HNA Hessische/Niedersächsische Allgemeine
21.08.2004 22:17
Sauber auf den Linien
FELSBERG. „Wie wird das „s“ in Felsberg eigentlich geschrieben, spitz oder rund?“ Die einfache Frage eines Teilnehmers löst eine Debatte in der Runde aus, die sich im Häuschen des Burgvereins Felsberg zusammengefunden hat. Es sind Erwachsene aller Jahrgänge, die, an Tischen dicht zusammen gedrängt, mit gespitzten Bleistiften voller Konzentration Buchstaben in Schulhefte der ersten Klasse schreiben – sorgsam darauf bedacht, die Lettern richtig auf den drei vorgegebenen Linien zu platzieren. Dazwischen sitzen aber auch drei Mädchen, die gerade der Grundschule entwachsen sind.
„Mit spitzem s, denn es steht doch in der Wortmitte“, geht das Gespräch in der Runde weiter. „Nein, mit rundem, denn es steht am Wortende von Fels“, erwidern andere. „Und Heßlar?“, fragt eine Dritte. „Mit zwei spitzen s oder mit ß?“, und sorgt damit nun richtig für Verwirrung. Gundi Gereke aus Rhünda, die Lehrerin des Kurses, zieht zur Erklärung Beispiele aus einem alten Backbuch heran. Dort steht aus-rollen mit rundem s, Guss mit ß und Masse mit zwei spitzen s.
Das, was sich an diesem und zwei weiteren Abenden im Domizil des Felsberger Burgvereins am Marktplatz abspielt, ist keinesfalls ein Lehrgang zur heiß umstrittenen Rechtschreibreform. Eher das Gegenteil ist der Fall: Gundi Gereke führt die Teilnehmer an die Wurzeln der deutschen Schriftsprache, nämlich die Buchstaben der deutschen Schrift, zurück. Weil die meisten der Anwesenden diese entweder gar nicht oder nur mit Mühe lesen und schreiben können, geht die Rhündaerin mit einer Tafel herum, schreibt vor, schaut sich an, was die Teilnehmer in ihre Hefte nachschreiben, korrigiert.
Zum ersten Mal bietet die Brauchtumsgruppe des Burgvereins diesen Kusus zum Erlernen der deutschen Schrift an. Von der Resonanz war Leiterin Marlies Inauen selbst überrascht. „Wir hatten mit acht bis zehn Interessierten gerechnet“, sagt sie. Doch jetzt sitzen 25 Leute im kleinen Raum zusammen und lernen, wie man die in Vergessenheit geratenen Buchstaben aufs Papier bringt.
Gerade ist das große T dran. „Das sieht aus wie ein Spazierstock“, findet die zehnjährige Lisa Wollitzer aus Wolfershausen. „Oder wie eine Fahne,“ sagt ihre gleichaltrige Freundin Johanna Gerstung. Beide machen aus Spaß, aber auch Interesse bei dem Kursus mit, weil sie als bisherige Schülerinnen der Grundschule in Neuenbrunslar schon das Thema „Schule in alter Zeit“ durchgenommen haben, wie sie erzählen. „Das T schreibt ihr einfach wie eine 7, nur nicht mit geradem Durchstrich in der Mitte, sondern mit Schnörkel“, gibt Gundi Gereke genaue Anleitung. Das Problem beim T: Es gibt zwei Versionen, mit rundem Auftakt oder mit Haken wie bei der Ziffer 7.
Wie es überhaupt Tücken gibt bei der Deutschen Schrift. Es gibt eine ältere, eckige Schreibversion und eine jüngere, rundere. „Mein Bruder war etwas älter, der hat noch die eckige in der Schule gelernt, ich die runde“, erzählt Gundi Gereke ihren Zuhörern.
Ihren Kursteilnehmern hat sie am ersten Unterrichtsabend erst die Buchstaben des kleinen Alphabets, beim zweiten Treffen die Großbuchstaben beigebracht. Am dritten Abend werden dann ganze Worte und Sätze geschrieben – ein Prozess des Schreibenlernens, bei dem man sich als Erwachsener so fühlt wie damals als Kind in der ersten Klasse.
Online erschienen am: 21.08.2004 22:17
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