Der erfundene Laie

Ein Wortfamilienwörterbuch von Gerhard Augst

von Theodor Ickler

Gerhard Augst:Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1687 S.; 258,- DM

Wenn der führende deutsche Rechtschreibreformer ein Wortfamilienwörterbuch vorlegt, verdient dies aus zwei Gründen Beachtung. Erstens darf man sich Aufschluß erhoffen über die theoretischen Grundlagen befremdlicher Neuschreibungen wie schnäuzen, verbläuen, Stängel, Zierrat. Zweitens ist interessant, wie der Vorsitzende der Rechtschreibkommission selbst es mit der neuen Rechtschreibung hält, deren korrekte Anwendung sich bekanntlich als überaus schwierig erwiesen hat.

Etymologisch geordnete Wörterbücher gibt es seit langem. Sie befriedigen teils ein sprachgeschichtliches Interesse, teils erleichtern sie das Vokabellernen im Fremdsprachenunterricht; mancher erinnert sich wohl aus der Schulzeit einer sogenannten „Wortkunde“. Augst hat jedoch anderes im Sinn. Nicht die wissenschaftlich ermittelten historischen Zusammenhänge zwischen den Wörtern sollen das Ordnungsprinzip liefern, sondern die im Kopf eines Laien vermutete assoziative Beziehung, Augst nennt sie „synchrone etymologische Kompetenz“.

Natürlich fragt sich sogleich, wo man diesen Laien findet. Nächst dem Geld ist bekanntlich nichts so ungleich unter den Menschen verteilt wie die Sprachkenntnis. In dieser Situation erfindet Augst den absoluten Laien. Er verfügt weder über eine Berufsausbildung noch über Fremdsprachenkenntnisse, kann also keine weiterführende Schule besucht haben und liest auch keine Zeitung. Unter den „Informanten“ ­ „Kollegen, Freunde und Bekannte“ ­, die Augst befragt hat, sind solche Hinterwäldler sicher nicht zu finden; der Autor erklärt denn auch: „Im Großen und Ganzen spiegelt dieses Wörterbuch die Ordnung nach Wortfamilien so wider, wie wir sie als (re)konstruierende Wörterbuchautoren dem ,normalen‘ Sprachteilhaber idealtypisch unterstellen.“ Das heißt in schlichteren Worten: Augst denkt sich aus, was der Laie sich bei bestimmten Wörtern denken könnte. Wie kenntnislos man sich diesen fiktiven Laien vorzustellen hat, geht ein wenig klarer aus seinem Gegenbild hervor, dem Fachmann. Zu Skateboard merkt Augst an: „Für Fachleute eine Zusammensetzung.“ Zu Cornflakes: „Die Fachleute stellen es zu Korn und Flocke.“ Schon geringfügigste Englischkenntnisse, wie man sie hierzulande bei Zehnjährigen findet, machen also den Fachmann aus ­ aber für welches Fach? Da sich sehr ähnliche Bemerkungen zu Hunderten finden, kann man sie nicht als belanglose Nachlässigkeiten abtun.

Bei der Beschaffung seines Materials begeht Augst einen doppelten Fehler: Er übernimmt sowohl den Stichwortbestand als auch die Bedeutungsangaben aus bereits vorliegenden Wörterbüchern von fremder Hand, hauptsächlich aus dem 1984 in der DDR erschienenen „Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (HDG), gelegentlich auch aus dem „Duden Universalwörterbuch“ (DUW). Das bescheidene HDG gewinnt aus unerfindlichen Gründen kanonische Geltung, als dürfe davon ohne besonderen Anlaß kein Jota weggelassen werden. Diese enge Bindung an die Vorlage hat zur Folge, daß die befragten und natürlich erst recht die erfundenen Laien viele Wörter oder Wortbedeutungen gar nicht kennen, wie Augst zum Beispiel bei repassieren ausdrücklich zugibt. Wie sollten auch dem Laien, der nicht einmal Cornflake oder Go-in als Zusammensetzungen durchschaut, Bionik oder Daktyloskopie geläufig sein? Zu Eierschecke merkt Augst an: „Die Informanten kennen das Wort nicht, so dass eine denkbare synchrone Beziehung zu Scheck nicht belegt werden kann.“ Das Irreale des Unternehmens könnte nicht deutlicher werden.

