Studiendirektor Wolfgang Illauer, Neusäß-Westheim, Tel.: 0821 482326


Die neue Zeichensetzung in einem Schulbuch mit reformierter Rechtschreibung
  Eine Untersuchung zum Komma vor und (wenn ein selbständiger Satz folgt) und zum Komma vor erweitertem Infinitiv. Es handelt sich um folgendes Schulbuch:
Lesezeichen / Lesebuch 6. Schuljahr Neuausgabe für Gymnasien in Bayern, Ernst Klett Verlag.
  Vorbemerkung: Alle Beispiele wurden Texten entnommen, die in neuer Rechtschreibung abgedruckt sind (Komma nach!“ bzw. ?“ vor dem Begleitsatz; neue ss-Regelung)
  Drei Dinge fallen unangenehm auf:
1. Viele Verstöße gegen das amtliche Regelwerk § 77, 5 (vgl. auch das Duden-Taschenbuch „Komma, Punkt und alle anderen Satzzeichen“, § 96): Infinitivgruppen, die durch ein hinweisendes Wort angekündigt werden, trennt man mit Komma ab:
... die Lehrerin wollte Albertos Mutter dazu überreden ihn und seine Brüder ... wieder in die Schule zu schicken (Seite 212, sechste Zeile von unten)
     

 Hinter überreden fehlt ein Pflichtkomma.

Da trieb die Eifersucht den Lehrmeister dazu den Knaben zu töten (Seite 84, Zeile 4f. unten)
     

 Hinter dazu fehlt ein Pflichtkomma.

Schließlich hatten sie ihn nicht darum gebeten ihnen die Fenster zu putzen (Seite 3 5, Zeile 98)
     

 Nach gebeten fehlt ein Pflichtkomma.

Unmöglich war es zu Schiff die Insel zu verlassen (Seite 85, Zeile 19f.)
     

 Hinter es fehlt ein Pflichtkomma.

Ich rechnete nicht mehr damit gemartert zu werden (Seite 116, Zeile 13 2)
     

 Hinter damit fehlt ein Pflichtkomma.

Das Pferd ist es gewohnt geritten zu werden (Seite 188, Zeile 187)
     

 Hinter gewohnt fehlt ein Pflichtkomma.

Es ist nicht schwer den Spuren der Schafe zu folgen (Seite 191, Zeile 288)
     

Hinter schwer fehlt ein Pflichtkomma.

Es wäre nur eine Barmherzigkeit ihn zu töten (Seite 108, Zeile 83)
     

 Hinter Barmherzigkeit fehlt ein Pflichtkomma.

Anmerkung: Diese acht Verstöße gegen die neue Zeichensetzung habe ich nach flüchtigem Querlesen gefunden.
2. Freigestelltes Komma vor Infinitivgruppen.
  Hier herrscht das reine Chaos! Oft wird das Komma weggelassen, oft wird es hinzugefügt (auch dann, wenn ein Mißverständnis nicht möglich ist). Ein Prinzip ist nicht zu erkennen. Oft wird auf derselben Seite (vgl. etwa Seite 108) ein Komma gesetzt, wenige Zeilen später (ohne erkennbaren Grund) keines. Hunderte von Beispielen sind möglich. Ich beschränke mich auf eine kleine Auswahl.
... dann war ich also im Unrecht, ihn mit dem Fuß zu stoßen (Seite 108, Zeile 82)
Er ... fing an, ihm leise und freundlich zuzusprechen (Seite 108, Zeile 92)
... Gelegenheit sich zu zeigen (Seite 108, Zeile 85)
Scott ... fuhr fort, um Wolfsbluts Zutrauen zu werben (Seite 108, Zeile 94)
004 Schulbuch
       
