Verweise auf Tageszeitungen und Zeitungen (Übersicht)       20 neueste Forenbeiträge
 -- Einzeldarstellung --

Eine ganze Seite im Wochenend-Journal  25.1.2004   Eckhard Hoog  Aachener Zeitung & Aachener Nachrichten 

 

*) Kann bald jeder schreiben, wie es ihm gefällt?

Die Übergangsfrist zur endgültigen Einführung der neuen Rechtschreibung läuft 2005 ab: Die Zwischenbilanz liefert ein ernüchterndes Ergebnis

Aachen. Selten trennten die geistige Elite und der Nachwuchs des Landes solche Sprachbarrieren wie seit dem 1. August 1998: Während Fritzchen in der Schule – sofern er’s brav gelernt hat – „Eis laufen“ schreibt, so wie man „Auto fährt“, bekreuzigen sich einvernehmlich die Dichter und Denker vor so viel semantischer Ignoranz und Gleichmacherei. Von Günter Grass bis Siegfried Lenz – kaum ein Schriftsteller deutscher Zunge lässt es zu, dass man seine veröffentlichten Worte in der reformierten Schreibung fasst.

Die „Stiftung für Abendländische Besinnung“, eine große Schweizer Kulturstiftung, hat den Autor Reiner Kunze für seinen unermüdlichen „Einsatz gegen Unvernunft der Eingriffe in Sprache und Rechtschreibung“ mit einem Preis und 25 000 Schweizer Franken belohnt. – Und sonst? Wo sind all die Reformgegner geblieben, die lange bereit waren, gegen „Stress“ und „klein Gedrucktes“ auf die Straße zu gehen?

Thema abgehakt?

Viele der entsprechenden Web-Seiten wirken verwaist odre wurden lange nicht aktualisiert, und auch sonst bekommt man den Eindruck: Der Sturm in der Bevölkerung hat sich längst gelegt, die Rechtschreibreform ist gegessen. Gerhard Augst, langjähriger Vorsitzender der Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission, glaubt, 90 bis 100 Prozent aller Lehrer als Befürworter des Reformwerks zu erkennen, und liefert mit einer Zahl von mehr als 80 Prozent aller gedruckten Bücher in neuer Rechtschreibung den, wie er meint, schlagenden Beweis für eine breite Anerkennung. Ist das Thema damit abgehakt, so dass in aller Seelenruhe das Ende der Übergangsfrist zum Datum 31. Juli 2005 abgewartet werden kann, ab dem die neue Rechtschreibung in Schulen und Behörden offiziell gilt und aus dem grünen Stift des Lehrers endgültig der rote wird?

Zweifel sind angebracht. Eine vorläufige Zwischenbilanz ergibt, dass sich der Widerstand gegen die Reform im Bereich der Wissenschaften durchaus verstärkt, dass die neuen Schreibweisen in den Printmedien zu viel mehr Fehlern geführt haben, dass Erfahrungen
der Lehrer keineswegs eine Verhesserung in Sachen schulischer Rechtschreibung belegen, dass die orthographische Einheit in Auflösung begriffen ist und ausgerechnet die zuständige Zwischenstaatliche Kommission dies selbst mit ihren Empfehlungen nahelegt.

Die Präsidenten von acht deutschen Akademien der Wissenschaften und Künste haben Ende des vergangenen Jahres der Kultusministerkonferenz in einem gemeinsamen Brief dringend geraten, einen „Schlußstrich“ unter das „Experiment“ zu setzen. Begründung: Das Sprachgefühl der Schreibenden sei ausgehebelt und unwirksam geworden, und die „alten Regeln haben sich vielfach als einfacher erwiesen denn die scheinbaren Vereinfachungen“.

[. . .]

Der Berliner Historiker Reinhard Markner von der Forschungsgruppe Deutsche Sprache“ meint: „Schäden sind dadurch entstanden, dass es Schwierigkeiten bei der Wortbildung gibt. Ganze Wörter sind einfach abgeschafft worden, zum Beispiel ‚sogenannt‘ und ‚Zeitlang‘. Regeln wie solche, dass Verben nicht mit Verben verbunden werden dürfen, eliminieren Wärter wie ‚kennenlernen‘, das eine ganz andere Bedeutung hat als ‚kennen lernen‘. Nun werden für alle Zukunft solche Neubildungen ausgeschlossen. Das sind Eingriffe in die Sprache, die nicht nur das oberflächliche Schreiben betreffen, sondern bedenkliche Eingriffe in die Systematik und Grammatik der Sprache selbst.“ Die Resultate dieser „Eingriffe“ hat die „Forschungsgruppe Deutsche Sprache“ (FDS), ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Publizisten, zusammengetragen.

