, und daher bin ich neugierig zu erfahren, mit welchen Sachargumenten Sie (und auch andere hier im Forum) bisher recht gute Erfahrungen gemacht haben, um auch Leute zu erreichen, die man nicht so gut kennt. Oder denken Sie, daß es in erster Linie auf die Art des Auftretens ankommt und die Sachargumente eher zweitrangig sind?
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Jan-Martin Wagner

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Walter Lachenmann
26.04.2002 20.55
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Moral ... Erkenntnis ... Überzeugungsarbeit ...

Das ist alles unbestritten. Es mag auch gelten für Journalisten, etwa die der SZ, die genau wissen, welch minderwertiges Deutsch unter ihrem Namen neuerdings publiziert wird. Viele dieser Journalisten (mir zum Teil bekannt) liefern ihre Texte aber durchaus in herkömmlicher Orthographie ab – und wir wissen nicht, ob der Zorn in den Redaktionen teilweise nicht doch ganz beträchtlich ist. Was sollen sie machen? Ihren Beruf an den Nagel hängen?

Für andere gilt, daß die Voraussetzung für eine sinnvolle und eventuell sogar fruchtbare moralische Kritik die Fähigkeit zur Einsicht des Kritisierten ist, daß er »unmoralisch« handelt. Und diese Fähigkeit als Voraussetzung fehlt leider auch unter Fachleuten weitgehend. Und es fehlt die Fähigkeit, Qualität von Minderwertigem zu unterscheiden. Das ist in vielen Fällen eher ein Bildungsproblem als sonst eines. Und wenn man das schon bei Sprachwissenschaftlern feststellt, wie sollte dies dann bei Lehrern, Verlagsleuten Autoren usw. nicht erst recht anzutreffen sein!

Es ist einfach so.

Ansonsten grundanständige Leute haben keine Bedenken gegen die Rechtschreibreform und wundern sich über die Aufregung von unsereins. Das muß man zur Kenntnis nehmen. Es ist nicht hilfreich, deren moralische Integrität anzuzweifeln. Hilfreicher ist sachliche und freundliche Überzeugungsarbeit, ohne allzu viel Missionarstum und ohne Moralkeule! Ich habe damit jedenfalls ganz gute Erfahrungen gemacht, und meine Bekehrungsquote kann sich sehen lassen. Ob Keulenprediger mit ihren nervtötenden Gebetsmühlensprüchen da mithalten können, wage ich zu bezweifeln. Irgendwann ist es mit diesen Methoden vielleicht dann doch einmal »zu spät ...«

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Walter Lachenmann

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Jörg Metes
26.04.2002 17.17
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Was die Fachleute angeht

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Walter Lachenmann
Ich stelle auch unter meinen Kollegen aus dem Verlagswesen, ohne es wirklich nachvollziehen zu können, nach wie vor eine wohlwollende oder allenfalls abwiegelnde Einstellung zur Reformschreibung fest. Das ist nicht Feigheit oder mangelnde Zivilcourage, eher ein Unvermögen, die Tragweite einzuschätzen, ein Mangel an Sensibilität für das Kulturgut Sprache. Das ist auch schlimm, aber die Kritik muß da anders lauten als Untertanengeist, Geldgier usw(...) Jegliche Moralkritik geht hier daneben. Die Kritik an mangelndem Kulturbewußtsein träfe eher, aber so wird ja nur im Nebenbereich argumentiert.
Man sollte nicht über die Motive urteilen, wohl aber über die Tat. Die neue Rechtschreibung ist eine schlechte Rechtschreibung, und wer sie als Fachmann anwendet oder verordnet oder unterrichtet, ist dafür zu kritisieren. Zu den Pflichten, die er als Fachmann hat, gehört eben auch die, sich kundig zu machen. Ein Fachmann hat seine Arbeit so gut wie möglich zu machen. Ein Fachmann, der seine Arbeit schlechter macht, als er sie machen könnte, muß sich das vorwerfen lassen. Ein Redakteur, Lektor oder Lehrer, der von einem Nichtfachmann in der Verlags- oder Behördenleitung angewiesen wird, die neue Rechtschreibung anzuwenden (und also: schlechter zu arbeiten), muß es sich vorwerfen lassen, wenn er dagegen nicht Einspruch erhebt. Die Gründe dafür, daß er keinen erhebt, diskutiert man besser soziologisch als moralisch, der Vorwurf aber, den man ihm trotzdem machen muß, ist eben doch ein moralischer. Es ist nicht der Vorwurf, aus Geldgier oder aus Feigheit, sondern einfach nur an sich und ganz egal aus welchen Gründen: schlecht zu arbeiten.
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Jörg Metes

