Der Tagesspiegel, 23.6.1999

Christian Meier

Dumm, dümmer, Duden

Der Bürger und die Arroganz der Macht:

In Berlin läuft das Volksbegehren gegen die „Rechtschreibreform“. Doch die Kultusminister halten stur fest an ihrer Schifffahrt aus dem Effeffeff.

Was eigentlich macht die „Rechtschreibreform“ so anstößig, daß noch immer zwei Drittel der Bevölkerung sie ablehnen, daß die dagegen angestrengten Volksbegehren nicht ohne Aussicht auf Erfolg sind? Gewiß ist es richtig, daß die Reform, obwohl sie auch vernünftige Regelungen enthält (Anmerkung von M. Dräger: Welche bitte, Herr Meier?), doch überwiegend unausgegoren und unnütz ist; daß sie nicht nur verschiedene Differenzierungsmöglichkeiten der bisherigen Schreibung, sondern ganze Wortbildungsmuster tilgen will; daß sie den Schreibern evidente Dummheiten zumutet und ohne jede Not häßliche Wort- und Buchstabenungetüme zur Norm macht (Schlammmasse, Brennnessel). Daß Schulkinder allen möglichen Experimenten ausgesetzt sind, ist man nachgerade gewöhnt. Aber warum müssen sich Erwachsene ohne jeden ersichtlichen Grund - abgesehen von einer Anordnung etwa der Innenminister - auf weithin willkürliche, zum Teil in sich widersprüchliche Veränderungen einlassen?

Allein, so wenig gleichgültig dies alles ist, so ist es doch nicht so bewegend, daß es derart viel Aufmerksamkeit beanspruchen dürfte. Wenn es jedenfalls nur um den Inhalt der „Reform“ ginge. Schließlich stehen wir angesichts des rapiden gesellschaftlichen und technologischen Wandels vor einer Vielzahl von Fragen, denen gegenüber sich etwa das Problem, ob Menschen eine Schnauze haben und sie beim Schneuzen gebrauchen (wie es die neue Schreibung von„Schnäuzen“ suggeriert), vergleichsweise nebensächlich ausnimmt. Woher also die Aufregung? Es geht um mehr als nur ein paar neue Schreibweisen.Der Ärger richtet sich auch, und zum nicht geringen Teil, gegen die Arroganz der Macht, die zumindest im Prozeß der Durchsetzung zum Ausdruck kommt: in der Unbelehrbarkeit, der Besserwisserei, die etwas Erstaunliches hat.

Sprache und Schrift sind sensible Bereiche. Man braucht nicht Schriftsteller zu sein, um in ihnen schon ein Stück Identität zu sehen. Insofern hat es immer wieder seit dem 19. Jahrhundert heftigen Widerstand gegen obrigkeitliche Eingriffe in die Schrift gegeben. Man muß da unterscheiden: Wie die Sprache ist auch die Schrift immer in Bewegung; es lassen sich dabei auch längerfristige Tendenzen beobachten, deren Niederschläge über kurz oder lang hingenommen zu werden pflegen. Aber diese Veränderung geschieht gleichsam „von selbst“. Der Duden hat sie für die einzelnen Wörter eher protokolliert als festgesetzt. Entsprechend hat sich die orthographische Konferenz von 1901 darauf beschränkt, Veränderungen, die sich im allgemeinen Schriftgebrauch weithin schon vollzogen hatten, zu notifizieren. Auch heute würde die Öffentlichkeit nicht viel dagegen einwenden, wenn die Kultusminister veranlaßten, einige Spitzfindigkeiten und Widersinnigkeiten, die sich in den Duden eingeschlichen haben, einmal auszukämmen.

