"Musik" ins Wörterbuch
Sprache und Musik
Es ist nur eine Vermutung, die ich anstelle; eine Vermutung, die allerdings durch eine Vielzahl von korrigierten Schüleraufsätzen und durch Erkenntnisse aus vielen eigenen Unterrichtsstunden im Fachbereich Deutsch – besonders in den Teildisziplinen „Lesen“ und „Sprachbetrachtung“ – erhärtet wird.
Auch eine These habe ich entwickelt.
Registriert habe ich bei meinen Aufsatzkorrekturen im Grund- und Hauptschulbereich, daß Schüler oft seitenlange – inhaltlich durchaus qualifizierte – individuelle „Kunstwerke“ erstellten, die allerdings jeglicher Satzzeichen entbehrten.
In einigen Fällen war nur ein einziger Punkt vorhanden, derjenige, der die Arbeit abschloß. -
Im Bereich Lesen (Literatur) habe ich festgestellt, daß Schüler fähig sind, die Satzmelodie eines fremden Textes zu erfassen, habe festgestellt, daß im Rollenspiel (z.B. mit der Vorgabe: Stell dir vor, du nimmst an einem Vorlesewettbewerb teil, oder: … du trägst dein Lieblingsgedicht im Kabarett vor …) erstaunliches Einfühlungsvermögen abrufbar war; fast perfekt in der Stimmodulation, dem Gestenreichtum und im Tempowechsel.
Und auch im Grammatikunterricht war es mir kurzweilig vergönnt, tiefe Besinnlichkeit hervorzurufen, insbesondere mit meinem Motivations-Lieblingsbeispiel (Begnadige … nicht … hängen!). Nach derartigem Impuls fanden meine Schüler heraus, daß ein Komma sogar über Leben und Tod entscheiden könne, und sie gelobten nachhaltige Besserung.
(Bei manchen kam leider Gottes die Nacht dazwischen, und aus der Besserung wurde deshalb nichts.)
Meine These bzgl. der Satzzeichen ist ganz einfach:
„Satzzeichen sind Pausezeichen und melodische Stops.“
Als Beleg für diese These dienen unterschiedliche Lebens- und Lernsituationen, in die man sich intensiv hineinversetzen sollte – rollenspielartig! Satzzeichen kann ich identifizieren:
- wenn ich die Klangfarbenwirkung beliebiger Satzzeichen überzeichne (insbesondere Ausrufezeichen und Fragezeichen unterscheiden sich in der Tonhöhe; Komma und Gedankenstrich unterscheiden sich u.a. durch die Pausenlänge),
- wenn ich bei Vorlesewettbewerben aufmerksam lausche und versuche, eine möglichst neutrale Bewertungsskala aufzustellen, um die bestmögliche Darbietung von denen der Mitbewerber abgrenzen zu können,
- wenn ich geschriebene Sprache phantasievoll intoniere oder gesprochene Sprache – die Gesten reduzierend – kodiere
- wenn ich, den Kopf voller Gedanken, etwas niederschreibe und schon alleine deshalb Zäsuren einbringe, damit der Leser kurzzeitig ein- und ausatmen kann, oder aber, daß er Gleichartiges und Verschiedenes überdenken und auseinanderhalten kann
- …
Mit Hilfe meiner These konnte ich immerhin im Laufe meiner Lehrtätigkeit durch den dreidimensionalen Ansatz „Lesen …Schreiben … Betrachten“ das ein oder andere Satzzeichen etablieren, habe allerdings keinen einzigen Schriftsteller ausgebildet, noch gelang es mir während meiner eigenen Schulzeit, das System der Zeichensetzung annähernd zu erfassen. Trotzdem hat es Freude gemacht, Fortschritte – sowohl bei den Schülern als auch im eigenen Wirken – zu erkennen
Unsere obersten Dienstherren (die Kultusminister), haben jedoch weder aus den Rückmeldungen von der Basis noch aus ihrem eigenen Wirken und Wissen heraus richtige Lehren gezogen. Offensichtlich haben sie eine unzureichende Auffassungs- und Beobachtungsgabe. Man könnte aber ebensogut einseitige Ausrichtung, bewußte Manipulation und Infiltration vermuten.
