Kollege mit Abrißbirne

Wie bei der Mafia:
Aus dem inneren Zirkel der Rechtschreibreformer

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 116, 22.5.1997, Feuilleton, S. 38

Theodor Ickler

„Jene reformbedürftigen Leserbriefe, die ich auf Artikel von Karl Korn, Günther Gillessen und Kurt Reumann an die F.A.Z. geschickt habe, würde ich heute nicht mehr verfassen.“ Der Erlanger Sprachwissenschaftler Horst Haider Munske, langjähriges Mitglied des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie und damit an der Vorbereitung der umstrittenen Rechtschreibreform beteiligt, gibt einen Sinneswandel zu Protokoll. Der Wiederabdruck seiner Aufsätze zu verschiedenen Bereichen der Orthographie dient gewiß auch dazu, der Öffentlichkeit und nicht zuletzt den Fachkollegen zu zeigen, wie folgerichtig der Erkenntnisweg war, der den bedeutendsten Kopf unter den Reformern zugleich zum entschiedensten Kritiker des gegenwärtig vorliegenden Entwurfs gemacht hat. Immer tiefer dringende Einsicht in Geschichte und Funktion der deutschen Rechtschreibung ließ den Respekt vor diesem Produkt der „unsichtbaren Hand“ wachsen, auch den Zweifel an den Möglichkeiten einer echten Reform.

Am Anfang steht, wie bei allen Reformen, eine gewisse Begeisterung für eine schreibfreundlich  „flache“, nur das Lautbild getreu wiedergebende Orthographie: gemäßigte Kleinschreibung, graphische Eindeutschung der Fremdwörter. Einheitsschreibung „das“ (auch für die Konjunktion). Allmählich reift die Einsicht in die Vorzüge der „tiefen“, am Sinn und damit am Leser orientierten deutschen Rechtschreibung. Mitten in die Vorbereitung der gegenwärtigen Reform platzt Munskes skeptischer Aufsatztitel „Läßt sich die deutsche Orthographie überhaupt reformieren?“ Kurz danach schreibt er

„Zur Verteidigung der deutschen Orthographie“. Damit hat er sich bereits von den Reformplänen seiner Kollegen verabschiedet, plädiert für „Pflege“ statt „Reform“ und untermauert seine gewandelten Ansichten mit gründlichen, stets die geschichtliche Dimension beachtenden Analysen.

In einer ebenso kurzen wie schlagenden Verteidigungsschrift für die Unterscheidungsschreibung „das/daß“ sagt er über die reformbegeisterten Sprachwissenschaftler und Didaktiker. „Die historisch gewachsene Orthographie ist ihnen im Grunde ein Ärgernis.“ Das ist es. Der schlagzeilenträchtige Beispielsatz „Der keiser isst opst“ war ja damals keine Schimäre der Kritiker, sondern ein allen Ernstes geplantes Reformergebnis, so wie es heute „Stängel, Tunfisch, rau, Leid tun“ und der vielbelachte „Spinnefeind“ sind. Aus gegebenem Anlaß hat Munske einige den gegenwärtigen Stand der Dinge kommentierende Kapitel angefügt, die man als sensationell bezeichnen kann.

Die fachlich mißratene, völlig unerprobte Reform ist noch lange nicht in Kraft, und doch wird sie in einigen Bundesländern einem „unvermittelten Praxistest“ an mehreren hunderttausend Kindern und Jugendlichen ausgesetzt. Dies ruft Munskes berechtigten Zorn hervor: Warum hat man, so fragt er, die geplante Vorlaufphase bis zum Jahre 1998“ nicht genutzt, um die Neuregelung zu testen und dem Urteil der Wissenschaft auszusetzen? Man hätte dann rechtzeitig erkennen können, daß die Reform zu jenen katastrophalen Neuschreibungen führt, die Munske im letzten Teils seines Buches schonungslos bloßstellt. Gegen die sinnlos vermehrte Großschreibung („im Allgemeinen, nicht im Geringsten,

jeder Einzelne“) und die ebenso dogmatisch verfügte Kleinschreibung fester Verbindungen („erste Hilfe, hohes Haus“) hat der Autor schon vor Jahren protestiert, leider vergeblich.

