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Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: Was ändert sich bei Grundschulkindern?
Harald Marx
Mit der Rechtschreibreform ist das Ziel verbunden, das Rechtschreibsystem der deutschen Sprache benutzerfreundlicher, logischer und leichter erlernbar zu machen. Eine der grundlegenden Änderungen betrifft die s-Laut-Schreibung. Während bislang die Schreibungen der Buchstaben s, ss oder ß für den s-Laut (/s/) größtenteils wortspezifisch waren, gibt es jetzt zumindest eindeutigere Vorschriften (vgl. Duden, 1996)
Nach betontem Kurzvokal wird (sofern die Grundform ein ss enthält) immer ss und nach Langvokal immer ein ß geschrieben.
Auf dem Weg vom phonetischen Schreiben zum orthographischen bereitet gerade die Dehnung und Dopplung von Konsonanten, mit denen die Länge oder Kürze eines Vokals visualisiert wird, eines der Hauptprobleme der Rechtschreibung. Deshalb kommt der Neuerung in der s-Laut-Schreibung eine besondere Bedeutung zu. Denn die verschiedenen Verschriftungen (ss, ß) eines Phonems (/s/) erscheinen sehr gut dazu geeignet, die für viele Kinder akustisch nur schwer zu treffende Unterscheidung von Lang- und Kurzvokal durch Visualisierung zu unterstützen und somit zu erleichtern. So kann etwa mit Hilfe eines Schaubildes (s. Vierfelderschaubild im Vortrag) die Eindeutigkeit in der Zuordnung von Kurz- und Langvokal zu den zwei unterschiedlichen Schreibweisen des gleichen s-Lautes wechselseitig dazu genutzt werden, Grundschulkindern zunächst das Prinzip der Konsonantendopplung bei betontem Kurzvokal zu vermitteln. Danach gilt es mit Hilfe der Visualisierung die Prinzipien von Dehnung und Schärfung zu üben und somit über die vorgegebene Schreibung in den neuen Schulbüchern die korrekte Lesung von Lang- und Kurzvokal gerade auf der Wortebene zu steuern.
Annahmen
Berücksichtigt man die Schwere und Auswirkungen des Fehlerbereichs der s-Laut-Schreibungen und stellt diesen die angedeuteten spezifischen Lerngelegenheiten als didaktische Hilfen beiseite, so müßten sich eigentlich die Rechtschreibleistungen bei konsequenter Anwendung der Reform gerade im Bereich der s-Schreibungen bereits kurzfristig verbessern. Darüber hinaus müßten sich längerfristig im Bereich der Wortschreibungen mit Dopplung und Dehnung ebenfalls Verbesserungen einstellen. Soweit die erwünschten Effekte der Rechtschreibreform.
Aber andere, unerwünschte Effekte sind durchaus ebenfalls in Betracht zu ziehen. Zumindest in qualitativer Hinsicht ist gerade bei den s-Schreibungen auch eine Zunahme von unterschiedlichen Schreibweisen, Übergeneralisierungen oder auch inkonsistenten Realisierungen von Schreibungen denkbar (s. Leselernmodell nach Adams im Vortrag). Denn nach wie vor ist nahezu alles Schriftmaterial, das die Kinder außerhalb des schulischen Settings zu sehen und zu lesen bekommen, nach den alten Rechtschreibregeln verfaßt, so daß es in Abhängigkeit von der Nutzung außerschulischen Schriftmaterials zu Konfusionen bzw. zur Ausbildung gleichrangiger Assoziationen von Graphem-Phonemkorrespondenzen (vgl. Adams 1993; Marx, 1997; Perfetti, 1992) kommen dürfte. Insofern sollten diese Probleme eher bei den besseren Rechtschreiber/innen und Viellesern als bei den schwächeren Lesern bzw. Kindern, die wenig lesen, auftreten (vgl. die eigenen Ausländerbefunde als Gruppe der weniger deutsche Texte lesenden Kinder im Vortrag). Außerdem gilt es zu beachten, daß alle Kinder, die vor dem Stichtag der Einführung der neuen Rechtschreibung eingeschult wurden, zunächst nach den alten Rechtschreibregeln unterrichtet worden sind.
Methode
Zur Überprüfung dieser Annahmen wurden zur Schuljahresmitte des Schuljahres 1997/1998 111 Zweit-, 111 Dritt- und 107 Viertkläßler, die (auf Empfehlung der Kultusministerien nach Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung in Wien) seit Beginn des Schuljahres 1996/97 bereits nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet werden, mit einem neuen Rechtschreibtest (Knuspels Schreibaufgaben, Marx, in Vorb.) untersucht. Deren Ergebnisse wurden denen von 110 Zweit-, 110 Dritt- und 98 Viertkläßlern gegenübergestellt, die genau zwei Jahre vorher mit dem gleichen Verfahren getestet worden waren. Ausgewertet wurden die Schreibungen getrennt für 34 Wörter ohne und 10 Wörter mit s-Laut, wobei sich bei fünf s-Laut-Wörtern reformbedingt die Schreibweise verändert hat.
