Theodor Ickler

„Angesichts der Machtverhältnisse...“

Anmerkungen zum „Vorschlag zur Neuregelung der Orthographie“

vorgelegt von der

Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (März 1999)

Seit dem Inkrafttreten der neuen Schulorthographie sprießen die Gegenentwürfe wie Pilze aus dem Boden. Und es ist nicht irgendwer, der sie macht, sondern

- Marktführer Duden mit seinem „Praxiswörterbuch“ (vgl. FAZ 14.12.1998)

- die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen mit ihrem Beschluß vom 16.12.1998

- die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (März 1999).

Unterdessen ist aber auch die zwischenstaatliche Kommission für die deutsche Rechtschreibung mit dem Rückbau ihres Jahrhundertwerks beschäftigt. Neunmal ­ so erfuhr der erstaunte Bürger jüngst von Innenminister Schily (Bundestagsdrucksache 14/356) ­ hat sie seit ihrer Konstituierung getagt und hinter strengstens verschlossenen Türen Änderungen der amtlichen Regelung beraten. Was an den deutschen Schulen mit Ausnahme Schleswig-Holsteins zur Zeit gelernt wird, ist also in jedem Falle bereits überholt.

Die Akademie lehnt, wie ihr Präsident vor dem Bundesverfassungsgericht und zuletzt bei der Herbsttagung der Akademie im Oktober 1998 bekräftigt hat, die Reform grundsätzlich ab. In ihrem neuen Vorschlag läßt sie sich weniger aus Überzeugung als um des lieben Friedens willen auf einige ­ eher marginale und überdies problematische ­ Vorschläge der amtlichen Neuregelung ein. „Angesichts der Machtverhältnisse“, so heißt es, sieht sie von einer vollständigen Verwerfung ab. Damit widerruft sie ihre Stellungnahme vom Dezember 1997. Ist diese Kehrtwendung schlüssig begründet?

Die Akademie weiß sicherlich, daß ihr neuer Kompromißvorschlag für die Kultusminister unannehmbar ist. Denn deren Stärke beruht seit Jahren gerade darauf, daß sie sich allen fachlichen Argumenten vollständig verschließen und auf dem reinen Machtanspruch bestehen. Solange sie mit eiserner Stirn behaupten, die evident mißlungene Reform sei in Wirklichkeit sehr gut; solange sie die überall zu beobachtende Vermehrung der Fehler in eine Fehlerverminderung umlügen und die nach Tausenden zählenden Unterschiede in den neuen Wörterbüchern nur zum Anlaß nehmen, die „großen“ Wörterbuchverlage (Schily) zu konspirativen Treffen mit der Rechtschreibkommission einzuladen ­ so lange sind sie unschlagbar. Die Kultusminister wissen, daß ihnen das leiseste öffentliche Eingeständnis, mit der Rechtschreibreform einen Fehler begangen zu haben (privat haben viele von ihnen es längst zugegeben, und ein halbes Dutzend ist ohnehin nicht mehr im Amt, zum Teil gerade wegen der Reform) nicht nur einen allenfalls zu verschmerzenden Gesichtsverlust bereiten, sondern die ganze Institution der Kultusministerkonferenz, das berühmte „Nullum“ (Rupert Scholz), in Frage stellen würde. Denn die Macht hinter dieser Reform steht in Wirklichkeit auf tönernen Füßen.

Außerdem darf man die Hauptsache nicht vergessen: Schon im Dezember 1997 waren die Kultusminister bereit, die Revisionsvorschläge ihrer Kommission anzunehmen, doch dann wurden sie von den Schul- und Wörterbuchverlegern zur Ordnung gerufen, die verständlicherweise nicht auf ihrem schnell gedruckten Ramsch sitzenbleiben wollten. Die Korrekturen, obwohl „unumgänglich notwendig“ (so die Kommission selbst), wurden untersagt.

Das und nichts anderes sind die „Machtverhältnisse“, denen sich die Akademie wenigstens dem äußeren Anschein nach beugen zu müssen glaubt. In Wirklichkeit hat jeder einzelne Kultusminister ­ ebenso wie die Bundesregierung ­ die Macht, das Monstrum Rechtschreibreform von heute auf morgen zur Strecke zu bringen. Es kostet gerade mal so viel Mut oder Unbefangenheit, wie das Kind angesichts des nackten Kaisers aufbrachte: „Er hat ja gar nichts an!“

Ein Kompromiß, ob er nun von der Akademie stammt oder von den Nachrichtenagenturen, trägt unvermeidlicherweise zur weiteren Zerstörung der orthographischen Einheit und damit der Orthographie selbst bei. Auch dieser neue Vorschlag macht die ganze Masse des geflissentlich Umgestellten und Neugedruckten zu Altpapier. Das wird so oder so geschehen, aber warum bleibt man dann nicht gleich bei der bewährten Orthographie, wie sie noch in der gesamten Erwachsenenliteratur fast allein üblich ist? Über ihre Akzeptanz besteht ja nicht der geringste Zweifel.