Nachdem es den Reformern nicht gelungen war, die mittelalterliche Kleinschreibung wiedereinzuführen, versuchten sie es mit einer vollständigen Kehrtwende, der vermehrten Großschreibung, die immerhin bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückführt. Dabei mag auch, wie unser Autor vermutet, der Wunsch mitgespielt haben, „wenigstens im Bereich der Groß- und Kleinschreibung zu sichtbaren Reformen zugunsten der Schreiblerner und der Schreibenden zu gelangen, nachdem dies in anderen Bereichen nicht gelungen war“. Scharf wendet er sich gegen die Auffasssung, das Festhalten an der Großschreibung sei nur ein Fall von „nationaler Widerborstigkeit“. Sein abschließendes Urteil über dieses Kapitel:

„ein Pyrrhussieg der Reform“.

Die exzessive Getrenntschreibung („fertig stellen, Besorgnis erregend“) bedeutet nicht nur einen  Rückschritt ins Barockzeitalter, sondern bringt vollkommen ungrammatische Gebilde hervor wie „höchst tief schürfend, das bei weitem nichts Sagendste“ - Munske nennt diesen Teil der Neuregelung schlicht „ein Kuckucksei“. Ebenso scharf urteilt er über gewisse Neuerungen der Laut-Buchstaben-Zuordnung. Mutwillig eingeführte und völlig überflüssige Schreibvarianten wie „Schenke/Schänke,  aufwendig/aufwändig“ „diskreditieren die ehrenwerten Ziele der Reform“. Angesichts der von einem einzigen Kollegen durchgesetzten Marotte künstlich historisierender, selbst volksetymologischer Schreibungen wie „behände, Stängel, Tollpatsch“ - einer Pervertierung des sogenannten „Stammprinzips“ - greift er sogar zu ironischen und sarkastischen Wendungen, die dem ernsten Buch sonst fremd sind. Nur einen „orthographischen Spaß“ sieht er in Schreibweisen wie „verbläuen“; den könnten allenfalls die Pennäler sich erlauben, die dabei an die blauen Flecken nach einer Keilerei denken mögen.

Wie die drei zentralen Regelungsbereiche, in denen sich am meisten ändern soll, so gründlich mißlungen sind - was will dann die neue „Zwischenstaatliche Kommission für die deutsche Rechtschreibung“ eigentlich noch erreichen? Das könnten wir vielleicht am ehesten erfahren, wenn wir eine zweite Neuerscheinung zur Hand nehmen, in der fast alle Reformer mit einem oder mehreren Aufsätzen vertreten sind. Eigentlich als begründender und kommentierender Begleitband zur Neuregelung gedacht, erscheint dieses Werk mit erheblicher Verspätung. Die meisten der rund dreißig Beiträge enthalten zwar nichts Neues, mögen aber ein erst jetzt erwachendes Interesse mancher Leser an den Entstehungsbedinungen und Grundgedanken der Reform befriedigen. Interessant wird das Buch, wo sich seine Zielsetzung geändert hat. Kurz gesagt: Neben die „Begründung“ tritt die „Kritik“, und zwar größtenteils aus der Feder der Reformer selbst. Nicht nur einige wenige Außenseiter, die hier ebenfalls zu Wort kommen, sondern die Mitglieder des inneren Kreises selbst schwingen die Abrißbirne gegen die Ruine „Rechtschreibreform“.

