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Der Spiegel 27/1997 (Juli 1997)

Rechtschreibung

Babel am Polarkreis

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Bildunterschrift: Debattierende Norweger: Verwirrung, Unsicherheit im Sprachenkampf

Der Streit um die Reform der deutschen Rechtschreibung geht weiter. Den deutschen Befürwortern sollte das Beispiel der Norweger zu denken geben: Sie zanken seit einem Jahrhundert über ihre Orthographie. Von Erik Fosnes Hansen

Fosnes Hansen, 32, lebt in Oslo und veröffentlichte zuletzt den Bestseller „Choral am Ende der Reise“ (1995)

Deutsch ist eine schwere Sprache, das wissen alle, die je versucht haben, sie zu lernen. Ein Lehrbuch der deutschen Grammatik besteht bekanntlich aus 10 Prozent Regeln und 90 Prozent Ausnahmen.

So mancher verzweifelte skandinavische Schüler hat, nachdem er mühselig seine an-auf-hinter-in-neben-über-unter-vor-zwischen ­ aaah! ­ durch-für-gegen-ohne-um-wider ­ aaarrghhh! ­ aus-außer-bei-binnen-entgegen-gegenüber-gemäß-mit-nach-von-zu gepaukt hat, seinen ebenso verzweifelten Lehrer schlicht gefragt, de profundis: „Warum hat diese dusselige Sprache Dativ und Akkusativ?“ Ganz zu schweigen vom Verb, Dem Deutschen Hauptverb, das normalerweise wie ein Gespenst exorziert wird werden muß, wenn es sich weit weg ganz unten auf der Seite versteckt, wo Der Deutsche Satz endlich nach vielen Nebensätzen, Konjunktiven und Konditionalsätzen in einer wütenden Litanei aus hätte-werden-können und seien-getötet-worden seinem Grabe entgegentaumelt.

Die Orthographie dagegen ist beim Deutschen kein Problem. Sie hat Ausnahmen und Inkonsequenzen, aber im großen und ganzen ist sie so einfach und logisch, wie eine Orthographie nur sein kann ­ wesentlich logischer als die englische, die durchgängig aus Absurditäten besteht. (Schnelle Quizfrage zwischendurch: Wie wird eigentlich gaol ausgesprochen?).

Aber der bedeutendste Vorteil bei der deutschen Rechtschreibung: Sie ist einheitlich, alle Wörter werden überall ungefähr gleich geschrieben, und sie ist seit langer Zeit stabil. Man findet nicht in einer Zeitung die eine und in einer anderen eine andere Schreibweise; eine vom Ministerium, eine bei den Sozialdemokraten, eine andere bei den Konservativen, eine in einem Wörterbuch, eine andere im Akademiewörterbuch und eine dritte im Sprachnormierungsrat; eine in Büchern aus dem Jahre 1950, eine andere in Büchern aus dem Jahre 1970, eine bei den älteren Schriftstellern, eine zweite, dritte und vierte bei den zeitgenössischen.

Dieses Chaos, das den Deutschen erspart geblieben ist, ist in Norwegen Tatsache. Die sonst so friedlichen Norweger führen einen hundertjährigen Kampf um Konsonanten und Diphtonge, einen erbitterten Bürgerkrieg um Buchstaben. Und als Norweger muß man die Deutschen aufs schärfste davor warnen, diese Scrabble-Büchse der Pandora zu öffnen.

Norwegen ist die Heimat der Rechtschreibreformen, das Gondwanaland der Orthographien. In Norwegen hat man im Laufe eines Jahrhunderts in unseren beiden offiziellen Sprachformen gleich etliche solcher sprachlichen Echseneier ausgeheckt: die Rechtschreibung von 1917, 1938, 1959 und so weiter. Große Teile unserer politischen Geschichte sind vom sogenannten Sprachenstreit geprägt worden. Das Ergebnis kommt der Begegnung von Materie und Antimaterie in der Physik gleich: Die Energieentladung ist enorm, das Resultat nichts.

Als nach 400jähriger Verbindung mit Dänemark im vorigen Jahrhundert in Norwegen der nationale Selbständigkeitsgedanke erwachte, war das mittelalterliche Altnorwegisch verloren. Schulsprache, Kirchensprache, Bühnensprache ­ die gebildete Sprache waren Dänisch, eine Erinnerung an die ursprünglich dänische Verwaltungs- und Beamtenklasse. Aber die Sprache wurde ganz anders ausgesprochen als in Dänemark und enthielt zudem noch viele norwegische Sonderformen.