Leider ist über all dem Suchen nach Kompromissen die erste und wichtigste Frage aus dem Blick geraten: Wozu brauchen wir denn überhaupt eine „Neuregelung der Orthographie“? Waren wir denn mit der bisherigen Orthographie (die nicht mit ihrer gelegentlich etwas spitzfindigen Darstellung im Duden verwechselt werden darf) unzufrieden? Wird der Leser von ihr nicht aufs hervorragendste bedient? Funktional, d. h. in Hinsicht auf die Bedürfnisse des Lesers, um dessentwillen alles Schreiben doch geübt wird, ist die gewachsene deutsche Orthographie nahezu unübertrefflich. Und was die Lernbarkeit betrifft, die allerdings immer erst in zweiter Linie in Betracht kommen kann, so ist keiner der alternativen Entwürfe, am wenigsten die amtliche Neuregelung, leichter, im Gegenteil, die unerhörten Schwierigkeiten der Neuregelung sind geradezu sprichwörtlich, und ihre funktionalen Schwächen sind ja auch der Grund dafür, daß nun die vielen Gegenentwürfe auf dem Tisch liegen.

Die Akademie gibt also vor, von der Neuregelung auszugehen, läßt aber praktisch keinen Stein auf dem anderen. Sie bescheinigt den Reformern, sie hätten Hunderte von Wörtern aus dem deutschen Wortschatz entfernt, die es nun zu retten gelte. Eine schärfere Verurteilung der Reformer ist schwerlich vorstellbar. Lohnt es sich, mit Leuten zu verhandeln, gar Kompromisse anzustreben, die mit solcher Anmaßung und Inkompetenz an die Arbeit gegangen waren? Man sollte auch nicht einfach vergessen, daß die Reformer etwas ganz anderes gewollt hatten und immer noch wollen, nämlich die Kleinschreibung der Substantive, eine weitgehende Fremdworteindeutschung, die Einheitsschreibung „das“ (auch für „daß“, neu „dass“), die Tilgung der Dehnungszeichen („der al im bot“ usw.). Erst nachdem ihnen dies untersagt worden war, brachten sie 1994 Hals über Kopf den nunmehr in Kraft getretenen, offenkundig unausgegorenen Entwurf hervor, über den alle unabhängigen Fachleute ebenso wie die betroffene Bevölkerung mit höhnischem Lachen hinweggegangen wären, hätten sich die Reformer nicht rechtzeitig mit der Staatsmacht verbunden, so daß es nun eine hochpolitische Angelegenheit geworden ist, mit den schnell geschaffenen vollendeten Tatsachen irgendwie fertig zu werden.

Die Akademie macht sich die Strategie des Reformkritikers Peter Eisenberg zu eigen. Schon im Januar 1996, als noch gar nichts feststand, redete er den Lehrern ein, „jetzt“ komme es darauf an, mit der leider nicht besonders gelungenen Reform zu leben (Die neue Rechtschreibung. Hannover 1996, S. 3). Während der Mannheimer Anhörung im Januar 1998 malte er eine nicht näher ausgeführte „kulturpolitische Katastrophe“ an die Wand, falls die Reform kippe. (In Wirklichkeit drohte nur den Kultusministern Wernstedt usw. eine Blamage.) Als es ihm nicht gelang, auch nur ein winziges bißchen seiner Revisionsvorstellungen durchzusetzen, trat er aus der Kommission aus, behielt aber seine Strategie bei. Nach dem Karlsruher Urteil verkündete er wiederum, „jetzt“ müsse man mit der Neuregelung leben, die er allerdings gleichzeitig in Grund und Boden kritisierte („Praxis Deutsch“ 153, 1998).

Der Kompromißvorschlag soll den Streit beenden, „dem Konflikt ein Ende setzen“, weitere Volksbegehren überflüssig machen (S. 2). Das kann aus zwei Gründen nicht gelingen.

