DUDEN: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim u. a. 1999.

von Theodor Ickler

Die Neubearbeitung dieses Werkes unterscheidet sich vom achtbändigen Vorgänger hauptsächlich durch zwei Neuerungen. Zum einen hat nun jedes Stichwort eine neue Zeile bekommen, was neben der nicht sehr erheblichen Erweiterung des Stichwortbestandes den vergrößerten Umfang erklärt; zum zweiten wurde das Werk „in neuer Rechtschreibung verfasst“. Obwohl es sich keineswegs um die amtliche Neuregelung handelt, war die sogenannte Rechtschreibreform der einzige Grund, warum das Werk sofort nach dem Abschluß der zweiten Auflage völlig umgearbeitet werden mußte. Daher sollen die Folgen der orthographischen Umstellung im Mittelpunkt dieser Besprechung stehen.

Die zwischenstaatliche Rechtschreibkommission war bekanntlich schon im Dezember 1997, also lange vor dem Inkrafttreten der Neuregelung, zu der Einsicht gelangt, daß wesentliche Korrekturen an der Reformvorlage „unumgänglich notwendig“ seien. Da die Kultusminister und besonders das Bundesinnenministerium jedoch darauf bestanden, die Reform ohne jede Änderung in Kraft zu setzen, gerieten die Reformer in eine peinliche und die Wörterbuchverlage in eine geradezu existenzgefährdende Lage. Es sprach sich nämlich herum, daß die Reform keinesfalls Bestand haben werde; Hausorthographien der Zeitungsverlage und Nachrichtenagenturen sprossen aus dem Boden, und der gesamte Wörterbuchmarkt bis hin zu den Enzyklopädien brach nach der kurzen Blüte des Jahres 1996 nahezu völlig zusammen. Das Haus Duden hatte jedoch beschlossen, gleichsam alles an die Front zu werfen, das heißt sämtliche Verlagsprodukte so schnell wie möglich auf die Neuschreibung umzustellen und sogar jede Erinnerung an die immerhin auch für die Schulen noch bis 2005 gültige und in der Literatur weiterhin fast ausschließlich gebrauchte Orthographie auszulöschen. Als einzige lassen daher die Dudenbücher nicht mehr erkennen, wie bisher geschrieben wurde und in der seriösen Literatur weiterhin geschrieben wird.

Hinter den Kulissen ging allerdings die Reform der Reform ihren Gang. Die Rechtschreibkommission lud ihre Freunde und Geschäftspartner zu zehn exklusiven Gesprächsrunden ein und teilte ihnen mit, wie die Neuregelung auszulegen und welche Veränderungen in der nächsten Zukunft zu erwarten seien. Nur aus den soeben erschienenen Neubearbeitungen der Bertelsmann-Rechtschreibung, des Bertelsmann-Wahrig und eben des Großen Wörterbuchs von Duden können andere Interessierte (auch potentielle Mitbewerber auf dem Wörterbuchmarkt) also erfahren, was die Kommission plant.

So sah man bereits im neuen Bertelsmann-Wahrig, daß schwerbehindert und ähnliche Wörter – entgegen dem klaren Wortlaut der amtlichen Regelung – wieder zusammengeschrieben werden. Auch eine lange Reihe von Wörtern wie aufsehenerregend wurde wiederhergestellt, nach Bertelsmann-Wahrig wenigstens im Falle der Steigerung (womit solche Monstrositäten wie noch Aufsehen erregender, am Aufsehen erregendsten vermieden werden), nach dem vorliegenden Wörterbuch ohne jedes Wenn und Aber. Hatte der Rechtschreibduden vielsagend und vielversprechend aufgelöst, so wollte der neue Bertelsmann-Wahrig sie „auch“ wiederzulassen; Dudens Großes Wörterbuch kennt schon gar nichts anderes mehr. Das sind erhebliche Abweichungen von der amtlichen Vorlage. Irgendwann werden die Kultusminister sich zu dieser auf kaltem Wege durchgeführten Reform der Reform bekennen müssen, denn die Diskrepanz muß den Lehrern und anderen professionell mit Rechtschreibkorrektur Befaßten allmählich störend auffallen.

