Herr Icklers Irrtum besteht darin, dass er fast jede Rechtschreib-Nuance, die in der deutschen Rechtschreibung existiert, als unabdingbar verteidigt. Demgegenüber sind die Reformer der Ansicht, dass alle Rechtschreib-Regeln genau dann auf den Prüfstand gestellt werden können und müssen, wenn sie dem Leser zwar einen kleinen Vorteil bescheren, dem Schreiber aber große Probleme machen. Es muss zu einem Interessenausgleich kommen! Dies gilt umso mehr, wenn die Rechtschreibung in den letzten 100 Jahren durch die Normierung mit einer großen Fülle feinsinniger Unterscheidungen befrachtet worden ist, deren Sinn für den Leser kaum einzusehen ist, für den Schreiber aber subtile Regelkenntnis - teilweise auf der Basis einer sehr genauen grammatischen Analyse - bedeutet. [...] Genau diese vielfach nutzlose Kasuistik zu beseitigen, war und ist in der Mehrzahl aller Fälle ein Ziel der Reformer. Dies ist besonders dann geboten, wenn der Staat durch eine Normierung die Rechtschreibung für die Schreiber verbindlich festlegt. Diese Festlegung muss u. E. so gestaltet sein, dass ein Schreiber nach dem Ende der allgemeinen Schulpflicht in der Lage ist, diese Norm befolgen zu können. Die Rechtschreib-Norm darf auf keinen Fall große Teile des Volkes von dem Gebrauch der richtigen Schreibung ausgrenzen, und dies erst recht nicht in einem demokratischen Gemeinwesen, wo jeder Bürger das grundgesetzlich verbriefte Recht hat, sich in Wort und Schrift frei zu äußern. [...] Bei dem ungeheuren gesellschaftlichen Stellenwert, den die Rechtschreibung hat, ist es auch nicht möglich, eine einfache Rechtschreibung für das einfache Volk und eine sophistizierte Rechtschreibung für die Gebildeten zuzulassen. [...] Eine Rechtschreibung für jedermann muss bestimmt sein durch klare Grundregeln, die möglichst wenig Ausnahmen oder gar Ausnahmen von den Ausnahmen haben.

Eine Rechtschreibung für jedermann?

Schein und Wirklichkeit der Neuregelung

Frühjahr 1999

Von Helmut Jochems, Littfeld

Im Frühjahr 1997 haben Gerhard Augst und Burkhard Schaeder im Auftrag des damaligen Präsidenten der Kultusministerkonferenz, des niedersächsischen Kultusministers Rolf Wernstedt, sich in mehreren Ausarbeitungen mit der Kritik an der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung auseinandergesetzt. Am ausführlichsten beschäftigten sie sich mit Prof. Icklers Einwänden, die damals in der Broschüre Die Rechtschreibreform auf dem Prüfstand vorlagen. Die Augst/Schaedersche Selbstverteidigung ist nie veröffentlicht worden. Durch die Ungeschicklichkeit eines niedersächsischen Ministerialbeamten ist sie dennoch nach außen gelangt, so daß sie ihrerseits Gegenstand von kritischen Äußerungen werden konnte. Dabei hat sich die Diskussion meistens auf den linguistischen Gehalt im engeren Sinne beschränkt. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der dadurch ermöglichten Einführung der neuen Schreibung an den Schulen (außer in Schleswig-Holstein) wie auch angesichts der gerade bei Bund, Ländern und Gemeinden angelaufenen oder geplanten Einführung in die Amtssprache ist es an der Zeit, die ursprünglichen Intentionen der Rechtschreibreformer und ihr jetzt im Praxistest stehendes Regelwerk zu vergleichen.

Augst und Schaeder, die hier vermutlich auch für die übrigen Reformer sprechen, gehen von einem emanzipatorischen Grundsatz aus:

Die Rechtschreib-Norm darf auf keinen Fall große Teile des Volkes von dem Gebrauch der richtigen Schreibung ausgrenzen, und dies erst recht nicht in einem demokratischen Gemeinwesen, wo jeder Bürger das grundgesetzlich verbriefte Recht hat, sich in Wort und Schrift frei zu äußern.