1. Die Reformbetreiber können den Vorschlag nicht akzeptieren, weil er praktisch alle wirklich wesentlichen Neuerungen aus dem Regelwerk herausbricht. Abgelehnt werden u. a.

- die vermehrte Getrenntschreibung

- die vermehrte Großschreibung

- die Beseitigung der Höflichkeitsgroßschreibung Du usw.

- die neue Kommasetzung

- die Augstschen (volks)etymologischen Neuschreibungen (schnäuzen, Tollpatsch).

2. Der Vorschlag übernimmt aber so viel Problematisches aus dem amtlichen Regelwerk, daß auch die Reformkritiker ihn nicht akzeptieren können. Die Reform enthalte „brauchbare Ansätze“; „es wäre falsch, sie nicht zu übernehmen“ (S. 1). Ich mustere die vorgeschlagenen Übernahmen bzw. Zugeständnisse.

- Känguru „analog zu Marabu“ usw. ­ Das sei den Reformern geschenkt!

- Anders sieht es mit rauh/rau aus. Zwar trifft zu, daß in der Aussprache kein Unterschied zwischen rauhes und blaues besteht, aber das allein wäre kein Grund, eine ganze Reihe von Wörtern wie Rauhhaardackel, Rauhnächte usw., zu ändern. Hinzu kommt zweierlei: Durch Tilgung des h geht der Zusammenhang mit Rauchwerk (,Pelzwerk‘) verloren. Außerdem gehört rauh zu den Wörtern, denen das „Blickfang-h“ abhanden käme, das solche sinntragenden Wörter haben, denen sonst jede Ober- und Unterlänge fehlen würde. Die angeblichen Analoga haben sie: blau, schlau, genau usw. Die Reformer scheinen dafür durchaus Sinn zu haben, sonst würden sie ja wohl auch und ro einführen, für die das Argument der gleichen Aussprache mit und ohne h ebenfalls gilt. ­ Kurzum: kein Handlungsbedarf bei rauh!

- überschwänglich kommt schon seit geraumer Zeit in Texten vor und sollte zugelassen werden, bei As/Ass ist die Änderung dagegen nicht angebahnt und daher überflüssig.

- Die grundsätzliche Zustimmung zur 1901 abgeschafften, neuerdings wiederbelebten „Heyseschen“ s-Schreibung (fließen ­ Fluss). Die Akademie stellt zutreffend fest, daß diese Änderung wegen ihrer Häufigkeit in laufenden Texten das „Herzstück der Reform“ sei: „Wer sie akzeptiert, gibt zu erkennen, daß er die Neuregelung nicht grundsätzlich bekämpft. Das Umgekehrte gilt ebenfalls.“ Sie ist also hochsymbolisch, sozusagen der Geßlerhut, an dem sich die Bereitschaft zur Unterwerfung unter die Staatsgewalt am deutlichsten zeigt. Einleitend hat die Akademie unmißverständlich klargestellt, „daß dem Staat die Legitimation zu tieferen Eingriffen in die Rechtschreibung fehlt“. (Wieso „tieferen“? Was geht den Staat die Orthographie überhaupt an, wo er sich doch um Aussprache und Grammatik auch nicht kümmert?) Seltsamerweise schlägt die Akademie dann aber vor, „im Interesse einer Beilegung des Streites, zugunsten einer Wiederherstellung des ,Rechtschreibfriedens‘“, just diese Änderung zu übernehmen! Wie kann man hoffen, daß gerade dies den Frieden wiederherstellt? Sollen die Reformgegner gerade hier in die Knie gehen, wo es außerdem auch nach Ansicht der Akademie überhaupt keinen Änderungsbedarf gibt, denn die „Ersetzung des ß nach Kurzvokalbuchstaben durch ss ist weder systematisch geboten noch ist sie unproblematisch.“ (S. 4) Für Wörter wie Missstand wird sogar noch eine Ausnahme vorgeschlagen, so daß wir hätten Missbrauch, aber Mißstand! Wie und warum überhaupt sollen Schüler das lernen? Dabei war die bisherige Schreibung so leserfreundlich wie leicht lernbar, bis auf das/daß ­ aber dies bleibt ja (das/dass)! Wenn schon, dann sollte eher daß als Ausnahme bestehen bleiben, denn dass ist nach einem früheren Urteil Peter Eisenbergs die schlechteste denkbare Lösung.