  Diese Beispiele könnten vielleicht noch folgendes „Prinzip“ vermuten lassen: vor längeren Infinitivgruppen ein Komma, vor kürzeren keines. Aber dieses Prinzip gilt nicht. Gegenbeispiele:
... in der Absicht mich in die Festung hineintragen zu lassen (Seite 92, Zeile 8f. unten)
Als Olle ihn ... aufforderte beim Schulsportfest in der Fußballmannschaft seiner Klasse mitzuspielen ... (Seite 16, Zeile 94f.)
... außer wenn man ihn losließ um mit anderen Hunden zu kämpfen (Seite 107, Zeile 38 f.)
Matt hatte seinen Fuß erhoben, um Wolfsblut einen kräftigen Tritt zu versetzen.)
(Auf derselben Seite 107, Zeile 55:
  Nach beschließen steht bald ein Komma, bald wieder nicht:
... wie die beiden beschließen nach Hause zurückzureiten und den Vater zu holen (S. 19 1, Zeile 308)
Darum beschloss Tarquinius, Ardea zu überfallen (Seite 174, Zeile 3)
... beschlossen sie, sich selbst zu vergewissern. (Seite 174, Zeile 10)
  Aber vielleicht ist beim letzten Beispiel (und auch bei einigen Beispielen weiter oben) ein Prinzip erkennbar: einsilbige Wörter werden durch Komma getrennt? Leichteres Lesen? Vgl. auch Seite 54 (Zeile 102):
Der Feind ... hütete sich wohl, den neutralen Boden zu verlassen.
  Leider gilt auch dieses Prinzip nicht! Nach kurzer Zeit habe ich drei Gegenbeispiele gefunden:
Er hatte einfach Angst sich doch nur lächerlich zu machen (Seite 15, Zeile 59)
Er ... lud den Feind mit herausfordernder Stimme ein aus dem Haus zu kommen
(Seite 54, Zeile 100)
... als den jungen Ikaros der Übermut trieb des Vaters Gebot zu missachten (Seite 85, Zeile 50)
  Nach Zeit steht bald Komma, bald nicht:
Die Griechen aber hatten jetzt Zeit, ihre eigenen Toten zu betrauern (Seite 166, Zeile 9)
Vater ... ließ ihm kaum Zeit die Pantinen abzustreifen (Seite 120, Zeile 3)
  Ich könnte noch viele solche Beispiele aufzählen (einmal Komma, einmal kein Komma), die den Eindruck erwecken, als ob gewürfelt worden wäre. Komma ... kein Komma ... Komma ...
  Manchmal wäre ein Komma, das ja immer eine Lesehilfe darstellt, als Lesehilfe vor erweitertem Infinitiv besonders wünschenswert, aber der Leser wird ohne diese Hilfe gelassen.
  Dafür zwei Beispiele:
Jagu erlaubte ihm ohne weiteres seine freien Nachmittagsstunden bei dem Uhrmacher zu verbringen (Seite 41, Zeile 132)
  Im ersten Augenblick glaubt der Leser, daß ohne weiteres bereits zum Infinitiv gehört, dann aber merkt er, daß die Pause nach ohne weiteres gemacht werden muß. Warum denn nicht gleich so:
    Jagu erlaubte ihm ohne weiteres, seine freien Nachmittagsstunden bei dem Uhrmacher zu verbringen.
Der Fahrer vergaß vor Staunen seinen Mund zuzumachen (Seite 15, Zeile 41)
  Auch hier stolpert man beim ersten Lesen: Soll ich die Pause nach vergaß machen oder nach vor Staunen? Die kleine Unsicherheit des Lesers dauert vielleicht den Bruchteil einer Sekunde. Warum denn nicht gleich so:
    Der Fahrer vergaß vor Staunen, seinen Mund zuzumachen.
3. Das freigestellte Komma vor und (wenn ein selbständiger Satz folgt)
  Hier gilt das unter Nummer 2 Festgestellte: Das Komma wird in sehr vielen Fällen gesetzt, in sehr vielen Fällen nicht gesetzt. Ein Prinzip ist nicht erkennbar. Die Kommasetzung bleibt, so scheint es, dem Zufall oder einer augenblicklichen Laune überlassen.
004 Schulbuch
       