Diese These scheint auf den ersten Blick unmittelbar einzuleuchten: Bürgerrechte nimmt man auch schriftlich wahr, und das darf nicht an einer über die Maßen komplizierten Orthographie scheitern. Daß es jedoch auch in hochentwickelten Gesellschaften Analphabeten gibt, ist eine traurige Tatsache. Davon machen selbst Länder mit relativ einfachen Rechtschreib-Regelungen keine Ausnahme. Andererseits weiß man, daß die beiden gerade für die internationale Kommunikation wichtigen europäischen Kultursprachen - Englisch und Französisch - trotz ihrer auch nach dem Eingeständnis deutscher Reformer nicht vereinfachbaren Orthographien ihre Funktion reibungslos erfüllen. Wenn man weiter bedenkt, daß auch die sprachliche Ausdrucksfähigkeit der erwachsenen Sprachbenutzer starke Unterschiede aufweist, was im allgemeinen mit ihrem gesellschaftlichen Rang Hand in Hand geht, wird man sich über eine entsprechende Differenzierung bei der Beherrschung der Rechtschreibung nicht wundern. Aber auch Bürgerinnen und Bürger mit bescheidenen Fertigkeiten im Deutschen erleiden keine Nachteile, wenn sie mit einfachen Mitteln ihre Bürgerrechte schriftlich wahrnehmen. Das Grundargument der Reformer einschließlich der Unterstellung, eine bildungssprachlich geprägte Rechtschreibnorm grenze große Teile des Volkes aus, steht also erkennbar auf tönernen Füßen.

Nicht besser steht es mit dem schulpraktischen Argument, das Augst und Schaeder aus ihrer Ausgangsthese herleiten:

Diese Festlegung muss u. E. so gestaltet sein, dass ein Schreiber nach dem Ende der allgemeinen Schulpflicht in der Lage ist, diese Norm befolgen zu können.

Eine Sprache in allen ihren Aspekten erwirbt man im kommunikativen Umgang mit ihr. Darin unterscheidet sich die Muttersprache nicht von den Fremdsprachen. Kommunikation hat aber immer zwei Seiten: rezeptives Aufnehmen sprachlicher Äußerungen (mündlich und schriftlich) und produktives Gestalten solcher Äußerungen (ebenfalls mündlich und schriftlich). Die Orthographie einer Sprache erwirbt man, indem man ihr in unendlich vielen Texten begegnet und indem man selber schreibt. Bis zum Ende der allgemeinen Schulpflicht haben junge Menschen aber bei weitem nicht den ganzen Fächer sprachlicher Kommunikation erfahren können, der für ihr späteres Erwachsenenleben charakteristisch sein wird. Es ist also ein Irrglaube, annehmen zu wollen, daß mit dem sechzehnten Lebensjahr die sprachliche Entwicklung (auch im Hinblick auf orthographische Fertigkeiten) abgeschlossen ist.

Das Gefüge feiner Differenzierungen, das für den Schreibgebrauch gebildeter Erwachsener charakteristisch ist, tun Augst und Schaeder als „Kasuistik“ ab:

Genau diese vielfach nutzlose Kasuistik zu beseitigen, war und ist in der Mehrzahl aller Fälle ein Ziel der Reformer. Dies ist besonders dann geboten, wenn der Staat durch eine Normierung die Rechtschreibung für die Schreiber verbindlich festlegt.

Hier zeigt sich nun der Pferdefuß des an sich ganz sympathischen emanzipatorischen Anliegens der Rechtschreibreformer: Sie wollen durch den Staat eine Rechtschreibnorm verbindlich festlegen lassen, die den schon erreichten Entwicklungsstand teilweise wieder aufgibt, die also die sprachlichen Ausdrucksmittel bewußt verarmt.

Was für alle anderen Bereiche der Sprache gilt, insbesondere für den Wortschatz, für Syntax und Morphologie, die Stilistik und nicht zuletzt die Aussprache, daß nämlich die Sprachbenutzer von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sehr unterschiedlich Gebrauch machen, soll nach dem Votum der Reformer für die Orthographie nicht gelten. Zwei Orthographien für eine Sprache könne es nicht geben, meinen sie:

Bei dem ungeheuren gesellschaftlichen Stellenwert, den die Rechtschreibung hat, ist es auch nicht möglich, eine einfache Rechtschreibung für das einfache Volk und eine sophistizierte Rechtschreibung für die Gebildeten zuzulassen.