Der Rechtschreibduden brachte in vielen Millionen Bänden die Fehldeutung unters Volk, wiedersehen und ein Dutzend ähnliche Wörter müßten nach der Neuregelung getrennt geschrieben werden. Das Große Wörterbuch stellt natürlich fast alle diese Verben wieder her. Nur wiederaufnehmen, wiedereinführen, wiederherrichten und ein paar andere sind aus unerfindlichen Gründen noch nicht wiederhergestellt; aber das ist sicher nur eine Frage der Zeit. Immerhin ahnt man, warum der Rechtschreibduden nicht längst in einer korrigierten Neuauflage erschienen ist: Die Käufer der ersten Auflage würden alsbald merken, daß sie vom marktbeherrschenden orthographischen Leitwörterbuch eine untaugliche Version, sozusagen einen Fehldruck erworben haben. Was dagegen in den Tiefen eines wenig verbreiteten zehnbändigen Werkes verborgen ist, fällt bei weitem nicht so auf.

Zu den Wörtern, die nach der Reform besonders uneinheitliche Darstellungen in den Wörterbüchern gefunden haben, gehören die Zusammensetzungen mit wohl-. Die Rechtschreibkommission hat es sich daher besonders angelegen sein lassen, die Wörterbuchverlage auf eine einheitliche Linie zu verpflichten. In der Tat sind die Abweichungen zwischen dem neuen Bertelsmann-Wahrig und dem vorliegenden Wörterbuch geringer geworden. Ganz verschwunden sind sie nicht. Schwer zu verstehen ist, warum die Redaktion nun anders als noch beim reformierten Rechtschreibduden die Getrenntschreibung wohl riechend, wohl schmeckend eingeführt hat. Aus der Darstellung ergibt sich, daß die Bearbeiter folgende Steigerungsformen annehmen: wohl schmeckend, besser schmeckend, bestschmeckend. Das ist abwegig. besser riechend, besser schmeckend sind Komparative von gut riechend, gut schmeckend. Im Rechtschreibduden finden wir ganz richtig: wohlriechend: noch wohlriechendere Blumen; wohlschmeckend: die wohlschmeckendsten Speisen. Band 9 des Großen Duden („Richtiges und gutes Deutsch“) lehrt auch nach der Reform noch: „Die Vergleichsformen lauten wohlschmeckender, wohlschmeckendste.“ Es fällt auf, daß das neue Wörterbuch diese geläufigen Vergleichsformen gar nicht mehr anführt; in den vom Vorwort erwähnten „mehreren Millionen Belegen“ sowie „umfangreichen elektronischen Textkorpora“ scheinen sie nicht ein einziges Mal vorzukommen. Übrigens muß das wohlriechende Veilchen nicht nur zum wohl riechenden werden, sondern, da botanische Namen groß zu schreiben sind, zum Wohl riechenden Veilchen. Das wird nicht nur die Botaniker begeistern. Zur Botanik noch eine kleine Überraschung: Die Neuschreibung Ständelwurz für die als potenzsteigernd geltende Stendelwurz ist – Ständer hin, Ständer her – einfach wieder gestrichen.

Gegen die eindeutschenden Schreibweisen Typografie und Topografie wäre eigentlich wenig einzuwenden, wenn man einmal von der allzu feinsinnigen, wenn auch folgenlosen Unterscheidung absieht, daß jenes „Hauptvariante“, dieses „Nebenvariante“ sein soll. Überraschenderweise wird beides zurückgenommen; es heißt Typographie und Topographie, basta.

Wörter wie schwerbehindert, schwerbeschädigt sind wiederhergestellt, und zwar unter dem Vorwand, sie seien „Amtsspr.“. Allerdings soll es weiterhin schwer kriegsbeschädigt heißen, und in allen diesen Fällen kommt es bei Substantivierung unerklärterweise zur Zusammenschreibung: der Schwerkriegsbeschädigte; schwer krank, der Schwerkranke usw. Der Trick, eine Schreibung als „amtssprachlich“ zu erklären und damit der Reform zu entziehen (weil Fachsprachen grundsätzlich der Reform nicht unterworfen werden sollen), überzeugt ohnehin nicht. So ist der Ausdruck Rechtens sein gesetzes- und rechtssprachlich wie nur irgendeiner; gleichwohl soll er nur noch klein geschrieben werden. Apropos: Die Kleinschreibung hungers [sterben], ein vielgerühmtes Glanzstück der Reform, ist gestrichen, es heißt wie bisher Hungers sterben. Schon der neue Bertelsmann-Wahrig hatte keinen eigenen Eintrag hungers, sondern brachte die Neuschreibung nur beiläufig beim Substantiv Hunger unter.

