Was steht auf dem Schild am Eingang des Bürgerparks „Deutsche Rechtschreibung“?

Für Axel und Margot Stommel mit herzlichem Dank

Am 21. August 1985 fand zum Auftakt des Siegener Kolloquiums „New Trends in Graphemics and Orthography“ ein Abendessen im kleinen Kreis im Weidenauer Hotel Oderbein statt. Einziger Gast war die französische Rechtschreibreformerin Nina Catach, die Herr Augst gerade vom gegenüberliegenden Bahnhof abgeholt hatte. Wegen der zu erwartenden sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten war eine Studentin zum Dolmetschen eingeladen, dazu meine Wenigkeit für den Fall, daß es auch für eine intelligente Romanogermanistin zu fachlich werden könnte. Ich erinnere mich lebhaft an eine Situation in unserem Tischgespräch. Nina Catach war höchst erstaunt zu hören, daß die Schwierigkeiten der deutschen Rechtschreibung die der französischen weit in den Schatten stellen. Besonders beeindruckte sie die Tatsache, daß bei uns kein Wissenschaftler einen zur Publikation bestimmten Text schreiben kann, ohne auf jeder Schreibmaschinenseite mehrfach ins „amtliche“ Rechtschreibwörterbuch zu schauen.

Ein paar Tage später habe ich in meinem sprachgeschichtlichen Seminar einige dieser Problemfälle den Studenten zur Abstimmung gestellt. Dabei ergab sich für „ins reine schreiben“, „recht bekommen“ und „zu Recht“ ein außerordentlich gespaltenes Meinungsbild. Damals waren sich die leidgeprüften Schreiber des Deutschen einig: So kann es nicht weitergehen. Die Ankündigung einer Rechtschreibreform wurde daher allerseits begrüßt. Erst als die tollen Klöpse aus Mannheim durchsickerten und man erkennen mußte, daß die Kultusminster gehörnten Wiederkäuern die Ausrichtung der Bundesgartenschau übertragen hatten, schlug die Zustimmung in Skepsis um.

Immerhin: Wer konnte Kultusminister Wernstedt widersprechen, als er am 17.9.1997 dem Niedersächsischen Landtag einige Kostproben aus dem letzten „amtlichen“ Duden vortrug?

Auto fahren, aber radfahren. Ski laufen, aber eislaufen. Auf dem Trockenen stehen, aber auf dem trockenen sitzen. Man tut ein Gleiches, aber das gleiche. Man macht Pleite, aber geht pleite. Man behält recht, aber hält etwas für Rechtens. Man hat Angst, aber man macht jemanden angst. Man hält Diät, aber man lebt diät. Man schreibt derartiges, aber etwas Derartiges. Christian ist der einzige, aber unser Einziger. Man ist im ganzen zufrieden, aber nicht, wenn es ums Ganze geht. Das Geringste, was man tun kann, sieht anders aus als das wenigste, was man leisten kann. Man schreibt der Erste, der Zweite, der Dritte, aber der achte, der neunte der zehnte.

Heute wissen wir, daß die deutsche Rechtschreibpraxis auch vor 1996 intelligenter war als ihre Festschreibung im Duden. Das Erzübel der alten Rechtschreibregelung bestand in der Durchsetzung von Einheitlichkeit um jeden Preis. In den beiden bedeutendsten orthographischen Problembereichen des Deutschen, in der Getrennt- und Zusammenschreibung bzw. in der Groß- und Kleinschreibung, lassen Semantik, Grammatik und Pragmatik häufig mehrere Lösungen zu, unter denen im jeweiligen Kontext, aber auch im Hinblick auf persönliche Präferenz oder Ausdrucksabsicht die Wahl zu treffen ist. Die orthographische Behandlung der zusammengesetzten Partizipien macht diese Zusammenhänge besonders augenfällig:

