Wahrig:
Deutsches Wörterbuch
7., vollständig neu bearb. u. aktualisierte Auflage auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln.
Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München 2000. - 1451 S., 59,90 DM.


Theodor Ickler


Mit besonderem Interesse nimmt man ein Wörterbuch zur Hand, das sich nicht nur auf die amtliche Neuregelung der deutschen Orthographie beruft, sondern auch auf anderweitig nicht zugängliche „Empfehlungen“ der zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung. Diese Kommission hat nämlich ausschließlich die Verlage Bertelsmann und Duden, mit denen einzelne Kommissionsmitglieder auch in geschäftlichen Beziehungen stehen, zu Beratungsgesprächen eingeladen, um sie über die authentische Interpretation der neuen Regeln zu unterrichten. Darüber hinaus ist jedoch bekannt geworden, daß die Kommission auf diesem Wege auch jene „unumgänglich notwendigen“ Korrekturen des Regelwerks durchzusetzen versucht, die ihr von den deutschen Kultusministern nach der Mannheimer Anhörung (Januar 1998) untersagt wurden.

Wie sich schon nach dem Erscheinen der zweiten Auflage des Bertelsmann-Rechtschreibwörterbuchs (April 1999) absehen ließ, betrifft eine der wichtigsten vorgesehen Korrekturen die neue Getrennt- und Zusammenschreibung: Während die Neuregelung vorschreibt, die Zusammensetzungen vom Typ aufsehenerregend in Wortgruppen (Aufsehen erregend) aufzulösen, führen die neuesten Wörterbücher auch die zusammengesetzten Adjektive wieder ein und schreiben sie im Falle von Steigerung und Erweiterung (noch aufsehenerregender, höchst aufsehenerregend) sogar zwingend vor. Genau dieses grammatische Argument hatten die Reformgegner immer gegen die Neuregelung ins Feld geführt; nun steht es unter jedem einschlägigen Stichwort. (Die Angabe aus den Benutzungshinweisen, Aufsehen erregend und aufsehenerregend seien „gleichwertige Varianten“, trifft also keineswegs zu.) Die Einträge sind zwar immer noch mangelhaft, weil es widersinnig ist, zu den erweiterten oder gesteigerten Formen keinen entsprechenden nichterweiterten Positiv zuzulassen, aber im übrigen ist nunmehr genau der alte Zustand wiederhergestellt, so daß der Rotdruck (für „Neuschreibung“) nicht mehr gerechtfertigt ist.

Unverständlich ist allerdings, daß nicht nur die Zusammensetzungen, sondern auch die Wortgruppen Aufsehen erregend, Glück bringend usw. als „Adjektive“ bezeichnet werden; erstens gehören Wortgruppen keiner Wortart an, und zweitens handelt es sich ja bei den Partizipien, wie schon die Akkusativrektion zeigt, um Verbformen. Ein ähnliches Zurückbleiben der Wortartzuweisung hinter den orthographischen Gewaltakten beobachtet man auch sonst: in heute Abend usw. soll Abend neuerdings groß geschrieben werden, weil es nach Ansicht der Reformer ein Substantiv ist; laut Wahrig bleibt es jedoch „Adverb“. „Adverb“ bleiben auch Leid (in Leid tun), Not (Not tun), und um „Adjektive“ handelt es sich bei jemandem Feind sein, Bankrott/Pleite gehen selbst nach Einführung der allerdings grammatisch falschen Großschreibung durch die irregeleiteten Reformer. All dies muß den unbefangenen Benutzer vor den Kopf stoßen, zumal auch das beigefügte „Lexikon der deutschen Sprachlehre“ keine Erklärung der sonderbaren Widersprüche liefert.

A propos Feind: den vielbelachten Spinnefeind erspart uns das Wörterbuch, es bleibt, wie der führende Reformer Gerhard Augst bereits früher „angeboten“ hatte, bei spinnefeind; das Adjektiv todfeind fehlt allerdings ganz – bei einem Wörterbuch dieses Umfangs immerhin merkwürdig.

Bei Not leidend hätte ich mir Auskunft gewünscht, ob man tatsächlich schreiben soll: Die Kredite wurden Not leidend. Grammatisch ist das falsch, und dies war der dritte, von der Kommission bisher nicht verstandene Grund, den die Kritiker gegen die obligatorische Auflösung der Komposita geltend gemacht hatten. Ganz ist der gewaltsame Eingriff in diesen Bereich noch nicht überwunden, was sich an zahlreichen Fehlern wie Blut reinigend zeigt. Zu den Pointen der Neuregelung gehört ja gerade, daß Blut saugend getrennt geschrieben werden muß (die Zecke saugt Blut), während blutreinigend erhalten bleibt (nicht: der Tee reinigt Blut).

Das Schlüsselwort wiedersehen ist erwartungsgemäß wiederhergestellt, nachdem in Millionen neuer Wörterbücher (im Rechtschreibduden bis zum heutigen Tage) seine Beseitigung aufgrund einer mißverstandenen Reformregel dokumentiert worden war. In zahlreichen anderen Fällen (wiederaufbereiten, wiederaufrichten, wiedergutmachen usw.) hat sich die bessere Einsicht noch nicht durchgesetzt.