Ausgewählte Ergebnisse
Es zeigt sich, daß die älteren Klassenstufen der 98iger Stichproben die von der Rechtschreibreform nicht betroffenen Wörter nicht besser schreiben können als diejenigen der 96iger Stichproben. Deutlich wird aber auch, daß die Rechtschreibreform wirkt. Allerdings ist das Ergebnis bezüglich der s-Laut-Schreibung genau entgegengesetzt der erwünschten Richtung. Zum einen machen die Kinder aller Klassenstufen bei den von der Reform betroffenen s-Laut-Wörtern signifikant mehr Fehler, zum anderen übergeneralisieren sie, indem sie offensichtlich die neuen Schreibweisen auch bei s-Laut-Wörtern anwenden, die nicht von der Reform betroffen sind. Diese Befunde gelten mit Ausnahme der Übergeneralisierungen sowohl für deutsche Kinder als auch für Ausländer- und Aussiedlerkinder. Letztere schreiben zwar in allen drei Klassenstufen signifikant weniger Wörter richtig als deutsche Kinder, sie produzieren aber keine Übergeneralisierungen.
Diskussion
Insgesamt bestätigen sich nicht die erwünschten, sondern die unerwünschten Reformwirkungen. Es gibt nach anderthalb Jahren Unterricht nach neuer Rechtschreibung (noch?) keinen allgemeinen Erleichterungseffekt. Die Rechtschreibleistungen zwischen den Klassenstufen vor und nach der Rechtschreibreform unterscheiden sich nämlich nicht in den reformunkritischen Wörtern. Aber es gibt Unterschiede bei den von der Reform betroffenen s-Laut-Wörtern. Diese fallen jedoch zuungunsten der Rechtschreibreform aus. D. h., die reformkritischen s-Laut-Wörter werden nach der Reform nicht seltener, sondern häufiger falsch geschrieben. Zusätzlich gibt es noch ein weiteres Problem. Offensichtlich führen die reformbedingten Andersschreibungen beim ß und ss auch bei s-Laut-Wörtern, die nicht von der Reform betroffen sind, zu unzulässigen Verallgemeinerungen bzw. Unsicherheiten und somit zu einer höheren Fehlerquote.
Schlußfolgerungen
Die Ergebnisse lassen wenigstens drei Handlungsmöglichkeiten zu:
(1) Gegner wie Befürworter tauschen weiterhin Meinungen aus, geben Ratschläge für weitere Reformen oder benutzen diese Befunde in unkritischer Weise, z. B. als Argument für eine Abschaffung der Reform.
(2) Die Reform wird von allen ernst genommen. Damit einher geht eine aktive Suche und effektive Nutzung von neuen Vermittlungsmöglichkeiten (wie z. B. das Vierfelderschaubild), statt einer halbherzigen Kurzschulung.
(3) Die Reform läutet eine Liberalisierung der Rechtschreibbewertung ein. Es werden auf Dauer Alternativschreibungen (alte und neue Rechtschreibung) zugelassen, die Rechtschreibung verliert ihre Bedeutung als Ausleseinstrument für Schule und Beruf.
Prognose
Angesichts der ständigen Konfrontation mit zwei Schreibweisen, nämlich der alten im alten Buchbestand und der neuen in Schule bzw. seit 1. August 1999 in den Printmedien, ist zumindest bei den reformbedingten Veränderungen auf längere Sicht eher mit einer Verschlechterung der Rechtschreibung, vor allem aber auch mit unzulässigen Generalisierungen von Schreibweisen und Gewohnheitsbildungen bei Jung und Alt zu rechnen. Wenn hiergegen nicht ernsthaft durch gezielte didaktische Maßnahmen für Jung und Alt entgegengesteuert wird, wird wohl die dritte genannte Möglichkeit eintreten.
Ergänzende Grafik
finden Sie unter: www.rechtschreibreform.com/Seiten2/Wissenschaft/012MarxBielefeldGrafik.htmlLiteraturbezug
Marx, H. (1999). Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: Was ändert sich bei Grundschulkindern? Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie, 31(4), S. 180-189, Verlag Hogrefe, Göttingen, Tel.: 0551 49609-0
seit 01.10.1999:
Prof. Dr. Harald Marx
Universität Leipzig
Erziehungswissenschaftliche Fakultät
Karl-Heine-Str. 22b
04229 Leipzig
Tel. 0341/9731 462 (Sekr.: 9731 460)
e-mail: marx@rz.uni-leipzig.defreitags auch noch bis 15.07.2000:
Prof. Dr. Harald Marx
Universität Bielefeld
Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft
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