Die bisherige Rechtschreibung wird zwar tunlichst totgeschwiegen, aber insgeheim wirkt sie doch noch fort. Sonst wäre nämlich gar nicht zu verstehen, warum die Einträge der Wortgruppen wohl riechend usw. genau dort eingeordnet sind, wo zuvor die unzerhackten Wörter standen. Das heißt, man weiß ganz genau, daß der Benutzer diese Einheiten des deutschen Wortschatzes zu finden erwartet. Irgendwie scheinen sie doch noch zu existieren.

Nun zu einem besonders betrüblichen Kapitel. Wie erwähnt, beruft sich das Wörterbuch auf „authentisches Quellenmaterial“. „Es wertet mehrere Millionen Belege aus der Sprachkartei der Dudenredaktion sowie umfangreiche elektronische Textkorpora aus.“

Der Sinn der Belege war schon in der vorigen Auflage unklar. Unter Violine steht zum Beispiel: „Ein Mann mit einer V. stellte sich am Rande des Bürgersteigs auf und begann zu spielen (Remarque, Triomphe 156)“. Was erfährt man daraus? Der Nachweis, daß es dieses Wort gibt, ist überflüssig. Um einen Erstbeleg handelt es sich natürlich nicht, und besondere Kollokationen werden auch nicht dargeboten. Die angeführte Verwendung ist vollkommen unspezifisch und daher ohne Wert.

In der Neubearbeitung kommt jedoch noch etwas Neues, Unerhörtes hinzu. Das „authentische Quellenmaterial“ wird keineswegs in seiner authentischen Form angeführt, sondern nach den Maßgaben der Rechtschreibreform umgeschrieben. Dabei geht die Redaktion weit über die Änderung von ß in ss hinaus; sie greift in die Grammatik und Semantik der Texte ein.

Zu wohlbehütet hieß es im Achtbänder: „Sie hatte eine wohlbehütete Kindheit genossen (Jaeger, Freudenhaus 171)“. Die Neuauflage bringt dieselbe Stelle als Beleg für getrennt geschriebenes wohl behütet: „Sie hatte eine wohl behütete Kindheit genossen (Jaeger, Freudenhaus 171)“. Zu wohldurchdacht: „bald wurde deutlich, daß er eine wohldurchdachte Konzeption vortrug (Heym, Schwarzenberg 39)“. Neuauflage: eine wohl durchdachte Konzeption. Nicht einmal dem Altbundespräsidenten nutzt es etwas, daß er geschrieben hat: „ein Verständnis von Kultur, das uns aus der deutschen Geistesgeschichte wohlvertraut ist (R. v. Weizsäcker, Deutschland 104)“. Sein eindeutiger Text muß in der Neuauflage als Beleg für zweideutiges wohl vertraut herhalten.

Anna Seghers schrieb von blaugewürfeltem Wachstuch, Thoman Mann von tiefliegenden Augen, Hans Hellmut Kirst von gutgewachsenen Beinen, Gerhart Hauptmann von einer schwarzgeränderten Anzeige, Arnold Zweig von hochgestellten Vorgesetzten; unser Wörterbuch weiß es besser: blau gewürfelt, tief liegend, gut gewachsen, schwarz gerändert, hoch gestellt muß es nach dem Willen der Kultusminister heißen, und so wird es zitiert. Der Benutzer muß aus den „Belegen“ schließen, daß die verordnete Getrenntschreibung, d. h. die Auflösung der Komposita, in der deutschen Literatur wohlbegründet sei – eine klare, geradezu orwellsche Verfälschung der Wirklichkeit.

