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»Sinn und Unsinn selbst erkennen«

Die Leidtragenden sind die Schüler

Von Dankwart Guratzsch 31. Juli 2009

Unterschiede in den Neuausgaben von Duden und Wahrig zeigen:
Die Rechtschreibreform ist gescheitert

Im verflixten 13. Jahr nach der umstrittenen Rechtschreibreform legen Duden und Wahrig parallel zwei neue deutsche Wörterbücher vor - und bescheinigen damit ungewollt der größten Umstellung der deutschen Schriftsprache seit Konrad Duden ihr völliges Scheitern. Denn statt einer gemeinsamen Orthographie - also Richtigschreibung - für das Deutsche präsentieren sie zwei. Das bereits bestehende Rechtschreibchaos wird dadurch fortgeschrieben - und der von der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Koordination eingesetzte Rat für deutsche Rechtschreibung schweigt.

Das Pikante an der Sache: Wahrig und Duden erscheinen neuerdings quasi unter einem Dach: Der neue Herr im Bibliographischen Institut, dem Hausverlag des Duden, ist derselbe Verlag Cornelsen, der mit Bertelsmann auch den Wahrig herausbringt. Wenn also hätte bewiesen werden sollen, dass die linke Hand nicht mehr weiß wie die rechte schreibt, dann hätte man kein besseres Arrangement dafür erdenken können. Doch der Vorsitzende des Rates, der frühere bayerische Wissenschaftsminister Hans Zehetmair, hat von den Diskrepanzen zwischen beiden Wörterbüchern offenbar noch nichts gemerkt. „Gibt es die?“, fragte er unlängst in einem Zeitungsinterview - und bewies damit, dass er die Arbeit der Wörterbuchredaktionen keineswegs verfolgt hat.

Denn es gibt diese Diskrepanzen zuhauf, und das, obwohl dem Rat vor drei Jahren aufgetragen worden war, das durch die Reform angerichtete Chaos zu entwirren. Wenn sich der „Rat“ damit überfordert fühlt, so hätte er sich Hilfe holen müssen, etwa bei der Berliner Forschungsgruppe Deutsche Sprache, die in einer ersten Übersicht 350 Abweichungen aufgelistet hat.

Soll man laut Duden zum Beispiel „bei Weitem“ schreiben, so schließt sich Wahrig „bei weitem“ noch nicht an. Hält der Duden an der „bismarckschen“ Sozialgesetzgebung fest, meint man bei Wahrig, mit den amerikanisch verfremdeten „Bismarck„schen“ Sozialgesetzen besser zu fahren. Und so geht es munter weiter: „Schimäre“ oder „Chimäre“, „tschau!“ oder „ciao!“, „Kortison“ oder „Cortison“, „dahin gehend“ oder „dahingehend“, „Kakofonie“ oder „Kakophonie!“, „seit Neuestem“ oder „seit neuestem“, „Play-back“ oder „Playback“, „Große Koalition“ (für den Duden immer, für Wahrig nur von 1966-1968), „große Koalition“ (für den Duden nie, für Wahrig von 1928-1930) - in beiden Redaktionen herrscht offenbar vollkommene Konfusion über das, was laut Rechtschreibreform „richtig“ oder „falsch“ ist und was, ganz unabhängig von richtig und falsch „allgemeiner Usus“ (also Schriftgebrauch) ist. Aber Ratschef Zehetmair findet „kein Unbehagen“ dabei. „Ich habe kein Problem mit Wahrig, der den jetzigen Stand der Orthografie wiedergibt.“

Tut er das wirklich? Der „Münchner Merkur“ rät zu einem Blick ins Internet: 69 Prozent der Internet-Nutzer schreiben Gemse - und nicht Gämse, wie die Reformer wollten; 72 Prozent ziehen „selbständig“ dem reformierten „selbstständig“ vor, „und wer das neudeutsche ,Spagetti„ eingibt, wird vom Computer wie selbstverständlich gefragt: ,Meinten Sie: Spaghetti?„“