Letzteres ist sogar naheliegend, denn seit 1996 zerstört man in einer seltsamen pogromähnlichen Stimmung die Satz- und Wortmelodie von Sprachkünstlern und respektierten Vorbildern der heutigen Jugend (z.B. Michael Ende/“Momo“, „Die Unendliche Geschichte“ …).
Ausgerechnet im Bereich des Lesens setzt man den Hebel an, läßt damit das unsägliche Imitationspotential unserer Jugendlichen verkümmern; und noch viel schlimmer: man degradiert unsere Sprachkünstler und Dichter zu Anfängern und Pennern („Pennclub“/Originalton der KMK, 1996).
Um die Dimension der Unfähigkeit und das Moment der völlig geistigen Verblendung und einseitigen Ausrichtung unserer obersten Bildungshüter auf den Punkt zu bringen, entwerfe ich zum Schluß einen Vergleich:
Die geschriebene Sprache unserer qualifiziertesten Dichter ist durchaus zu messen mit Mozarts genialer Komposition „Die kleine Nachtmusik“, die mangels Tonträger in einem abstrakten Linien- und Notenwertsystem (zweifelsfrei an die Liebhaber der Musik) tradiert wurde.
Dabei erwies es sich, daß die Nachlaßempfänger fähig waren zur Entschlüsselung und Umsetzung dieses abstrakten Zeichensystems, hatten sie doch die Liebe, die Nachahmungsbereitschaft und das melodische Grundverständnis, und sie sorgten dafür, daß auch der Nachwelt jener unvergleichliche Genuß erhalten blieb.
Welch tragische Folgen hätte es wohl, wenn die oben beschriebenen Voraussetzungen nicht vorhanden gewesen wären? Welche Auswirkungen hätte es (…), wenn man den ein oder anderen Tonhöhen-, Rhythmus- oder Pausenwert des Mozart’schen Kunstwerks verändert hätte?
Wie sorglos aber sind auf der anderen Seite unsere spießigen Kultusminister-Gesellen, wenn sie in den Kunstwerken der qualifizierten Dichter herumpfuschen lassen, die mit Hilfe alltäglicher Instrumente (vgl. Orff) ebenfalls Symphonien zustandegebracht haben?
Tiefste Dämmerung – ein recht ungeliebtes Zwischenstadium (nicht Tag, noch Nacht; nicht Fisch noch Fleisch) – ist das!
Da lobe ich mir doch Mozarts „kleine Nachtmusik“!
PS: Der Anlaß für obige Ausführungen ist Herrn Icklers heutiger Beitrag mit der Überschrift „Baudusch“. Herr Ickler hat mit diesem Beitrag wieder einmal ein Beispiel der Inkompetenz, Geschäftemacherei und der Willfährigkeit präsentiert.
Ich selbst finde es erschreckend, wenn der Genuß an der Sprache zerredet, verwissenschaftlicht und letztlich entartet wird.
Die Satzzeichenregelung im altbewährten System empfinde ich als angemessen, verständlich und liberal. Es gibt denjenigen, die ein Feingefühl für die Sprache entwickeln, alle Möglichkeiten der Feindifferenzierung und des Auslotens; präsentiert die Möglichkeit, aus dem Bauch heraus zu schreiben und verlangt selbstredend sowohl vom Schreiber als auch vom Leser Einfühlungsvermögen und intensive Auseinandersetzung.
Das neue Regelwerk dagegen verlangt lediglich Hörigkeit und vorauseilenden Gehorsam. An solcher Brutstätte kann nichts Wertvolles entstehen.
Der Bezug zum Leitfaden „Wörterbuch“ ist ebenfalls vorhanden, denke ich doch, daß die Basis zum Verständnis der Zeichensetzung tatsächlich im musischen Bereich zu finden ist.
Überhaupt bin ich der Meinung, daß im Wörterbuch die Verwandtschaftsbeziehungen zur Musik: zu Melodie, Pausen, Rhythmik und Betonung etwas zu kurz kommen.
Eigentlich seltsam bei solch einem emotionalem Gegenstand wie unserer Sprache.
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nos
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