Das Verfahren betrifft noch andere Gebiete der Sprache. Wer sich kundig machen will, ob die volksetymologische Neuschreibung Zierrat (mit Anlehnung an Rat) literarisch belegbar ist, stößt neben Christoph Ransmayr auf Max Frisch, der – als gelernter Architekt! – diese ignorante Schreibweise benutzt haben soll. In der vorigen Auflage waren jedoch beide Stellen als Beleg für die richtige Schreibweise Zierat angeführt. Statt mit Hilfe soll die „Welt“ schon 1977 mithilfe geschrieben haben, der „Spiegel“ gar Tipp im Jahre 1966; es stimmt aber gar nicht. Horst Stern schrieb substantielle Nahrung, daraus wird substanziell. „Die Unvermeidlichkeit des Bestehenden hatte ihr angst gemacht (Chr. Wolf, Nachdenken 92)“. Neuauflage: hatte ihr Angst gemacht. Christa Wolf schreibt auch dutzendmal, zitiert wird Dutzend Mal. Hochhuth: aufs tiefste beschämt, Duden: aufs Tiefste beschämt. Es macht einen Unterschied, ob Handke und Ransmayr wirklich im Voraus geschrieben haben, wie man jetzt lesen muß, oder im voraus, wie es in der vorigen Auflage stand und allgemein üblich ist. Hermann Bausinger, selbst Germanist, schrieb selbständig; ebenso Frau Dönhoff. Duden macht daraus selbstständig – nicht nur eine andere Schreibung, sondern ein anderes Wort, von dem nicht sicher ist, daß Bausinger und Dönhoff es verwendet hätten. Die törichte Neuschreibung im Wesentlichen wird der Zeitschrift „Natur“ von 1991 untergeschoben, das nicht minder törichte des Weiteren Patrick Süskind: „dass man ihn des Weiteren nicht belästigte“. Marion Gräfin Dönhoff schreibt angeblich im Klaren sein und der so genannte Leihwagen-Prozess, Thomas Mann des Öfteren, Willy Brandt unter der Hand – alles frei erfunden. Edgar Hilsenrath soll geschrieben haben: „Er hat den armen Kerl so windelweich gehauen, dass er mir fast Leid getan hat“! Hier hört der Spaß endgültig auf, da Leid tun grammatisch falsch ist (vgl. so Leid es mir tut) und es nicht hingenommen werden kann, daß ernstzunehmenden Schriftstellern grammatische Schnitzer angedichtet werden.

Auch wo es „nur“ um die Schreibweise geht, sind die Eingriffe durchaus nicht gleichgültig. Bei Barbara Frischmuth föhnt jemand das Haar; die vorige Ausgabe des Wörterbuchs hatte noch fönt. Botho Strauß schreibt Phantast, die Neuauflage zitiert in der Form Fantast. Ob Strauß damit einverstanden wäre? Luis Trenker schrieb Wächte, Duden weiß es wiederum besser: Wechte hätte er schreiben müssen. Jeder Beleg mit überschwenglich ist in überschwänglich geändert. Da die Handvoll nicht mehr existiert, heißt es jetzt bei Erich Loest tatsächlich eine Hand voll Häuser auf einem Wiesenteller. Angeblich wurde schon vor zwanzig Jahren regelmäßig rau, so genannt und 15-jährig geschrieben, so daß dies gar keine Neuerungen der Reform wären. Sämtliche Schriftsteller von Jean Paul über Kirst und Kreuder bis in die Gegenwart haben laut Duden immer nur schnäuzen geschrieben! Die Frommsche Wohnungstür (Fallada) wird zur frommschen. All diese Fälschungen sollen beim Leser den Eindruck erwecken, die Neuschreibung sei in Wirklichkeit die hergebrachte, von großen und kleinen Autoren längst geübte.

