Schröder weiß, dass er zu viel Zeit verloren hat. Umso ehrgeiziger ist sein Programm. Etwas von der Art und Tragweite hätte man jedenfalls von der Regierungserklärung beim Amtsantritt - die erste versäumte Gelegenheit - erwartet. Doch da war der frisch gebackene Kanzler noch nicht so weit, die Wahlversprechen vom Tisch zu nehmen.

Der frisch gebackene Kanzler

Neues von der ZEITSchreibung

(Nr. 26 v. 24. Juni 1999)

von Helmut Jochems, Littfeld

Wo sollte die Opposition gegen die reformverballhornte neue deutsche Schreibweise eine eindeutige Mehrheit haben, wenn nicht unter den ZEIT-Lesern? Wenn also die Wochenzeitung der Gebildeten sich schon den Verlagsinteressen des Mutterkonzerns mit Sitz in Gütersloh nicht ganz entziehen konnte, dann mußte doch andererseits auch Rücksicht auf Empfindlichkeiten genommen werden. Das Ergebnis war einerseits Zimmers „vorsichtige Reparatur“ und nun die scheibchenweise Einführung.

In Nr. 26 finden die ZEIT-Leser zum erstenmal die ganze Kollektion der Reformtorheiten vor sich ausgebreitet:

entfernt voneinander platzieren, der der Maschine Posititionsgefühl eingebläut hat
ein Buch zum Schnelllesen, Volllastjahre
von den Akademikern und Selbstständigen, Scheinselbstständigkeit
der Erfolg hat sich verselbstständigt
es ist ständig aufwärts gegangen, daß sie bald aufeinander prallen werden
Architekturen, die übereinander gestapelten Hühnerställen ähneln
Lebensmittel aus den leer stehenden Häusern, wenn nicht noch alles schief läuft
was übrig bleibt, ohne dass das Prickeln verloren geht; aber: Ausgeben muss wehtun
der frisch gebackene Kanzler, immer noch stehen die Pulte dicht gedrängt
eine Hand voll Kassetten,

350 000-mal , 25-mal so viele Daten, ein 300-seitiges Fachbuch

wo der Einzelne darauf achtet , im Übrigen, der Erfolg gibt ihm Recht

Zimmers Reparaturschreibungen sind natürlich auch vertreten:

wiederbelebt, sich wohlfühlen, zeitraubend

Nach allen Neuregelungsvarianten sind dagegen falsch:

hochempfindlich, vielbesucht
selbstgemacht, selbsternannt
wie Ernst ist es der Regierung wirklich
ein Argument, das sich viele Entwicklungsländer zu eigen machten.

Vielleicht leisten einige ZEIT-Redakteure Widerstand, wie man eine kürzliche Meinungsäußerung von Michael Naumann interpretieren kann. Die Neuerungen auf den Kopf zu stellen (groß statt klein und klein statt groß in den letzten Beispielen) ist tatsächlich ein möglicher Weg, die Absurdität der Rechtschreibreform jedermann vor Augen zu führen. Vielleicht sieht aber auch jemand vor lauter neuen Regeln und lauter willkürlichen Schreibungen den Wald nicht mehr.

Nicol Ljubic - um einen Namen zu nennen - versteht vermutlich den Variantenreichtum als das Wesen der Neuregelung. Lassen sich die folgenden Fälle von wechselweiser Groß- und Kleinschreibung anders verstehen?

In Long Hello & Short Goodbye hat sich Knut Loewe für eine unterkühlte Grundstimmung entschieden, für grau und braun als Grundfarben. - Alle Bilder haben diese beiden Grundfarben: Grau und Braun.