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Michael Krutzke
25.04.2002 13.31
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Noch eine Gruppe mit ihrer Dynamik - die Wirtschaftsdynamiker ...

Gut, daß Herr Lachenmann die Sache in Verbindung mit der Wirtschaft, also mit der materiellen Grundlage unserer Existenz, bringt. Vom Abstand, der mit dem „Kompetenz“-Begriff ausgedrückt oder hergestellt wird, lebt das „Consulting“-Unwesen.

Schon vor Jahren wurde kritisiert, daß die Einschaltung von Beratern nicht immer dem Hinzuziehen von externem Sachverstand dient (was ja sinnvoll sein kann), sondern oft schlichte „Auslagerung“ – „outsourcing“ – (oder besser das Abschieben) von Verantwortung ist, nämlich von der Unternehmensleitung an den Berater. Dessen Verantwortung endet aber mit der Abgabe seines Konzepts, Umsetzbarkeit nachzuweisen, ist nicht seine Pflicht. Was daraus folgt, ist bekannt – verantwortlich ist letztlich niemand (kassiert haben aber alle Beteiligten).

Entscheidend: Hier handeln meist nicht „die Unternehmer“ (wie es in gewerkschaftlichem Platt-Deutsch so massenwirksam heißt), sondern es sind angestellte Mitarbeiter. Zwar leitend tätig, mit einer Menge Macht versehen, aber sie sind keine Unternehmer. Maximal sind sie Anteilseigner – shareholder eben. Denen wiederum gehört zwar das Unternehmen, aber sie sind Investoren, nicht Unternehmer. Ich betone das so, weil Unternehmer eben nicht den Abstand zu ihrem Unternehmen haben wie angestellte Manager und Anteilseigner. Nicht selten riskieren die ihr Privatvermögen, um eine Krise zu überwinden.

Seit Anfang der 80er Jahre (nach meiner Wahrnehmung) dienen die in der beschriebenen Weise Handelnden ja massiv als Vorbilder für junge Leute. Erfolgs- und Karriereorientierung nach diesem Muster hat auch die Übernahme von Verhaltens- und Ausdrucksweisen der neuen Leitbilder zur Folge. Dazu gehört auch und vor allem die Sprache. Sprachlich „kompetent“ kann man schell wirken, auch wenn man noch gar nichts geleistet hat. Sehr viele Worte für sehr wenig Substanz, dieses Muster zieht sich durch viele Veröffentlichungen hindurch (leider auch von Leuten, die bereits etwas geleistet haben). Aber es soll ja nicht nur „kompetent“ klingen, sondern auch verschleiern. Auslegungsspielraum schmälert die eigene Verantwortlichkeit. „Reden wie die erfolgreichen Leitbilder“ – was da genau gesagt wird, interessiert nicht so sehr. Sich einer Sache angemessen, klar, einfach und verständlich auszudrücken, wurde im Laufe der Entwicklung eher zur Untugend. Wie viele Verantwortungsträger nicken wissend, wenn ihnen ein Unternehmensberater vorträgt, sie müßten „proaktiv und rasch agieren durch eine flexible Strategie, effiziente Organisation und leistungsfähige IT-Ressourcen“? Es werden nicht wenige sein.