Wenn die KMK dem famosen Rat die Aufgabe gestellt hat, die Schreibweise dem Schriftgebrauch anzupassen, hätte Zehetmair unverzüglich tätig werden und die neuen Unsinnsschreibungen diesem „allgemeinen“ Gebrauch anpassen (also zurücknehmen) müssen. Stattdessen bekennt sich der Oberverweser der neuen deutschen Schriftsprache zur altersweisen Untätigkeit: „Der Rat wird intensiv in der Stille arbeiten und die Sprache beobachten - ohne zeitliche und inhaltliche Aufgeregtheit. Er wird nicht durch Beschlüsse weitere offizielle Empfehlungen abgeben.“ Das heißt aber mit anderen Worten, er gibt seinen Auftrag zurück. Müsste die KMK da nicht unverzüglich die Konsequenz ziehen und die Finanzmittel für diese Rechtschreibvoyeure streichen. Untersucht man die Abweichungen näher, kommt eine interessante Tatsache zutage: Nicht der Rechtschreibrat scheint eine erkennbare Funktion auszuüben, wohl aber die Deutsche Presse-Agentur (dpa) als Sachwalterin des gedruckten Deutsch. Zumindest Wahrig stützt sich mit seinen Schreibweisen weitgehend auf ihre Empfehlungen.

Damit wiederholt sich ein Phänomen, mit dem sich schon der Schöpfer der deutschen Einheitsrechtschreibung, Konrad Duden, konfrontiert gesehen hatte: Mehrfachschreibweisen ließen sich nicht durchsetzen. Der Widerstand ging von den Buchdruckern aus. Auf einer Tagung in Konstanz 1902 „gaben sie ganz unverhohlen ihrer Missstimmung über die durch die neuen Regelbücher nur noch vermehrte Unsicherheit in der Rechtschreibung Ausdruck“. Und so waren es schon damals die gedruckten Medien, die im Kampf um eine einheitliche Schreibweise letztlich obsiegten.

1903 lieferte Duden erstmals einen „Buchdruckerduden“ aus, der später mit dem „normalen“ Duden verschmolz. Im Untertitel wurde darauf hingewiesen, dass er „auf Anregung und unter Mitwirkung des Deutschen Buchdruckervereins, des Reichsverbandes Österreichischer Buchdruckereibesitzer und des Vereins Schweizerischer Buchdruckereibesitzer“ entstand.

Ganz auf diese Linie scheint der neue Wahrig eingeschwenkt zu sein, der sich über weite Strecken an die von dpa vorgeschlagene Gemeinschaftsschreibweise der gedruckten Medien hält. Getreu der Regel, dass in Zweifelsfällen die herkömmliche Schreibweise gelten soll, macht er so manche Eskapaden der Schreibreform nicht mehr mit. Der neue Duden hingegen wirkt wie eine Kampfansage an dieses Konzept. Dabei setzt er jeweils eigene Schreibweisen an die erste Stelle seines Variantensalats und verzichtet auch noch darauf, die Schreibweisen wie bisher je nach Quelle farbig voneinander abzuheben. Der Benutzer soll nicht mehr erfahren, ob er sich in den Ruinen der alten Rechtschreibung oder im Niemandsland der neuen bewegt.

Unterstützung für Wahrig kommt von „Anwendern der Presse und der Verlage“ in der Schweiz. Wie die Kollegen in Deutschland unter Führung der dpa, haben auch sie sich auf die Ausarbeitung eigener Rechtschreibregeln geeinigt. Auch hier heißt die Generalregel: „Bei Varianten die herkömmliche“, auch hier ist das Ziel, die von den Rechtschreibreformern um den Siegener Linguisten Gerhard Augst zerstörte Einheitlichkeit der Rechtschreibung zurückzugewinnen.

Aber anders als der untätige deutsche „Rat“ bietet die „Schweizer Orthographische Konferenz (SOK)“ dazu auch Sprachwissenschaftler auf, die sich als kooperativ erweisen.

Als Hauptleidtragende der inzwischen mehrmals nachgebesserten Rechtschreibreform macht die Redaktion der reformkritischen Zeitschrift „Deutsche Sprachwelt“ die Schüler aus. „Nicht die Schüler sind zu dumm für die Neuregelung, sondern umgekehrt ist die Rechtschreibreform zu dumm für die Schüler“, so Chefredakteur Thomas Paulwitz. Tatsächlich hat der saarländische Germanist Uwe Grund jüngst nachweisen können, dass die Reform ihren Hauptzweck, die Vereinfachung der Rechtschreibung, gerade bei den Heranwachsenden verfehlt.

