Die Rechtschreibreform in der Dudengrammatik

Einige Beobachtungen zur Neuauflage

DUDEN: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearbeitete Auflage. (Duden Band 4): Mannheim 1998. 912 S., 38 DM.

von Th. Ickler

Die Neubearbeitung der Dudengrammatik ist nicht nur selbst in reformierter Orthographie verfaßt, sondern auch inhaltlich gegenüber der 5. Auflage von 1995 so verändert, daß sie der Rechtschreibreform gerecht wird. Dies war offenbar auch der einzige Grund, warum das Werk bereits nach drei Jahren neu aufgelegt werden mußte.

Zu den schwersten Fehlern der sogenannten Rechtschreibreform gehört bekanntlich die gewaltsame Auseinanderreißung zusammengesetzter Wörter. Wenn man schwindelerregend auflöst, ergeben sich grammatisch falsche Gebilde wie am Schwindel erregendsten, und es gibt noch eine Reihe weiterer Gründe, warum auch die vielen anderen Zusammensetzungen wie blutsaugend, tiefschürfend und schwerbeschädigt erhalten bleiben müssen. Die Reformer selbst haben Ende 1997 erklärt, eine Revision dieses zentralen Kapitels sei „unumgänglich notwendig“, doch legten die deutsche Kultusminister ihr Veto ein. Seither wird an deutschen Schulen etwas unterrichtet, was sogar die Urheber für falsch halten.

Wie geht nun die Dudengrammatik mit diesen heiklen Fällen um?

Im Wortbildungskapitel hieß es 1995 noch völlig richtig: „Zwei Drittel der mit 1. Partizipien gebildeten Zusammensetzungen folgen dem Muster gefahrbringend, erdölproduzierend usw.“ In der Neuauflage ist dieses Muster ersatzlos gestrichen, die Verfasser wollen von dem einst so produktiven Wortbildung noch nie etwas gehört haben!

Alle größeren deutschen Grammatiken und nicht zuletzt Band 9 des Großen Duden (“Richtiges und gute Deutsch“) vermerken seit je, daß man im Deutschen nicht sagt: Das Ergebnis ist durchaus zufrieden stellend; das erweiterte Partizip ist nämlich anders als das zusammengesetzte Adjektiv (zufriedenstellend) ungeeignet, als Prädikativum zu fungieren. Genau dieser unzulässige Satz steht aber nun in der neuen Dudengrammatik, weil die Rechtschreibreform es so und nicht anders will.

In der vorigen Auflage wußten die Verfasser noch: „Auch Partizipien wie schwerbeschädigt sind Komposita, das zeigt die Reihenbildung. Das Zweitglied bestimmt die Wortart, sie tragen außerdem nur einen Hauptakzent und weisen eine spezifische Bedeutung auf.“ 1998 heißt es aber: „Zu diesem Übergangsbereich gehören dann besonders viele Partizipbildungen wie schwer beschädigt (...). Das Zweitglied bestimmt die Wortart, sie tragen außerdem nur einen Hauptakzent und weisen eine spezifische Bedeutung auf.“ ­ Da aber das in zwei Wörter zerlegte Gebilde schwer beschädigt gerade kein Kompositum mehr ist, kann man auch nicht mehr von einem „Zweitglied“ sprechen. Und vollends absurd ist nun der letzte Satz, weil er immer noch etwas zu begründen vorgibt, was inzwischen gar nicht mehr existiert.

Zum Satzbauplan Ich bin diesem Mann fremd gehörte 1995 ausdrücklich auch der Satz Der Kaiser war den Christen feind. Drei Jahre später ist er gestrichen, weil die Orthographiereformer irrigerweise meinten, hier handele es sich um das Substantiv Feind. Gestrichen sind aus demselben Grunde auch freund sein und not tun. Die Neuschreibung verlangt ja widersinnigerweise: Seefahrt tut Not. Sobald die Reformer ihre Revisionspläne verwirklichen dürfen, werden alle diese Formen wieder auftauchen und damit wohl auch das vorübergehend unterdrückte grammatische Wissen der Dudengrammatiker.

Die staatlich verordnete Großschreibung der Tageszeiten in heute Abend usw. hat die erstaunliche Folge, daß dort, wo die Grammatik zuvor ein Adverb erkannte, nun ein Substantiv stehen soll; das Beispiel Donnerstag abend ist vorsichtshalber ersatzlos gestrichen.

Die Wortvernichtung geht noch weiter. Gestrichen sind aufsichtführend, unverrichteterdinge, sogenannt - lauter Wörter, denen die Rechtschreibreform den Garaus gemacht hat. Ein aufgelöstes Stichwort so genannt ist im Register zwar noch zu finden ist, allerdings mit einem blinden Verweis auf einen Abschnitt, der das Stichwort auch in der aufgelösten Form nicht mehr enthält.

Die Bereitschaft der Verfasser, sich von den staatlich autorisierten Orthographen über grammatische Sachverhalte belehren zu lassen, ist erstaunlich. Der Orthographie wird zugetraut, uns nicht nur über die Schreibweise der Wörter zu informieren, sondern sogar darüber, welche Wörter es überhaupt gibt. Syntax und Wortbildung liegen aber der Orthographie voraus, sie können durch orthographische Eingriffe, mögen sie auch mit staatlicher Autorität vorgenommen sein, nicht geändert werden. Daß ebendies nun versucht wird, noch dazu an so prominenter Stelle, gehört zu den beschämendsten Nebenfolgen der unglücklichen Schreibveränderung.