Da hat sich offensichtlich etwas verselbständigt, wurden Worte von Inhalten getrennt und bilden eine Art Kunstsprache, die von Gurus und Gläubigen am Leben erhalten wird. Welche Rolle kann da eine Orthographie spielen? Das Weglassen von Bindestrichen kann sinnverändernd sein? Egal, man weiß doch was gemeint ist. Wahrscheinlich wird das mit den ökonomischen Heilslehren mitgeliefert, die über den Atlantik kommen. Und wer die völlig unkritisch übernimmt, der macht sich doch keine Gedanken um „Tipp“, „Maßnahme orientiert“ oder „hier zu Lande“. Da wird halt etwas anders kodiert, na und? Es scheint eine stille Übereinkunft der „Insider“ zu geben, Unscharfes oder Sinnloses nicht zu „hinterfragen“. Der Bewußtseinsabstand (K. Decker) ist notwendig, um den ganzen inhaltlichen und sprachlichen Unsinn mitzumachen, die Verhaltens- und Ausdruckweisen zu übernehmen. Als Teil des beruflichen Selbstverständnisses und der Karriere – und insofern identitätsstiftend. Das ist das Schlimme daran.


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Michael Krutzke

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J.-M. Wagner
25.04.2002 13.15
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Vorsicht / Suggestion

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Elke Philburn
Die Art und Weise, wie z. B. in Großbritannien die Rechtschreibreform eingeführt wurde, war recht überzeugend: Heller tourte durch die Goethe-Institute und hielt Vorträge vor Lehrern und Dozenten mit anschließender Diskussion.

Der Eindruck war ganz klar, daß die neue Rechtschreibung kommt und daß Schüler und Studenten davon profitieren würden. Daß das Goethe-Institut eine Vorreiterrolle einnahm und zum frühestmöglichen Termin umstellte, erschien nur sinnvoll, denn man hätte ja mit der 'alten' Schreibung den Kursteilnehmern etwas beigebracht, das sie sich nach einigen Jahren doch wieder hätten abgewöhnen müssen.
Das ist die eine Seite der Medaille, und zwar jene, die ich recht gut nachvollziehen kann: Wenn man davon ausgeht, daß in Zukunft die neue Rechtschreibung die allgemein übliche sein wird – und diese Annahme mag man 1996 in gewisser Weise zu recht getroffen haben, denn es galt ja noch das Prinzip, daß das gilt, was im Duden steht –, ist es natürlich sehr sinnvoll, sich so bald als möglich nach der neuen Schreibung zu richten.

Ich kann nur spekulieren, aus welchem Grund man diese Annahme für berechtigt gehalten haben mag; ich persönlich war davon ausgegangen, daß die Reform „harmlos“ sei und das hält, was von ihr versprochen wurde. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, die Neuregelung zu hinterfragen; ich habe mich auch nicht weiter inhaltlich damit beschäftigt.

Zitat:
Klar, daß der Eindruck entstand, man müsse das schon irgendwie 'mitmachen', und sei es nur, um auf dem vermeintlich neuesten Stand zu sein.
Mir scheint, daß dieser Eindruck nicht nur einfach so entstand, sondern speziell gefördert wurde – und das ist die andere Seite der Medaille. Aber hier muß man sehr vorsichtig sein, denn einerseits sind die Grenzen zwischen Information und Suggestion fließend, und andererseits muß vieles Spekulation bleiben, weil es im Rückblick betrachtet wird und man in die Leute nicht hineinschauen kann.

Nehmen zir zum Beispiel folgenden Text von Herrn Heller, der im November 1996 im Uni-Report (Mannheim) erschienen ist:

Zitat:
Rechtschreibreform
Die Konsequenzen für die Universitäten
von Dr. Klaus Heller (Institut für deutsche Sprache, Mannheim)

– dieser Text folgt den neuen Regeln -
Seit die politischen Vertreter der deutschsprachigen Staaten und weiterer interessierter Länder am 1. Juli 1996 in Wien ihre Unterschrift unter eine Gemeinsame Erklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung gesetzt haben, steht es allen frei nach den neuen Regeln zu schreiben. Schon gehen manche Zeitungen daran sich auf die neue Orthografie umzustellen und in den Schulen vieler deutscher Bundesländer werden die Erstklässler sinnvollerweise bereits mit der neuen Schreibung vertraut gemacht (was so am Anfang freilich nur wenige Wörter betrifft).