Unerwünschte Belege, die in der achtbändigen Ausgabe des Wörterbuchs angeführt waren, werden in vielen Fällen kurzerhand gestrichen. Zum Beispiel hieß es unter wohlbedacht: „Wohlbedacht leitete er aus diesem Grunde mit einem Vorbericht des Verfassers die Erzählung ein (NJW 19, 1984, 1093).“ Das Wort ist jetzt getilgt und mit ihm der Beleg, ebenso der Beleg zu wohlbegründet, wohlüberlegt und wohlschmeckend: „die Salzwasserforellen erwiesen sich als sehr wohlschmeckend (NNN 11.11.85)“. Hier hat die Redaktion offenbar nicht gewagt, in sehr wohl schmeckend zu ändern. Aber was ist aus den gesteigerten und intensivierten Vorkommen von wohlschmeckend überhaupt geworden? Gibt es sie nicht mehr? – Bisher wurde voll mit zahlreichen Verben verbunden, und die vorige Auflage hatte Dutzende von Belegen mit vollkotzen, vollsaugen, vollstellen usw. Sie sind allesamt gestrichen. Korpus hin, Korpus her – wenn die Kultusminister anordnen, daß es solche Wörter nicht mehr gibt, dann haben sie auch in der Vergangenheit nie existiert; Duden beweist es durch Auswertung seines „authentischen Quellenmaterials“. Besonders schlimm hat es die sogenannten trennbaren Verben mit aneinander, aufeinander, auseinander usw. getroffen. Betrachten wir ein Beispiel: In der vorigen Auflage waren rund 40 Verben mit auseinander- angeführt und durch rund 65 Belege erläutert. Sie sind mitsamt den Belegen gestrichen. Das Millionenkorpus scheint überhaupt keine Beispiele für auseinandersetzen usw. zu enthalten. Es gibt zwar alle diese Fügungen noch mit Getrenntschreibung, aber sie lassen sich, wenn man der Dudenredaktion glaubt, durch kein einziges Zitat belegen. Ebenso wurde mit aneinander, aufeinander, zueinander usw. verfahren, so daß insgesamt Hunderte von unliebsamen Belegstellen verleugnet werden. Der Vorsatz des Werkes, „die deutsche Sprache in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu dokumentieren“ und „den Wortschatz so vollständig und so exakt wie möglich“ zu beschreiben, klingt angesichts dieser Fälschung wie Hohn.

Manchmal scheint die linke Hand nicht zu wissen, was die rechte tut. Die Dudenredaktion hat, wie gesagt, jahrelang geglaubt, wiedererkennen und wiedergeboren würden infolge der Neuregelung getrennt geschrieben. Davon rückt das Wörterbuch zwar nun ab, aber einige Belege werden dennoch im Sinne der Fehldeutung verfälscht: Elfriede war nicht wieder zu erkennen; ... wieder geboren zu werden – Überraschenderweise ist zufriedenstellend als Eintrag noch erhalten, während es unter zufrieden aufgelöst wird. warmhalten gibt es noch als eigenen Eintrag, aber unter warm wird es getrennt. In einem Beleg unter von stößt man auf wohlschmeckend, das es ja nach den jüngsten Erkenntnissen der Redaktion nicht mehr gibt. vielsagend und vielversprechend sollen wieder zusammengeschrieben werden, aber unter viel sind sie noch getrennt (vgl. auch viel versprechend unter Auftakt). Unter V-Mann liest man von Tips, die neuerdings zu Tipps werden müßten.

Als neue Quelle ist die „Woche“ hinzugekommen und wird ausgiebig genutzt, da sie wegen ihrer weit vorauseilenden Umstellung automatisch die „richtigen“ Beispiele liefert. Die zweite umgestellte Ausgabe der „Zeit“ (17. Juni 1999; so weit reichen die Belege an das Erscheinungsdatum des Wörterbuchs heran) dient dazu, den Austriazismus zurzeit als die einzige in Deutschland übliche Form nachzuweisen; zur Zeit hat es nie gegeben.

Die Täuschung des Benutzers hat Methode. Wie schon im reformierten Rechtschreibduden spricht die Redaktion von den nach wie vor gültigen Schreibweisen als „früheren“ Schreibweisen und behauptet in der Einleitung sogar ausdrücklich, diese Schreibweisen seien „nicht mehr gültig“, obwohl sie in der Schule noch bis 2005 gültig sind und außerhalb der Schule, wie auch das Bundesverfassungsgericht bekräftigt hat, ohnehin niemand gezwungen werden kann, die neuen Schreibweisen zu übernehmen. Im Anhang haben die Hauptmatadore der Reform einen propagandistisch gefärbten Abriß der Neuregelung untergebracht, der alle Probleme sorgfältig umgeht.