Verlust der orthographischen Einheit: Vor allem in den Printmedien haben sich „Hausorthographien“ herausgebildet, so hat sich etwa „Die Zeit“ genau so einer besonderen Regelung unterworfen wie „Der Spiegel“ oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die bereits im Jahr 2000 wieder zur alten Rechtschreibung zurückgekehrt ist. Privatleute schreiben nach aber wie neuer Rechtschreibung, viele Großkonzerne wie Die Allianz sind bei der alten geblieben. In den Programmen großer Verlage wie C. H. Beck und S. Fischer finden sich Neuerscheinungen in alter wie in neuer Rechtschreibung. Die „Reform der Reform“, die Rücknahme vieler Schreibungen durch die Rechtschreibkommission, steigert diese Vielfalt der Schreibungen noch einmal um ein Vielfaches.

Fehlende Akzeptanz: Nach Umfragen des Allensbach-Instituts beruht das Vordringen von Reformschreibungen zum überwiegenden Teil nicht auf Überzeugungen der Schreibenden, sondern auf Zwängen und Vorgaben, zum Beispiel dienstlichen Anweisungen in Behörden und Medien. Mehr als jeder zweite Deutsche (56 Prozent) bezeichnet sich im Jahr 2002 als Gegner der Reform.

Mangelhaftigkeit der neuen Rechtschreibung: „Grammatisch falsche Schreibweisen, die sich als zwingende Folgen der neuen Regeln ergeben, vor allem durch die vermehrte Groß- und Getrenntschreibung, machen inhaltlich wichtige Unterscheidungen unmöglich.“ Beispiel: „‚Menschenaffen und Menschenvorfahren haben sich auseinander entwickelt‘ vermittelt einen falschen Sinn: Nicht die einen haben sich aus den anderen entwickelt, sondern beide haben sich ,auseinanderentwickelt"‘, was die neue Rechtschreibung nicht zulässt.

Das Fatale: Die Mangel (übten zu einer Erschwerung des Schreibens: Was zu Anfang von vielen Reformgegnern prophezeit wurde, ist zur Gewissheit geworden. Selbst Schreibprofis wie Journalisten produzieren viel mehr Fehler als zuvor.

Viel mehr Fehler

Der Münchener Lektor Wolfgang Wrase hat Ausgaben der „Süddeutschen Zeitung“ und des „Spiegel“ aus unterschiedlichen Jahren miteinander verglichen und festgestellt, dass die Fehlerhäufigkeit seit der Einführung der neuen Schreibweisen eklatant zugenommen hat. Bezogen auf diese veränderten Bereiche hat er zum Beispiel in einer Ausgabe der „Süddeutschen“ im Jahr 2001 262 Fehler gegenüber 51 im Jahr 1998 festgestellt.

Als Redakteur macht man im Umgang mit Agenturtexten einschlägige Erfahrungen, die Wrases Untersuchungsergebnisse täglich neu bestätigen: Bei der Deutschen Presse-Agentur etwa ist eine ausufernde Getrenntschreibung zu beobachten, die abenteuerliche Konstruktionen hervorbringt: hervor heben, herum kriegen, Jahrhunderte alte Mauer, heut‘ zu Tage, weiter helfen und und und. Für Reinhard Markner keine Überraschung: „Da wird in einer Art von Hyperkorrektur nach vagen Analogien geschrieben.“

Im Zweifelsfalle auseinander schreiben – diese „Regel“ hat sich selbst bei den Schreibprofis festgesetzt. Die Zwischenstaatliche Kommission selbst hat mit ihrem letzten Zwischenbericht von 2001 zu dieser Verwirrung beigetragen. Als Reaktion auf vielfach vorgetragene Kritik hat sie in zahlreichen Fällen einen Rückzieher gemacht und einfach mehrere Alternativschreibungen zugelassen. Statt „Gewinn bringend“ darf man nun genauso gut „gewinnbringend“, „Rat suchend“ oder „ratsuchend“ schreiben – wie man gerade Lust hat. Die Kommission spricht von „Flexibilisierung“ und einer ,Toleranz-Metaregel“, sprich: Schreibe doch jeder, wie er will.

Bis 2005, so erwarten Experten, wird die im Verborgenen wirkende Kommission in einem neuen Bericht weitere Alternativschreibungen zulassen.

Einstiege ins Thema: www.rechtschreibreform.com
www.rechtschreibkommission.de

KOMMENTAR: Kann bald jeder schreiben, wie es ihm gefällt ?

KOMMENTAR: Ein Armutszeugnis für die deutsche Sprache!

... Verweis auf diesen Datensatz kopieren.

Ich möchte einen Kommentar zu dieser Meldung schreiben ...

Für eine neue Suche einfach den »Zurück«-Knopf Ihres Brausers drücken.