Daß zum Beispiel die „liberalisierte“ Kommasatzung zwar das Fehlermachen erschwert, professionellen Ansprüchen aber bei weitem nicht gerecht wird, zeichnete sich in einigen Schriften der Schweizer Reformer Horst Sitta und Peter Gallmann schon seit längerem ab. Nun stellt Gallmann in aller Ausführlichkeit einen konservativen, jedoch mit modernen Mitteln der Sprachbeschreibung begründeten Gegenentwurf vor, dem zweifellos die Zukunft gehört. Munske entwickelt aufs neue seinen in Wien überstimmten Entwurf zur Groß- und Kleinschreibung, der den Intuitionen und Tendenzen der Sprachgemeinschaft weit besser gerecht wird und sich daher auf längere Sicht unvermeidlicherweise durchsetzen wird. Denn man kann dem stillen, aber beharrlichen Strom der Sprachentwicklung nicht „entgegenwirken“, wie es die Reformer stolz für sich in Anspruch nehmen. Burkhard Schaeder versucht in einem langen und wirren Aufsatz, der Kritik an den aberwitzigen neuen Getrenntschreibungen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er die hauptsächlich von ihm selbst verantworteten Regeln dieses Bereichs uminterpretiert. Dabei stellt er jedoch den obersten Grundsatz der Neuregelung auf den Kopf, daß nämlich Getrenntschreibung der Normalfall und nur die Zusammenschreibung eigens zu regeln ist. Es ist im übrigen nicht nötig, diese Umdeutung zu widerlegen, da die beiden Schweizer Reformer das bereits mit aller Klarheit besorgt haben. Der Rostocker Nestor der deutschen Orthographieforschung, Dieter Nerius, meint immer noch, die gemäßigte Kleinschreibung wäre doch das beste gewesen. Auch andere Beiträger lecken ihre Wunden; sie können sich, wie ihr Kollege Klaus Heller bei einer anderen Gelegenheit gehässig bemerkte, nicht damit abfinden, „dass ihre Ansichten im nationalen oder internationalen Rahmen nicht konsensfähig waren“.

Wer noch nicht wußte, daß die Mitglieder der alten wie der neuen Rechtschreibkommission untereinander heillos zerstritten sind, kann es zwischen den Zeilen der hier vorgestellten Bücher lesen. Im Internationalen Arbeitskreis sollen, wie ein Mitglied vertraulich berichtete, „mafiaähnliche Verhältnisse“ geherrscht haben, was auch damit zusammenhängen mag, daß einige der Reformer ihr Insiderwissen - entgegen einer an sich selbstverständlichen Absprache - von Anfang an für Privatgeschäfte zu nutzen versuchten. Die neue, kürzlich erstmals zusammengetretene Zwischenstaatliche Kommission, in ihrer Zusammensetzung fast identisch mit dem Internationalen Arbeitskreis für Orthographie und daher durch dieselben Spannungen belastet, beschäftigt sich zur Zeit mit der Anfertigung von Wortlisten, die zur Klärung der abweichenden Angaben in den neuen Wörterbüchern dienen sollen. Allein zwischen Duden und Bertelsmann hat man rund tausend Widersprüche festgestellt. Spätestens zum Beginn des neuen Schuljahres werden also sechs Millionen Wörterbücherkäufer feststellen, daß sie sozusagen Fehldrucke erworben haben. Man wird den Kultusministern die Schuld zuweisen, und diese werden den Schwarzen Peter (oder „schwarzer Peter“, wie die Neuschreibung will) an die Kommission weiterrreichen, wo man nur darauf wartet, übereinander herfallen zu können. Ob die Bürger diesem unwürdigen, überaus kostenträchtigen Schauspiel noch lange zusehen wollen?


Horst Haider Munske: „Orthographie als Sprachkultur“.
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1997, 336 S., br., 68,- DM.

Gerhard Augst, Karl Blüml, Dieter Nerius, Horst Sitta (Hrsg.): „Zur Neuregelung der deutschen Orthographie“. Begründung und Kritik.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1997. 495 S., br., 124,- DM.