In einer umfangreichen Studie, in der die Rechtschreibleistungen in Schülertexten vor und nach der Rechtschreibreform verglichen werden, kommt Uwe Grund zu dem Befund, dass die Fehlerquote nicht abgenommen, sondern zugenommen hat: „1. Nach der Rechtschreibreform werden in der Schule erheblich mehr orthographische Fehler gemacht als davor. 2. Die Fehler haben sich - möglicherweise sogar überproportional - in den Bereichen vermehrt, in denen die Reformer regulierend in die Sprache eingegriffen haben. 3. Die Vermehrung der Fehler hat Konsequenzen, die vor allem die Lehrenden und Lernenden schlechter stellen, also jene Sprachteilnehmer, um deretwillen das Reformwerk angeblich geschaffen wurde.“

Als Resümee stellt der Germanist Grund die rhetorische Frage: „Gibt es Auswege aus dem ‚nationalen Desaster‘?“ Seine Antwort fällt bildkräftig aus: „Der Teufel muss, wie der Volksmund weiß, zu dem Loch wieder hinaus, zu dem er hereingekommen ist. Das gilt auch für den Fehlerteufel.“


http://www.focus.de/schule/lernen/lernatlas/ rechtschreibung/rechtschreibreform-schueler-machen-doppelt-so-viele-fehler_ aid_321008.html
>>Rechtschreibreform
Schüler machen doppelt so viele Fehler
Sind es nun die ewig Gestrigen oder doch die Ewiggestrigen, die so viele Fehler im Deutschunterricht machen? Die erste Bilanz um die Rechtschreibkenntnisse der Schüler kommt einer Bankrotterklärung gleich.

Auch zehn Jahre nach der Einführung
vewirrt
[!] die Rechtschreibreform viele
Schüler

Der Forscher Uwe Grund von der Universität Saarland hat die Auswirkungen der Rechtschreibreform unter die Lupe genommen. Das Ergebnis ist katastrophal: Auch noch zehn Jahre nach der Einführung kämpfen Deutschlands Schüler mit der Orthografie. Grund verglich Diktate und Aufsätze aus den Jahren 1970 bis 2006. Demnach hat sich die Fehlerquote durchschnittlich mehr als verdoppelt. Hat ein Schüler im Jahr 1970 noch 3,5 Fehler im Diktat gemacht, waren es im Jahr 2006 im Schnitt schon 7,4 Fehler pro Schüler.

„Die Fehler haben sich gerade in den Bereichen vermehrt, in denen die Reformer regulierend in die Sprache eingegriffen haben“, sagte Grund. Dies entspreche bei gleichen Bewertungsmaßstäben einer Absenkung um eine ganze Note. Die größte Fehlerquelle ist demnach die Interpunktion. Aber auch die Groß- und Kleinschreibung macht den Schülern zu schaffen. Die erste Bilanz zeige offenbar, dass hier keine Rede von einer ,Vereinfachung’ der Schreibung“ sein kann, bilanziert Grund. ...<<

Hier können Sie den die Darstellung von Dr. Uwe Grund als PDF-Dokument herunterladen: klick.


Rechtschreibung: Meldungsdatensatz aufrufen Deutscher Elternverein, Unterschriftenliste

Pressemitteilung von Prof. Ickler:

Am 23.2.2006 bin ich aus dem Rat für deutsche Rechtschreibung ausgetreten, in dem ich bisher das P.E.N.-Zentrum Deutschland vertreten habe. Dieser Schritt wurde notwendig, nachdem die Ratsmehrheit und der Vorsitzende Hans Zehetmair die Arbeit an der mißglückten Rechtschreibreform auf Wunsch der Kultusminister vorzeitig abgebrochen hatten. Wesentliche Teile der Neuregelung durften nicht mehr bearbeitet werden, weil die immer noch sehr mangelhaften Regeln schon zum kommenden Schuljahr verbindlich gemacht werden sollen. Damit haben die wirtschaftlichen Interessen der Schul- und Wörterbuchverlage und das Prestigebedürfnis der Politiker über das allgemeine Interesse an einer sprachrichtigen Rechtschreibung gesiegt. Der Vorsitzende begründet sein bedingungsloses Einknicken außerdem mit irreführenden Behauptungen, die eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit unmöglich erscheinen lassen.

Erlangen, 23.02.2006

Prof. Dr. Theodor Ickler
E-Mail theo.ickler@t-online.de
Tel. 09131 501340


Der Kernpunkt

Wir müssen überall darauf hinweisen, daß von jetzt an die Unterweisung der Schüler in der Reformschreibung verfassungswidrig ist. Denn die Akzeptanz, die das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zum Kriterium ihrer Legitimität gemacht hat, ist offenkundig nicht gegeben.

Dieses harte Wort kann auch den sogenannten Kultusministern und den Ministerpräsidenten eine Brücke zum Nachgeben bauen.


Zitat Theodor Ickler