Werfen wir noch einen Blick auf die Silbentrennung: Das eher marginale Gebiet hat sich ja zum zentralen Problem der Neuregelung entwickelt. Schon frühzeitig bekämpften sich die Wörterbuchverlage mit dem Argument, der jeweils andere führe nicht sämtliche neuerdings zulässigen Trennungen an (Ob-struktion, Obs-truktion, Obst-ruktion). Der Rechtschreibduden erklärte, er gebe „nur die Variante an, die von der Dudenredaktion als die jeweils sinnvollere angesehen wird.“ Besonders sinnvoll erschienen dem Duden: Anas-tigmat, Emb-lem, Emb-ryo, Emig-rant, E-nergie, E-pis-tyl, Lac-rosse, Me-töke, Monoph-thong, monos-tichisch, Pen-tathlon, Prog-nose, Katam-nese, Tu-ten-cha-mun und viele tausend ähnliche Trennungen, die man nicht einmal mehr als laienhaft bezeichnen möchte. Es ist unplausibel, daß jemand solche bildungs- und fachsprachlichen Wörter benutzen und zugleich so wenig von ihrem Aufbau wissen sollte, daß er sie nach Metzgerart zerlegen müßte. Das neue Wörterbuch verfährt uneinheitlich. Einerseits wird bei An-astigmat das (erste) Negationspräfix erkannt, andererseits schreitet die Trennung unorganisch fort: as-tigmat, obwohl unter as-tigmatisch der Hinweis auf Stigma nicht fehlt. Ebenso wird anas-tatisch getrennt, obwohl gleich dahinter die Herleitung (ana + statikos) zu finden ist. Dagegen wird demselben Benutzer zugetraut, daß er An-azidität ohne weiteres durchschaut. Im Grunde wäre es sogar einfacher, die griechischen Elemente a-/an- (Negation) und ana (Präposition), die ja in zahllosen Fremdwörtern vorkommen und bei der ungemein produktiven Lehnwortbildung eine Rolle spielen, stets gleich zu behandeln. Es würde die Durchsichtigkeit der ganzen Gruppe erhöhen. Hie-ro-gly-phe wird anders getrennt als Hi-e-ro-gramm und alle anderen Wörter mit demselben Erstglied. Das Element hypo- wird in rund hundert Einträgen sachgerecht abgetrennt, aber sobald die Buchstabenverbindung st in Sicht kommt, rasten die Neuschreiber aus: Hypos-tase usw.

Der feministische Tick führt wie schon in der vorigen Auflage dazu, daß männlichen Personenbezeichnungen mechanisch eine weibliche Form zur Seite gestellt wird. So finden wir Videopiratin, Viehtreiberin, Vitalistin, Vizeadmiralin, Vogelhändlerin usw. – offenbar ohne Rücksicht darauf, ob diese Wörter im Textkorpus überhaupt vorkommen. Ein Wörterbuch hat jedoch, anders als die Wortbildungslehre, nur die belegten Wörter zu dokumentieren; andernfalls kann es die Frage nach dem tatsächlichen Wortschatz nicht beantworten.

Die Neuausgabe ist ungeachtet der neuen Zeilenaufteilung schwer lesbar. Das liegt hauptsächlich an der überaus kleinen und dünnen Schrift. Hinzu kommt das Verfahren, das jeweilige Stichwort in den Belegzitaten bis auf einen winzigen Rest abzukürzen, der nicht gleich in den Blick fällt; so etwa unter Videokonferenz: „Die neue Technologie verwandelt die immer schnelleren Personalcomputer in Kommunikationsgeräte, mit denen man elektronisch Post austauschen, -en halten oder über die Distanz am Bildschirm gemeinsam Dokumente bearbeiten kann“. (Das Beispiel zeigt auch noch einmal, wie unergiebig solche Belege sind.)

Das Gesamturteil über die Neuauflage fällt nicht schwer. In den traditionellen Bereichen der grammatischen und semantischen Darstellung hat die erfahrene Redaktion gute Arbeit geleistet, und die Auswahl der Stichwörter ist immerhin annehmbar, auch was die Aktualität betrifft. Die von den Kultusministern angeordnete Verwahrlosung der Orthographie hat jedoch zu einer bisher undenkbaren Verrohung der lexikographischen Sitten und des wissenschaftlichen Ethos geführt. Ein Historiker oder Philologe, der die Quellen verfälscht, um sie einer bestimmten Deutung gefügig zu machen, tut dasselbe wie der Naturwissenschaftler, der seine Daten fälscht; man nennt es Wissenschaftsbetrug und ächtet den Täter.

Im Vorwort findet man eine bemerkenswerte Selbsteinschätzung: „Dieses Wörterbuch ist zugleich ein Spiegelbild unserer Zeit und ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse.“ So ist es wohl, leider.