Unter den Zusammensetzungen mit hoch und wohl herrscht reine Willkür. Es genüge hier der Hinweis auf das Nebeneinander von hochgelehrt und hoch gebildet, wohlriechend und wohl schmeckend, wohlgeneigt und wohl gelitten. gleich bedeutend ist im Gegensatz zu gleich lautend nicht aus den neuen Regeln zu begründen, denn man kann zwar sagen, daß zwei Wörter gleich lauten, nicht aber, daß sie gleich bedeuten. schwerbehindert ist ebenso wie schwerbeschädigt ohne Wenn und Aber wiederhergestellt, obwohl das amtliche Wörterverzeichnis ebenso kategorisch schwer behindert vorschreibt. Nirgendwo ist die entschlossene Abweichung von der amtlichen Neuregelung greifbarer.

Der Versuch, einige Schnitzer der Reform gleichsam auf kaltem Wege zu bereinigen, macht merkwürdigerweise vor ausgesprochenen Versehen halt. Daß es hintenüberkippen, aber vornüber kippen heißen soll, braucht man nicht getreulich zu reproduzieren, denn die Reformer sind längst bereit, ihre lückenhafte Liste zusammenzuschreibender Partikeln zu ergänzen. Auch die Unterscheidung von darin sitzen und drinsitzen (und weiteren Fällen dieser Art) hat nie eingeleuchtet. Die Schreibweise Eurythmie ist, nachdem die Reformer sich im Herbst 1995 von Rytmus trennen mußten, keine neue Variante mehr, sondern nurmehr eine anthroposophische Marotte, wie bisher. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte – hier ist die Großschreibung durchaus nicht neu. Wie oft muß man noch wiederholen, daß selbstständig keine Schreibvariante zu selbständig ist, sondern ein anders gebildetes Wort, dessen Verwendung mit Rechtschreibung und Rechtschreibreform überhaupt nichts zu tun hat? Gräkum ist laut Neuregelung nicht mehr zulässig, nur Graecum. Unter Crêpe findet man einen Verweis auf Krepp, der jedoch ins Leere führt – zum Glück, möchte man fast sagen, denn der Edelpfannkuchen verträgt die an Klopapier erinnernde Eindeutschung denkbar schlecht.

Im Zeitalter der automatischen Silbentrennung war es sehr überraschend, daß die Reformer zahlreiche „Erleichterungen“ für Anfänger und Wenigschreiber einführen zu müssen glaubten, als wenn der mühsam vor sich hin syllabierende Grundschüler den Maßstab für eine doch eher drucktechnische Angelegenheit abgeben könne. Tatsächlich überbieten sich die neuen Wörterbücher neuerdings in der Anführung von immer absurderen Trennstellen, und dies ist es auch, was den Umfang des Rotgedruckten so enorm wachsen läßt. Allein die vielen Zusammensetzungen mit hinein oder über, die jetzt jeweils eine Variante hi-nein bzw. ü-ber bekommen, führen zu mehreren rotgesprenkelten Seiten. Von den neuen Trennstellen hat sich die nach einem einzelnen Vokalbuchstaben überhaupt nicht durchgesetzt. In einem Wörterbuch, das nicht einmal als eigentliches Rechtschreibwörterbuch auftritt, braucht man solchen Unfug also gar nicht anzuführen. Niemand trennt ja No I-ron, Lötrohra-nalyse usw. Wer Buche-cker, Bleia-sche, Glaso-fen, Blütendi-agramm, Breake-ven, De-ospray trennt, macht sich einfach lächerlich. Im übrigen entwirft das Wörterbuch ein ziemlich inkonsistentes Bild des Benutzers. So soll er ausdrücklich imstande sein, Prospermie oder intransigent richtig zu zerlegen, aber bei E-kloge, e-klektisch, O-blate soll er diese törichten Zerlegungen für möglich halten. Trennungen wie Pneu-mektomie brandmarken den Laien; er sollte wenigstens davor gewarnt werden. Immerhin wird Hämo-globin wieder organisch getrennt, nachdem der Geschäftsführer der Rechtschreibkommission und Bertelsmannautor Klaus Heller noch vor kurzem die Konkurrenz getadelt hatte, weil sie anders als Bertelsmann die Trennung Hämog-lobin nicht verzeichnete. Aber es kommt noch schlimmer: Bläu-epilz, Gli-azelle, Foli-oformat! Was sind denn diese Epilze, Azellen und Oformate? Die wenigen, die bei ihren Fachstudien auf den altiranischen Kulttrank Haoma stoßen, werden wohl wissen, daß die neueingeführte Trennung Ha-oma schlicht absurd ist; niemand hat danach gerufen, keiner kann sie gebrauchen. Zigtausende von völlig überflüssigen und sinnstörenden Trennungen überziehen das ganze Wörterbuch mit einem Schleier der Lächerlichkeit. Das paßt freilich zum Gesamteindruck. Das vorliegende Wörterbuch ist trotz kleiner Ansätze zum „unumgänglich notwendigen“ Rückbau der Rechtschreibreform ein würdiger Vertreter der unfaßbaren Torheit, die den gegenwärtigen Zustand der deutschen Lexikographie und darüber hinaus der gesamten deutschen Schriftsprache nach dem beispiellosen staatlichen Eingriff kennzeichnet.