Tiefere Eingriffe in den Schreibgebrauch sind in Deutschland in der Regel rechtzeitig gestoppt worden. Der Preußische Kultusminister von Falk, an sich kein zimperlicher Mann, hat eine ihm sachlich einleuchtende Reform 1876 schließlich zurückgewiesen, weil „es dem Zwecke der Einigung geradezu widersprechen“ würde, „wenn in den Schulunterricht eine Rechtschreibung eingeführt würde, welche, sei sie auch noch so zweckmäßig und wohlbegründet, in dem Schreib- und Druckgebrauche außerhalb der Schule kaum oder nur sehr beschränkte Aufnahme fände“. Anders hielt es 1944 der Reichserziehungsminister Rust mit seinem Eingriff in die Schrift, der aber zu spät kam, um noch vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches verwirklicht zu werden. Das zweite Beispiel eines starren Durchhaltens trotz überwiegender Ablehnung bildet die jetzige „Reform“.

Man muß unseren Kultusministern zugute halten, daß sie parlamentarisch bestellten Kabinetten angehören. Auch hat das Verfassungsgericht festgestellt, daß die „Reform“ nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Natürlich, möchte man hinzufügen - denn wo wären wir hingekommen, wenn man in Karlsruhe allem erdenklichen Unsinn hätte vorbeugen wollen? Daß die Urteilsbegründung erstaunlich schludrig und unfair ausgefallen ist, berührt die Feststellung nicht. Andererseits ist keine Demokratie der Welt gegen unsinnige Entscheidungen gefeit. Insoweit ist alles in schönster Ordnung.

Und doch ist es kein Zufall, daß die Formel von der Arroganz der Macht unter demokratischen Verhältnissen geprägt worden ist. Sie wird einer Empfindlichkeit verdankt, die zum besten der Demokratie gehört. Nicht zuletzt gegen Mißbräuche der Macht ist in unseren Verfassungen das Instrument des Volksentscheids eingebaut worden. Grob gesagt, wird der Bürger geradezu gebraucht - als Korrektiv.
Was wir nun in Sachen Rechtschreibung beobachten, ist eine klare Mißachtung eindeutiger, relativ konstanter Umfrageergebnisse. Natürlich ist kein Parlament und keine Regierung verpflichtet, sich nach solchen Ergebnissen zu richten; das darf auch gar nicht sein. Und doch sollte man meinen, daß sie zu respektieren seien in einer Materie, die so wenig mit staatlichem Hoheitsanspruch zu tun hat und zugleich so weitgehend in das Privatleben der Bürger hineinreicht.

Die von den Ministern eingesetzte Kommission zur Beobachtung des Schreibgebrauchs hat selbst befunden, wesentliche Teile der Reform seien zurückzunehmen. Das hochgepriesene Ziel einer im ganzen deutschen Sprachbereich einheitlichen Schreibung ist dank des Volksbegehrens in Schleswig-Holstein unerreichbar geworden. Alles, was in Philologie und Sprachwissenschaft Rang und Namen hat, hat sich dagegen ausgesprochen, gerade auch ausländische Germanisten.

Aber nicht, was die Mehrheit nachweisbar will, sondern was ein kleiner Kreis von Beauftragten, übrigens nicht ohne ideologische Färbung, ausgeheckt hat, soll gelten. Bis 2005. Dann ist eine Reform der Reform möglich. Doch obgleich dies vorgesehen ist, sollen die Verwaltungen sich jetzt schon umstellen; offenbar sind unsere Beamten mit ihrer Arbeit so recht nicht ausgelastet; hier kann man wirklich etwas einsparen. Und schon sieht man bei einigen Zeitungen, nicht ohne zu erschrecken, die alte deutsche Untugend des vorauseilenden Gehorsams fröhliche Urständ feiern. Auch setzt das ein, was stets befürchtet worden war. Die „Zeit“ verpaßt sich eine Haus-Orthographie, die Nachrichtenagenturen wollen der Presse die „Reform“ mit anderen Modifikationen verkaufen. Das Chaos wächst. Dabei sind die Freiräume, die man sich darin erkämpfen kann und muß, von großer Wichtigkeit. Das Ganze ist ein Stück aus dem Tollhaus. Wer es nicht versteht, braucht nicht an sich zu zweifeln.

In dieser Lage aber schlägt in einer Demokratie die Stunde der Bürger. Volksbegehren wie derzeit in Berlin sind mögliche Denkzettel und notwendige Korrektive.


Der Autor ist Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.