- Rohheit, Jähheit ­ weniger als ein halbes Dutzend Wörter. Dies könne nach Meinung der Akademie hingenommen werden. Kein Widerspruch, da es einer Tendenz der Sprachgemeinschaft entspricht.

- geschrien statt des bisher möglichen geschrieen, analog zu die Knie, die Seen (wie bisher). Das ist annehmbar, freilich bleibt die unschöne Folge, daß zweisilbiges und dreisilbiges geschrien nicht mehr unterschieden werden können. Eine Vereinheitlichung in umgekehrter Richtung, d. h. die ausdrückliche Freigabe wäre denkbar gewesen. Die Fälle sind so selten, daß es sich nicht lohnt, darauf einzugehen.

- Trennbarkeit von st. Hier gibt es zwar eine Reihe unangenehme Nebenfolgen, aber aus systematischer Sicht ist dagegen wenig einzuwenden. Nur: besteht Änderungsbedarf?

- die Nichttrennung von ck. Sie verstößt gegen die Trennung nach Sprechsilben (hier Silbengelenk) und gegen den § 3 der Neuregelung, wonach ck nur eine typographische Variante von kk ist. Die Änderung ist daher ein doppelter Verstoß gegen die inhärente Systematik und abzulehnen.

- sodass bzw. sodaß kann zugelassen werden, da es der Entwicklung zur Univerbierung entspricht, in anderen deutschsprachigen Ländern bereits üblich und auch in Deutschland oft anzutreffen ist. Hierher gehört noch einiges andere, was der Vorschlag der Akademie nicht erwähnt (z. B. umso).

- Bei irgendwer usw. ist ein Irrtum unterlaufen. Es geht in Wirklichkeit nur darum, irgendetwas und irgendjemand zusammenzuschreiben, also ebenso wie bisher irgendwer, irgendwo usw. Der Unterschied, daß etwas und jemand erststellenfähige Indefinitpronomina sind und daher tatsächlich, wie der Duden immer gesagt hat, „größere Selbständigkeit“ besitzen, wird übergangen. Daß die Neuregelung „radikal, aber übersichtlich“ sei, kann man auch nicht behaupten, denn irgend so ein wird ja weiterhin getrennt geschrieben, d. h. irgend bleibt ein freies Wort! Man sollte die Schreibweise freigeben, wie sie es ja in Wirklichkeit auch ist.

- Die Ausführungen zu goethesches Gedicht sind nicht richtig, da der Duden bisher zwischen goethesches Gedicht (,Gedicht nach Art Goethes‘) und Goethesches Gedicht (,Gedicht von Goethe‘) unterschied, was freilich in der Praxis nicht strikt befolgt wurde. Die Unterscheidungsmöglichkeit sollte beibehalten werden, die nähere Begründung kann hier nicht gegeben werden (s. meinen „Kritischen Kommentar“, 2. Aufl. Erlangen, Jena 1999).

Die Akademie hofft, mit ihren Neuerungen „sowohl dem Grundanliegen einer Reform wie den Interessen der Leser und Schreiber, aber auch denen der Verlage und nicht zuletzt der Steuerzahler gerecht zu werden.“

Was ist aber das Grundanliegen einer Reform? Die Beseitigung einiger Dudenspitzfindigkeiten kann es wohl nicht sein. Eine Reform kann entweder eine funktionale Verbesserung der Orthographie oder ihre leichtere Erlernung durch die Schüler zum Ziel haben. Es ist nicht zu erkennen, was die vorgeschlagenen Veränderungen zu beiden Zielen beitragen.

Warum sollte die Bevölkerung sich diesen Vorschlägen anschließen, die keinesfalls besser sind als die bisher übliche Regelung und zum Teil ja auch mit der zweifelhaften Empfehlung antreten, nicht ganz so schlimm zu sein wie andere neue Regeln? Auch diese ausgewählten, minder schlimmen Regeln sind zu diskutieren, und zwar öffentlich. Dann wird allerdings ihre Blöße zutage treten. Überhaupt eröffnet, wer neue Vorschläge macht, eine neue Diskussion und beendet nicht etwa den „Streit“, wie es mit unangebrachter Abschätzigkeit heißt.

Der Entwurf hat zwar keine Aussicht auf Verwirklichung, ist aber dennoch zu begrüßen. Denn je mehr Alternativvorschläge von einigem Gewicht es gibt, desto geringer sind die Erfolgsaussichten der wirklich besonders schlechten amtlichen Neuregelung.

Der Streit wird also weitergehen, und das muß er auch ­ bis der Reformunfug vorbei ist.