Wer hier nicht zuläßt, bleibt im Ungewissen. Der Staat vermutlich, aber der bedarf ja der Zuarbeit der Experten. Augst und Schaeder und ihre Kollegen (eine Kollegin war zunächst nicht dabei) spielen folglich Schicksal für ein ganzes Kulturvolk mit seiner natürlichen Bildungsschichtung. Die kulturellen Unterschiede wirken sich gesellschaftlich aus, wie jeder weiß, folglich verwischt man sie, indem man den Gebildeten ihr entwickeltes orthographisches Instrumentarium nimmt. Das aber geschieht zum Glück nur partiell. Sowohl im Regelwerk wie im amtlichen Wörterverzeichnis wimmelt es nur so von „Varianten“ wie Portemonnaie - Portmonee. Wenn die Rechtschreibwörterbücher die wiederhergestellten Zusammenschreibungen bei den zusammengesetzten Verben und Partizipien übernehmen, wie Gerhard Augst sie jetzt schon in seinem Wortfamilienwörterbuch von 1998 verwendet, erhöht sich die Zahl der Varianten noch einmal um etwa 800. Verschleiernd spricht man heute von konservativen und progressiven Schreibweisen. Richtiger wäre es, die Augst/Schaedersche Terminologie zu übernehmen: sophistizierte bzw. einfache Rechtschreibung. Was die Reformer verhindern wollten, ist folglich ein integraler Zug der Neuregelung.

Eine einfache Rechtschreibung für alle wollten die Reformer eigentlich kreieren, und diese Einfachheit sollte sich besonders in ihrem Regelwerk zeigen:

Eine Rechtschreibung für jedermann muss bestimmt sein durch klare Grundregeln, die möglichst wenig Ausnahmen oder gar Ausnahmen von den Ausnahmen haben.

Auch wer die egalitäre Begründung der neuen Rechtschreibung ablehnt, weil sie sich nämlich über die schlichte Tatsache hinwegsetzt, daß sich in der zugegebenermaßen komplizierten deutschen Orthographie die Entwicklung der deutschen Schreibkultur spiegelt, auch der konservative Traditionalist also hat das Recht, das Werk der Reformer an deren eigenem Anspruch zu messen: Zeichnet sich die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung wirklich durch klare Grundregeln mit möglichst wenig Ausnahmen aus? Die amtliche Rechtschreibkommission hat vor einem Jahr einen Teil dieser Regeln für korrekturbedürftig erklärt, und zwar als „unumgängliche Notwendigkeit“ angesichts der mangelnden Bewährung in der schon angelaufenen schulischen Umsetzung. Seitdem sind zumindest zwei weitere Änderungsvorschläge bekannt geworden. Die Arbeitsgruppe der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen hat ganze Regelgruppen verworfen und andere modifiziert. Ihr Wörterverzeichnis enthält nun Einträge, die weder nach den alten noch nach den neuen Regeln zulässig sind. Gerade plädiert die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung für einen geordneten Rückbau des neuen Regelwerks. Im Grunde soll lediglich die s-Regel beibehalten werden. Ein bezeichnendes Licht auf die Einfachheit der neuen Schreibungen wirft auch die Umsetzung bei den Behörden. In den Erlassen wird durchweg geraten, bei zulässigen Varianten die traditionellen Schreibungen zu benutzen. Im übrigen aber scheint sich kaum jemand die Mühe zu machen, die „klaren Grundregeln“ und die entsprechenden Schreibungen zu lernen und dann spontan anzuwenden. Überall regieren die Konverter, die die gängigen Fälle der Neuschreibung gut beherrschen. Häufig muß der Benutzer freilich eine Wahl treffen, und auch hier gilt bei den Behörden die Empfehlung: Die traditionellen Varianten sind möglichst beizubehalten.

Bleibt also die entscheidende Frage, wie sich die neue Rechtschreibung in der Schule bewährt. Verläßliche Untersuchungen darüber gibt es noch nicht, und den globalen Beteuerungen, die Schüler kämen mit den neuen Schreibungen gut zurecht, ist wenig Aussagekraft beizumessen. Wenn es ins einzelne geht, sind die Äußerungen skeptischer. Die neue s-Regel macht angeblich unerwartete Schwierigkeiten, weil die Unterscheidung von kurzen und langen Vokalen, die hier ja benötigt wird, offenbar gar nicht so einfach ist. Das andere Flaggschiff der Reform, die vereinfachten Kommaregeln, ist ebenfalls ins Gerede gekommen. Es zeichnet sich die Tendenz ab, daß Schüler die Erleichterung bei der Behandlung der Infinitivgruppen auf alle Nebensätze übertragen. Man vergesse nicht, daß es sich hier um häufige Phänomene handelt. Das egalitäre Zugeständnis wirkt sich also so aus, daß die unterprivilegierten Sprachbenutzer nun erst recht als solche zu erkennen sind.