  Dafür Beispiele (abwechselnd mit und ohne Komma):
... das Krokodil schlägt wütend mit dem Schwanz und alle Vögel schreien aufgeregt ...
(Seite 9, Zeile 53f.)
Die Wurzeln wirft es in das große schwarze Schlammloch, und alle Warzenschweine wundern sich ... (Seite 11, Zeile 130f.)
Am Morgen ... konnte Erwin kaum einen Bissen hinunterkriegen und vor Aufregung vergaß er zu träumen (Seite 16, Zeile 100f.)
Andere Fenster öffneten sich, und sehr bald wusste so ziemlich jeder ... (S. 15, Zeile 74f.)
Aber einmal hatte sie sich verraten, und Inka hatte herausbekommen ... (Seite 20, Zeile 140)
... die Frau fing an zu tanzen und das Mädchen zog die nassen Kleider aus ... (Seite 66, Zeile 44) 
... da ist nichts mehr zu helfen, und natürlich konntest du's damals auch nicht (Seite 55f, Zeile 33f.)
... du tust mir Leid und wir alle bedauern dich ... (Seite 56, Zeile 35)
Er hat Verstand, und wir müssen ihm Zeit lassen (Seite 109, Zeile 137f.)
... auch Vögel erlagen dem Frost und die hageren Leichname fielen den Habichten und Wölfen zur Beute (Seite 110, Zeile 11 f.)
Ein solches Morden hatte Amerika noch nicht erlebt, und es ist zweifelhaft ... (Seite 113, Zeile 22f.)
Inzwischen war es etwa drei Uhr nachmittags geworden und sie lagen um das Feuer ...
(Seite 115, Zeile 78f.)
Dann gab er den Männern im Bauch des Pferdes ein Zeichen, und über einer (?) Leiter kletterten sie ins Freie (Seite 164, Zeile 4f.)
Deine Mutter Clymene sagte die Wahrheit und ich verleugne dich nicht vor der Welt (Seite 88, Zeile 41 f.)
  Die Aufzählung könnte seitenweise fortgesetzt werden
  Fazit: Die in Punkt 2 und 3 beschriebene und dokumentierte Willkürkommasetzung ist für die Schule nicht zumutbar, und zwar aus zwei Gründen:
 

1.
Es bedeutete eine Erleichterung für den lesenden Schüler wenn die Kommas vor und und vor dem erweiterten Infinitiv immer gesetzt würden. Der Schüler, vor allem der Schüler der Unterstufe (viele von ihnen können noch nicht blitzschnell mit den Augen vorauslesen), weiß dann sofort, wo die Pause ist.

2.
Eine Kommasetzung, die einer augenblicklichen Laune zu entspringen scheint, ist für die Schüler ein denkbar schlechtes Vorbild. Sie übertragen diese Willkür unweigerlich auch auf den Pflichtbereich.

Daß ausgerechnet in einem Deutsch-Lesebuch fehlerhafte Kommasetzung (oft kein Pflichtkomma vor Infinitivgruppen nach hinweisendem Wort) hinzukommt, ist für die Schüler ebenfalls kein gutes Vorbild. Diese peinlichen Kommafehler beweisen übrigens ganz nebenbei, daß es mit der angeblichen Einfachheit der neuen Kommasetzung doch nicht so weit her ist.

  Was mir noch aufgefallen ist: Nur die einfachsten Dinge (die ss-Regelung, das Komma nach !“ bzw. ?“) scheinen konsequent durchgeführt zu sein. In der Sage „Das Ende von Troja“ (Seite 162 bis 166) hat man beispielsweise die alte Kommasetzung vor und und vor erweitertem Infinitiv nicht angetastet. Auch das jetzt falsche „Handvoll“ (Seite 166, Zeile 26) durfte bleiben. Liegt in diesem Lesestück etwa eine Teilumstellung auf die neue Rechtschreibung vor?