Wenngleich sich die „Spielregeln“, nach denen die Umstellung auf die neue Rechtschreibung geschehen soll, in den verschiedenen Lebensbereichen und von Land zu Land recht unterschiedlich darstellen, so sind doch einige Eckpunkte gesetzt, die allgemeine Gültigkeit besitzen. So gilt für alle deutschen Schulen, dass ab dem ersten Schultag des Jahres 1998 nur noch die neue Rechtschreibung gelehrt werden darf (auch wenn die alte noch weiter toleriert, d. h. zwar als überholt gekennzeichnet, aber nicht als falsch bewertet wird). Und es gilt allgemein, dass diese Zeit des Tolerierens der überholten Schreibung am 31. Juli des Jahres 2005 endet.

Für die Behörden gibt es unseres Wissens bisher keine Vorgriffsregelung, und so ist wohl davon auszugehen, dass der Stichtag für die Umstellung hier der 1. August 1998 bleiben wird. Was aber ist mit den Universitäten? Anders als die Schulen, die sich auf entsprechende Erlasse ihrer Ministerien berufen können und für die eine gewisse Einheitlichkeit des Vorgehens der Lehre wegen unerlässlich ist, sind noch keine Anweisungen bekannt, die die Hochschulen generell auf einen Umstellungstermin festlegen oder einen solchen Termin für die eine oder andere Alma Mater ins Auge fassen würden.

Eben, weil es hier nicht darum geht, Rechtschreibunterricht umzustellen, sondern die neuen Regeln – wie in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auch – praktisch anzuwenden, und weil hier schließlich erwachsene Menschen miteinander verantwortlich umgehen, sind außerhalb der gegebenen Rahmenrichtlinien wohl keine weiteren Regelungen nötig. Jedenfalls nicht, soweit sie die Studenten betreffen, denen es während der gesamten Übergangszeit freistehen sollte noch die alte oder aber bereits die neue Orthografie zu verwenden. Das auch mit Rücksicht darauf, dass es sich bei den kommenden Examensjahrgängen um junge Menschen handelt, die durch ihre lange Schulzeit eine recht qualifizierte Ausbildung in der alten Schreibung erhalten haben. Sie benötigen nun etwas Zeit für die Umstellung, die ihnen im Hinblick auf ihr späteres Berufsleben nicht erspart bleiben kann. Wiederholt bin ich sorgenvoll gefragt worden, ob man denn jetzt seinem Examensvater noch mit der alten Orthografie kommen könne oder ob man sich nicht vielmehr gerade mit der neuen Schreibung unbeliebt mache.

Nun ist persönliche Sympathie oder Antipathie gegenüber der neuen Schreibung insgesamt oder aber gegenüber der einen oder andern Änderung nicht auszuschließen, doch muss wohl davon ausgegangen werden, dass derartige Einstellungen bei der Leistungsbewertung keine Rolle spielen dürfen und Hochschullehrer genügend Toleranz zeigen müssen, wenn es um korrekte Schreibungen geht, die sich als ?noch alt? oder ?schon neu? erkennen lassen. Im Bereich der Universitätsverwaltung allerdings wird wohl anders zu verfahren sein. Hier wird es – wie in jeder anderen Institution und in jedem anderen Unternehmen auch – eine Entscheidung geben müssen, ob und ab wann dienstliche Schreiben (einheitlich) in der neuen Orthografie abzufassen sind oder ob man es sich leisten kann damit bis 1998 zu warten.