Das breite Lichtspektrum zwischen Gut und Böse - Die Filmwelt hat einen eigenen Gott, und der beherrscht alles, sogar das Farbspektrum von gut bis böse

Nicht zu vergessen: die vielen neuen Wörter mit „ss“ - schon nach drei umgestellten Nummern sieht man sie fast nicht mehr. So schnell geht das mit dem Wechsel. Ironischerweise hofften einige Leser bis zuletzt, DIE ZEIT werde sich in der Rechtschreibfrage vernünftig entscheiden, so zum Beispiel Helmut Henne, Linguistik-Professor an der Technischen Universität Braunschweig. Seine Äußerungen in der Braunschweiger Zeitung vom 17. Juni haben Gewicht. Er leitete jahrelang die Kommission „Gegenwartsdeutsch“ des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim (heute Sitz von Augsts Zwischenstaatlicher Kommission) und erhielt den Duden-Preis. Professor Henne ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Eine Woche später liest sich seine Beurteilung der Rechtschreibreform wie ein Kommentar zur neuen ZEITSchreibung:

„Die ganze Diskussion hat sich auf die Orthographie verengt, dabei geht es der Sprache doch vor allem um Inhaltsvermittlung, um Bedeutung, wir nennen das Semantik. Die neuen Regeln weisen aber leider eine große Semantikferne auf“, findet Henne. Es sei eben doch ein Unterschied, ob man es mit einem ‚frischgebackenen‘ oder einen ‚frisch gebackenen‘ Ehepaar zu tun hat, und solche Differenzierungen gehen durch die angestrebte Getrenntschreibung verloren.

„Man hätte die Rechtschreibung nicht reformieren, sondern weiterentwickeln müssen. Der Trend der Sprachbenutzer ging eindeutig in Richtung Zusammenschreibung, die neuen Regeln bevorzugen aber Getrenntschreibung.“ Damit leugne man, daß das Deutsche eine Wortbildungssprache ist, kritisiert Henne. Seit jeher seien durch Zusammentreten verschiedener Wörter neue entstanden, die meist auch ins Wörterbuch eingegangen, lexikalisiert worden seien. „Solche Lexikalisierungen wieder aufzubrechen widerspricht der Sprachentwicklung. Und das könnte etwa für Wörterbuchmacher noch weitreichende Konsequenzen haben. „Im neuen ‚Paul‘, der in Braunschweig erarbeiteten Fortschreibung des bedeutungsgeschichtlichen Wörterbuchs von Hermann Paul, haben wir etwa die Entwicklung des Adjektivs ‚sogenannt‘ erklärt, das in Zukunft ‚so genannt‘ geschrieben werden soll, also in einem Wörterverzeichnis eigentlich gar nicht mehr auftauchen dürfte.“

Und  daß  man bereits durchgesetzte Kleinschreibungen entgegen  dem  Trend der Sprachentwicklung in Großschreibung ändert, etwa: „der eine“, „der andere“, „die vielen“, „die wenigen“, aber: „die Übrigen“, „der Erste“, „im Einzelnen“ schreiben muß, hält Henne für rückschrittlich. „Die internationale Kleinschreibung war in Deutschland nicht durchsetzbar, aber man hätte sich weiter auf sie zu, nicht von ihr wegbewegen dürfen“, urteilt er.

Für DIE ZEIT kommen diese Ratschläge zu spät. Vermutlich werden ihre intelligenten Leser die Verballhornungen mit derselben Apathie schlucken wie vor ihnen schon die Lehrer und die Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst. Noch schlimmer sind die Journalisten dran, die müssen sich nun wirklich umstellen. Hin und wieder liest man eine kleine Satire - gelegentlich sogar mit einem Seitenhieb auf DIE ZEIT:

Ab 1. August ist es so weit: Die deutschsprachigen Zeitungen - und damit auch DER STANDARD steigen schweren Herzens um auf die Neue Deutsche Rechtschreibung. Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit hat einen Fragebogen ins Web gestellt, mittels dem man herausfinden kann, was für ein Rechtschreib-Typ man eigentlich ist: ein konventioneller, ein fortschrittlicher oder eine Mischform. Wie immer liegt der Teufel im Detail: Richtig ist nicht immer das nahe Liegendste. Was sich als Tippproblem darstellt, entpuppt sich dann oft als Neudeutsch. Für Leute, die mit Sprache zu tun haben, ein Muss!

DER STANDARD [Wien] v. 21. 6. 1999

Na denn: Viel Spaß beim Karneval der Wörter!