Vom Infinitiv „Besorgnis erregen“ aus gelangt man zu zwei Schreibmöglichkeiten für das Partizip, die unterschiedliche Schreiberintentionen ausdrücken können: Mit der Getrenntschreibung stellt man einen aktuellen Befund dar, während die Zusammenschreibung das in Frage stehende Phänomen klassifiziert. Die Getrenntschreibung ist jedoch auf die attributive Verwendung beschränkt und läßt auf keinen Fall Steigerung oder Intensivierung zu. Also: „Dieser Besorgnis erregende/besorgniserregende Vorgang ist äußerst besorgniserregend“. Lediglich als Faustregel kann man Schreibern raten: Die Zusammenschreibung ist immer richtig. Übrigens gibt es eine Klasse von zusammengesetzten Partizipien, die die prädikative Verwendung schon von ihrer Bedeutung her nicht zulassen. Man kann nicht sagen „*Die Eisen verarbeitende/eisenverarbeitende Industrie ist (äußerst) eisenverarbeitend“. Auch hier lautet der Rat „Zusammenschreiben!“, denn es geht vorwiegend um Klassifikation. Im tatsächlichen Sprachgebrauch ist die Sache jedoch noch komplizierter. Alle sprachlichen Bildungen haben eine Doppelnatur. Sie sind jeweils das Ausdrucksmittel im konkreten Fall, zugleich aber auch Baumuster für ähnliche Fälle. Ein Schreiber, dem entweder die zusammengeschriebenen oder aber die getrenntgeschriebenen Formen besonders aufgefallen sind, kann daraus den Schluß ziehen, so sei auch im Hinblick auf analoge Bildungen zu verfahren. Selbst wenn man höheren Sachverstand am Werke sieht, gilt die Einsicht: Alle sprachlichen Phänomene fangen okkasionell an und werden erst usuell, wenn sie genügend Nachahmer finden. Hat sich aber erst einmal eine neue Regularität herausgebildet, ist das ganze Regelsystem betroffen. Wie sagt doch Meillet so treffend? „La langue est un système où tout se tient.“

Die hier aufgezeigte Problematik gibt es ansatzweise auch im Englischen (a peacekeeping force), freilich ohne die zusätzliche Komplikation durch die Groß- und Kleinschreibung. Marginal ist im Englischen beim Verb auch der Übergang von der finiten zu infiniten Verwendung betroffen. Die deutschen Probleme sind da von anderer Güte. Wie heißt der Infinitiv zu „Die Skins schlugen den Asylbewerber krankenhausreif / halb tot / bewußtlos“? Oder trivialer: „Wir gehen spazieren/flanieren/baden/stiften“? Daß der Duden mal so und mal so entschied, hatte einen einfachen Grund: Im Zettelkasten der Redaktion deuteten die Belege mal in die eine, mal in die andere Richtung. Erst die deutschen Philister und Pedanten haben daraus das Prinzip abgeleitet, ausschließlich die registrierte Schreibung sei richtig und Andersschreiber seien mit Verachtung zu bestrafen.

Bei der Groß- und Kleinschreibung liegen die Probleme im Bereich der Substantivierungen von Wörtern anderer Wortklassen sowie der Desubstantivierung der Substantive selbst. Wenn „jenseits von Gut und Böse“ richtig ist, kann „ein Fest für Jung und Alt“ nicht falsch sein. Nach Präpositionen steht eben Substantivwertiges. Davon kann bei „im übrigen“, „im allgemeinen“, „im voraus“ abgewichen werden, da diese adverbialen Gruppen pragmalinguistisch nicht als Gegenstände der Rede zu deuten sind. Diese Begründung verdankt man übrigens Theodor Ickler, durch den zum erstenmal modernes linguistisches Denken sich der Rechtschreibtheorie annimmt. Nun ist es klar, weshalb sogar folgende Schreibungen akzeptabel sind: „des weiteren“, „des öfteren“, „des näheren“ usw. Schon zu Duden-Zeiten war die klassische Rhetorik in die deutsche Rechtschreibung eingedrungen. In verblaßter metaphorischer Ausdrucksweise schreibt man die substantivierten Adjektive wieder klein („im trüben fischen“), wohingegen die Großschreibung die Metapher revitalisiert (nach Th. Ickler). Wer davon noch nicht gehört hat, schreibt hier natürlich so oder so groß, und das gilt allgemein für die Desubstantivierung der Substantive selbst: „Das spricht aller Erfahrung hohn“: Vermutlich muß man Germanistik studiert haben, um dieser Verwendung begegnet zu sein. Großschreibung ist hier wohl das Übliche. Und wie steht es mit „Das zahle ich dir heim“? Hier merkt selbst der naivste Schreiber, daß sich der Verbzusatz schlecht mit den ihm geläufigen Bedeutungen von „Heim“ zusammenbringen läßt.

Nina Catach konnte in der Tat nur staunen, als sie von alledem erfuhr. Es muß ihr den Schwung genommen haben, die durchaus logische und leicht handzuhabende französische Orthographie zu reformieren. Für uns gilt: Wenn die sich schnäuzenden belämmerten Tollpatsche des Mannheimer Zooorchesters in ein paar Jahren das Feld geräumt haben werden, kann die Parole nicht lauten „Gott sei dank, nun sind wir wieder im Schoße Konrad Dudens!“ Die richtige Rechtschreibreform kommt erst noch, aber sie beginnt in den Köpfen der Menschen und nicht wiederum bei den Experten. Ein richtiger Bürgerpark soll das werden, wozu freilich auch eine Tafel beim Eingangstor gehört: „Dies ist kein Orchideengarten. Aber auch Gänseblümchen bedürfen des Schutzes der Bürger.“