Wenn man Laien nach Wortverwandtschaften fragt, kommen sie auf Gedanken, die sie sich sonst nicht machen würden. Zu schellen bemerkt Augst: „Etym. gehört diese Wortfamilie zu schallen, Schall; die Informanten sehen selbst nicht diesen Zusammenhang, akzeptieren ihn aber erstaunt, wenn man ihn nennt.“ Was bleibt ihnen anderes übrig? Die Episode belegt nur, daß normale Menschen imstande sind, einem etymologischen Gedankengang zu folgen. Niemand hat es bezweifelt. Aber in wie vielen Fällen mag der Interviewer es gewesen sein, der einen Zusammenhang erst herstellte, den der Interviewte mangels besserer Gegenvorschläge dann ganz annehmbar finden mußte? Das heute undurchsichtige Verb ergötzen stellen angeblich alle Informanten zu Götze (weshalb es unter Gott eingeordnet ist, womit es natürlich nichts zu tun hat). Hätte Augst seine Informanten nach dämlich gefragt, wären sie wahrscheinlich auf Dame verfallen. Überhaupt läßt er sich erstaunlich viel entgehen. Daß Trauma heute oft mit Traum und Alptraum in Verbindung gebracht wird, kann man fast täglich in der Zeitung lesen: die alptraumatische Szenerie (aus der F.A.Z.). Augst weiß davon nichts. Übrigens zeigen solche Belege, wie man philologisch exakt, ohne Spekulation über einen fiktiven Laien, zu Einsichten in „volksetymologische“ Wortschatzumschichtungen gelangen kann.

Noch ein anderes großes Gebiet läßt Augst sich entgehen: die Psychophonetik. Es ist seit langem bekannt, daß im Kopf des Sprechers viele Wörter, die zum Beispiel mit spr-, schl- oder kn- anlauten, jeweils auf eine schwer greifbare und dennoch wirksame Weise zusammengehören. Diese Beziehungen liegen jedoch unterhalb der Morphemschwelle, so daß sie gleichsam durch das Augstsche Familiensieb schlüpfen.

Statt dessen zeigt der Verfasser eine ganz unproportionierte Detailfreude in belanglosen Dingen: Die Definition von Fondue zum Beispiel läuft zu rezeptartiger Ausführlichkeit auf, wobei ausnahmsweise das Käsefondue nach dem alten Wahrig beschrieben wird. Für ein Wortfamilienwörterbuch eher unerwartet schließt sich folgende Bemerkung an: „Das Primäre ist das (Käse)fondue; in manchen Gegenden der dt. Sprache ist heute das Fleischfondue als Fondue primär, das Käsefondue sekundär.“ Wenn das so weitergeht, wird das Käsefondue noch tertiär und schließlich ganz obsolet werden!

Zu den störendsten Zügen der sogenannten Rechtschreibreform gehört bekanntlich, daß die volksetymologischen Schreibungen dogmatisch als die allein zulässigen dekretiert werden: Auch wer Zierat keineswegs mit Rat, verbleuen nicht mit blau und schneuzen nicht mit Schnauze in Verbindung bringt, soll jetzt Zierrat,verbläuen, schnäuzen schreiben müssen. Ebenso verfährt Augst in seinem Wörterbuch. Die ganze Wortsippe um Dichtung (,Poesie‘) wird ohne Umstände unter das Adjektiv dicht subsumiert. Als Rechtfertigung dient folgende Behauptung:

dichten <<> neu motiv.: dicht machen> ein sprachliches Kunstwerk (in gebundener Form) schaffen;

Aber diese kalauerhafte Geistreichelei, wie man sie gelegentlich im Feuilleton findet, ist keineswegs Gemeingut des ganzen Sprachvolks.

Was die Wortbedeutungen betrifft, so ist es widersinnig, zwar die Beziehungen zwischen ihnen im Kopf des Laien aufspüren zu wollen, die Bedeutungen selbst jedoch einem mit ganz anderen Zielen verfaßten Lexikon zu entnehmen. Welcher Laie weiß schon, daß der Holunder ein „Geißblattgewächs“ und Glyzerin eine „hygroskopische Flüssigkeit“ ist? Dies und tausenderlei von gleicher Art wird ungefiltert aus der Vorlage übernommen.

Die Erhebung des Laien zum Richter über die Organisation des Wortschatzes gerät in ein seltsames Licht, wenn man sich näher ansieht, was Augst im eigenen Namen über manche Wörter zu sagen hat. Gleich am Anfang seines Werks stößt man auf einen schockierenden Eintrag:

a-, ab-, an-, ana- /Präfix/ nicht; /oft mit der zusätzlichen Bed./: zuwiderlaufend: ahistorisch; apolitisch; asymmetrisch; abnormal; anorganisch; anachronistisch. ab- ist etym. eine Variante des Negationspräfix a-“

Das griechische Negationselement a- (vor Vokalen an-) hat natürlich weder mit der Präposition ana noch mit der lateinischen Präposition ab das geringste zu tun. Wenn man dies gelesen hat, wundert man sich weniger über die dilettantische Qualität der Rechtschreibreform.