Literaturauswahl zum Thema:

(...)
Was davon ist Information, was Suggestion? Darüber kann man mehr oder weniger schlaue Vermutungen anstellen – es bleiben Vermutungen, weil m. E. zu einer Suggestion immer eine Absicht gehört. Aber woher will man wissen, woran Herr Heller beim Verfassen dieses Textes gedacht hat? Deshalb: Vorsicht.

Leichter ist dagegen zu klären, was Herr Heller in diesem Textes nicht berücksichtigt – genauer: was nicht vorkommt –, und das ist der dritte Aspekt: Die entscheidende Frage zum dem gewählten Thema wird ja gar nicht gestellt: Ist eine solche „Anweisung“, von der im dritten Absatz die Rede ist, überhaupt möglich? Nirgends wird klar gesagt, ob der Staat überhaupt die Möglichkeit hat, den Universitäten bzgl. der Rechtschreibung etwas vorzuschreiben! Deshalb Vorsicht auch mit diesem Hellerschen Text! Wer sich mit den Kompetenzen auskennt, wird an dieser Stelle hellhörig. Aber wer kennt sich da schon so gut aus? Auch heute noch herrscht Unsicherheit bzw. Unklarheit darüber, inwieweit die Unis dem Bereich „Verwaltung“ zuzuordnen sind.

Außerdem: Was soll das „können sich berufen auf ...“ bedeuten? Das klingt für mich so, als ob die Schulen die Entscheidung, die neue Rechtschreibung zu unterrichten, in eigener Regie treffen würden und sich dafür gegenüber der Allgemeinheit rechtfertigen müßten, so daß ihnen der Erlaß als Begründung dienen könnte. Aber ist so ein Erlaß nicht schlichtweg bindend, so daß die Schulen verpflichtet sind, die neue Rechtschreibung zu unterrichten? – Wenn ich mich hier geirrt haben sollte, würde ich mich über eine entsprechende Anmerkung freuen.

Zu dem genanten dritten Aspekt gehört noch, daß man schaut, was stattdessen in einem Text vorkommt, wenn der eigentlich entscheidende Punkt fehlt, jedoch etwas zum eigentlichen Thema gesagt weren muß. Hier verleitet einen m. E. diese Passage (der dritte Absatz) zu der Annahme, auch die Hochschulen könnten sich auf diesen Erlaß berufen. Das halte ich aber für unzutreffend. Schließlich heißt es ja im letzten Absatz:
»Im Bereich der Universitätsverwaltung allerdings wird wohl anders zu verfahren sein. Hier wird es – wie in jeder anderen Institution und in jedem anderen Unternehmen auch – eine Entscheidung geben müssen, ob und ab wann dienstliche Schreiben (einheitlich) in der neuen Orthografie abzufassen sind (...)«.

Mehr noch: Man könnte beim Lesen des Textes sogar annehmen, daß mit einer solchen Anweisung evtl. noch zu rechnen sei – denn es ist »noch keine (...) bekannt«. Dadurch entfaltet der Text folgende Suggestivkraft: Er führt m. E. zu der Überlegung, daß man dann ja gleich von selbst mit der Einführung der neuen Rechtschreibung beginnen könnte (oder vielleicht sogar sollte??), wenn die sowieso demnächst „kommt“ (bzw. „eingeführt wird“). So etwas meine ich mit dem fließenden Übergang zwischen Information und Suggestion.

Man kann sich m. E. gar nicht darauf berufen, daß die neue Rechtschreibung wie selbstverständlich „kommen wird“ – sie kommt nicht von allein, sondern sie wird freiwillig „gemacht“. Das funktioniert, wie man es von der Werbung her kennt: „Das Produkt XY ist innovativ, sehr nützlich, und alle wollen es haben. Wer es hat, ist toll. Wollen Sie warten, bis Ihr Nachbar es vor Ihnen hat?!?“ (Janina Bauer) Dieser Eindruck bleibt – aber ob beabsichtigt oder nicht, ist eine andere Frage. Deshalb: Vorsicht.
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Jan-Martin Wagner

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