Diese Sprache, das sogenannte Bokmål (Buchsprache), lebte als eigene norwegische Literatursprache. In ihr schrieb beispielsweise Ibsen. Sie blieb aber eine Stadtsprache, denn in vielen Tälern und Fjordarmen Norwegens herrschte eine reiche Dialektflora mit Reminiszenzen ans Altnorwegische.

Um 1850 erfand der Sprachforscher und Dichter Ivar Aasen zudem eine ganz neue Schriftsprache, beruhend auf den Dialekten, die ihm als die ursprünglichsten erschienen. Diese Sprache wurde später als Nynorsk (Neunorwegisch) bezeichnet und 1901 als Minderheitensprache anerkannt. Parallel wurde auch die Bokmål-Orthografie der in Norwegen üblichen Aussprache angepaßt.

So weit, so gut. Man könnte sich ja nun vorstellen, beide Sprachen seien im Laufe der Zeit langsam zusammengewachsen. Aber die glühenden Norwegisch-Fundamentalisten wollten nicht die Sache in Gottes Hände legen und auf die Zeit vertrauen. Sie waren fest entschlossen, das „eigentliche“, das „Gesamtnorwegisch“ der Zukunft so schnell wie möglich zu erschaffen.

Die Parole lautete: „Sprachliche Einigung auf Basis der norwegischen Volkssprache“; ein gefundenes Fressen für die heranwachsende Arbeiterbewegung, die die nationalromantische Idee auf wunderliche Weise bald als sozialen Programmpunkt wiedererstehen ließ. So kam es schließlich zur Rechtschreibreform von 1938, die der eigentlichen Sprachentwicklung zuvorkam.

Sie nahm keine Rücksicht auf das existierende Bokmål mit Traditionen aus 400 Jahren dänisch-norwegischer Kultur. Die Reformeiferer träumten von einem Neusprech, rationell, volkstümlich, klassenlos ­ und synonymlos.

In Wahrheit war diese „Rechtschreibung“ eine totale Sprachreform, mit bestimmten ideologischen Zielen. Grammatik und Wortgestalt, sogar das Geschlecht wurden in tausenden von Wörtern verändert, das Imperfekt mit einer neuen Beugung versehen, und die Abhängigkeitsformen (Dativ und Akkusativ) wurden für die 3. Person Singular abgeschafft. Also nicht mehr er-ihm-ihn, sondern er-er-er, ein Sieg der Präzision!

Die sprachlichen Dekrete gingen so weit, daß Auszüge aus der Nationalliteratur in Schulbüchern ins „Gesamtnorwegische“ umgedichtet wurden ­ egal, ob dabei Reim, Rhytmus und Stil verlorengingen, solange die Schreibweise stimmte.

Berühmt ist die Geschichte vom Meteorologen, der im Radio nicht mehr den Wetterbericht lesen durfte, weil er die alte Form „sne“ (Schnee) benutzte, statt gesamtnorwegisch „snø“ zu sagen. Es spielte keine Rolle, daß alle Norweger ausnahmslos verstanden, daß es am nächsten Tag schneien würde, wenn er „sne“ sagte: Das Wort „sne“ war zum Auslaufmodell erklärt worden. Und der Wettermann wurden in die Kälte hinausgeworfen ­ in den snø, sozusagen.

Bei Zahlwörtern mischen wir heute sogar wild drauflos, dank der Reform. Wenn man eine Norwegerin um ihre Telefonnummer bittet, kann sie durchaus antworten: „zwanzigdrei-einunddreißig-dreißigvier-vierundvierzig!“ Obwohl sie natürlich mit dieser Vernebelungstaktik eine gewisse Absicht verbinden kann.

Kein Wunder, daß der Sprachenkampf zum großen politischen Thema der fünfziger Jahre wurde. Schriftsteller versuchten ­ wie jetzt in Deutschland ­, die Veränderung ihrer Texte zu verbieten, der Schriftstellerverband spaltete sich, es gab Unterschriftenlisten, Demonstrationen und Protestbewegungen, die Eltern korrigierten organisiert die Schulbücher ihrer Kinder zu alten Formen zurück.

Niemand, oder fast niemand, mochte auf neue Art schreiben ­ bis sich nach Jahren langsam Kompromisse abzeichneten. Mehrere Formen sollten gleichzeitig erlaubt sein (diese Lösung wurde durch die Reform 1981 endgültig legitimiert).