Die Übernahme der Bedeutungsangaben und sogar der Verwendungsbeispiele aus fremden Werken wirft noch eine andere, etwas delikate Frage auf. Dazu muß man sich den Tatbestand wenigstens an einigen Beispielen vor Augen führen. Das HDG definiert das Wort gleiten so:

„1.1 sich wie von selbst, gleichmäßig, unter Überwindung von Reibung über eine glatte od. schlüpfrige Fläche hin entlang bewegen, ohne sich vom Untergrund zu lösen: mit Schlittschuhen über das Eis (...) g.; (...) <> die Tänzer glitten über das Parkett 1.2. ein Vogel gleitet (fliegt im Gleitflug) durch die Luft ­ 2. sich wie von selbst, gleichmäßig (auf einer glatten Fläche) nach unten bewegen: jmd. gleitet ins Wasser (...); das Tuch glitt von ihren Schultern, zu Boden

Augst schreibt: „sich wie von selbst, unter Überwindung von Reibung über eine glatte od. schlüpfrige Fläche hin entlangbewegen, ohne sich vom Untergrund zu lösen: mit Schlittschuhen über das Eis g.; <> die Tänzer glitten über das Parkett; ein Vogel gleitet (fliegt im Gleitflug) durch die Luft; sich wie von selbst, gleichmäßig (auf einer glatten Fläche) nach unten bewegen: jmd. gleitet ins Wasser; das Tuch glitt von ihrer Schulter zu Boden

Wo das HDG wegen seiner ideologischen Schlagseite oder aus anderen Gründen nicht zu gebrauchen war, kopiert Augst das Duden-Universalwörterbuch (DUW):

DUW: „Miliz Streitkräfte, deren Angehörige eine nur kurzfristige militärische Ausbildung haben u. erst im Kriegsfall einberufen werden“

Augst: „Miliz Streitkräfte, deren Angehörige nur eine kurzfristige militärische Ausbildung haben u. erst im Kriegsfall einberufen werden“

So geht es Seite um Seite. Das Werk ist im großen und ganzen eine leicht gekürzte und etwas anders arrangierte Abschrift, ergänzt um gelegentliche Bemerkungen im Sinne der Augstschen Grundidee. Die DDR-Autoren, die nach 1989 nicht hoffen durften, daß ihrem Werk noch einmal eine neue Auflage beschieden sein könnte, waren dem Vernehmen nach mit dieser Art von Nachleben einverstanden. Dennoch ist ein solcher Fall plagiierender Nachschöpfung bisher aus der Geschichte der Lexikographie nicht bekannt. Leidtragender ist letzten Endes der Käufer, der aus der Titelei nicht entnehmen kann, daß er für viel Geld etwas erwirbt, was er - bis auf die Fußnoten des Bearbeiters - möglicherweise schon lange besitzt.

Was nun Augsts eigenen Umgang mit der sogenannten Rechtschreibreform betrifft, so hat er sein Werk zwar in einer neuen Rechtschreibung abgefaßt, aber keineswegs in der amtlichen, sondern so, wie die Kommission, deren Vorsitzender er ist, im Januar 1998 die Neuregelung geändert wissen wollte, damit sie nicht gar zu sehr gegen Grundregeln der deutschen Grammatik verstieße.

Augst schreibt also blutsaugend und Zeitlang wieder zusammen; jdm. feind sein kann offenbar auch wieder klein und Tolpatsch mit einem l geschrieben werden. Er schreibt Fair play, fritieren wie bisher; die Neuregelung verlangt Fair Play, frittieren.

Die Kultusminister haben jene Korrekturvorschläge abgelehnt, aber Augst nimmt mit Recht an, daß das Veto nur für eine Übergangszeit gilt: bis die Schulbuchverleger ihre umgestellten Titel verkauft haben. Damit wird nochmals klar, daß die gegenwärtige Reform schon bald überholt sein wird. Die kostspielige Umstellung der Schul- und Kinderbücher wäre nicht nötig gewesen, wird aber nun in Kürze ein zweites Mal fällig.

Die Vorbereitung dieses Buches wurde jahrelang von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, die zuletzt auch noch die Umstellung auf die Augstsche Spezialorthographie unterstützt haben soll.