Ein einfacher Satz wie: „Die Frau hob die Hand“ kann daher im Norwegischen korrekt so geschrieben werden:
kvinnen hevet hånden
kvinnen heva hånden
kvinnen hevet hånda
kvinnen heva hånda
kvinnen hevet handa
kvinnen hevde hånda
kvinnen heva handa
kvinna hevet hånden
kvinna heva hånden
kvinna hevde handa
kvinna hev ­ und so weiter uns so fort. Logisch, daß sich „Selbständigkeitsbewegung auf 12 verschiedene Weisen schreiben läßt oder „Schlechtverdienende Mitarbeiterinnen von Heimpflegediensten verlangten Lohnerhöhung“ auf insgesamt 3072.

Mehr noch. Je nachdem, wie wir dieses oder jenes Wort buchstabieren, werden wir im politischen Spektrum eingeordnet. Schreibst du „sjøl“ (selbst), dann giltst du als progressiv und volksfreundlich, schreibst du „selv“ (selbst), bist du bürgerlich und reaktionär.

Dieses Schubladendenken reicht bis in die Schreibweisen von Parteien und Zeitungen hinein. Und obwohl es inzwischen nur noch zwei offizielle Sprachen gibt, bleibt die private Auswahl beträchtlich. Nynorsk, konservatives Nynorsk, Bokmål, moderates Bokmål, Riksmål. Und außerdem noch Samisch (Lappisch).

Das Komische ist, daß alle vier Millionen Norweger einander verstehen, daß wir im Alltag keine Schwierigkeiten im Umgang miteinander haben. Probleme ergeben sich aber sofort, wenn jemand provokanterweise eine Form für korrekt und eine andere für falsch befindet.

Vergangenes Jahr etwa beschloß der „Sprachrat“, das staatliche Normierungsorgan, für eine Reihe von Fremdwörtern die Rechtschreibung zu reformieren: snackbar sollte „snakkbar“ geschrieben werden, pub „pøbb“, service „sørvis“ und squash „skvåsj“.

Kein Norweger mit normaler Schulbildung würde auf die Idee kommen, so zu schreiben, aber die Wissenschaftler fanden wohl, sie müßten mal wieder was unternehmen. Die alten Formen sollten weiterleben dürfen (aber nur in Klammern) ­ die „empfohlene Hauptnorm“, etwa für die Schule, waren die neuen. Diese Befehlsform kam den Leuten traurig bekannt vor. Nach einigen Wochen neuer Streitigkeiten zog das Kultusministerium denn auch die Hälfte der Neuwörter zurück.

Was hat die ganze Anarchie uns nun gebracht? Verwirrung, Unsicherheit und Gleichgültigkeit. Es ist nicht leicht, heutzutage als Lehrer Norwegischaufsätze zu korrigieren oder den Schülern ein gewisses Stilgefühl oder Stringenz zu vermitteln.

Schlimmer noch: Wir sind zum Teil von unseren literarischen Wurzeln abgeschnitten. Ich kenne Gymnasialschüler, die Ibsen lieber auf Englisch lesen, da ihnen sein Norwegisch nach hundert Jahren des Herumbastelns archaisch und fremd vorkommt.

Aber wir haben auch gelernt, daß Rechtschreibung keine gottgegebene Größe ist, sondern eine zutiefst relative und zwischenmenschliche Übereinkunft. Wir können sagen, die Rechtschreibung sei privatisiert worden, jetzt haben wir viermillionen verschiedene. nebenbei haben wir gelernt, daß Sprachwissenschaft keine exakte Wissenschaft ist, sondern nur eine Reihe von Ansichten, die sich als exakte Wissenschaft verkleiden.

Sprache ist nicht logisch und läßt sich auch nicht zur Logik zwingen. Wer Ordnung schaffen will, verschiebt die Unordnung nur. Und so würden wir Norweger uns wohl auf folgende Summe unserer Erfahrungen einigen können:

Wir sollen darauf vertrauen, daß die Sprache ihre Probleme schon selbst löst; offizielle Reformen mit ihrer Prägung von Korridorkompromissen und Mehrheitsentscheidungen bringen nichts Gutes. Die Sprache gehört allen, nicht irgendeinem Komitee. Sie läßt sich nicht per Handzeichen vereinfachen oder demokratisieren, wir können nicht beschließen, sie zu reinigen oder zu verbessern; sie ist groß und unregierbar und unfaßbar, sie ist älter als wir und jünger als wir, sie ist größer als wir und gehört niemandem.