Rhein-Neckar-Zeitung, 22.4.2000

Kommentar zum zweiten Bericht der Rechtschreibkommission

von Theodor Ickler

Ende März 2000 wurde der zweite Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung freigegeben, nachdem die deutschen Kultusminister ihn „zustimmend zur Kenntnis genommen“ hatten.

Der Bericht umfaßt nur vier Seiten (gegenüber fast 70 Seiten des ersten Berichts vom Dezember 1997). Die Kommission bringt mehrmals ihre Frustration darüber zum Ausdruck, daß sie die damals vorgeschlagenen und teilweise sogar für „unumgänglich notwendig“ erklärten Korrekturen am Regelwerk nicht durchführen durfte. Sie habe sich daher „zunächst“ darauf beschränken müssen, für die einheitliche Umsetzung der - wenn auch teilweise als falsch erkannten - neuen Regeln durch die Wörterbuchmacher zu sorgen. Außer Beratungsrunden mit den Wörterbuchverlagen, Softwareherstellern und Nachrichtenagenturen werden sechs mehrtägige Arbeitssitzungen der gesamten Kommission sowie eine nicht genannte Zahl von Gruppensitzungen erwähnt. Leider erfährt man nicht, was auf all diesen Tagungen beraten wurde und was dabei herausgekommen ist. In den letzten zwei Jahren war auch auf Anfrage niemals zu erfahren, worüber die Kommission verhandelt und welche Beschlüsse sie gefaßt hat; dies wurde offenbar nur den befreundeten Wörterbuchverlagen (zugleich Geschäftspartner einiger Kommissionsmitglieder) mitgeteilt. Daß die Kultusminister einen so unvollständigen Bericht „zustimmend zur Kenntnis genommen“ haben, ist erstaunlich.

Ihre besondere Verbundenheit mit dem Bertelsmann-Verlag bringt die Kommission durch ausdrückliche und ausschließliche Nennung des überarbeiteten Bertelsmann-Rechtschreibwörterbuchs (April 1999) zum Ausdruck. „Die anderen Wörterbücher werden so bald als möglich folgen.“ Um so auffälliger ist übrigens das Zögern des Hauses Duden, das zwar im zehnbändigen „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“ eine stark veränderte Version der Reformschreibung vorlegte, bisher aber keine korrigierte Neufassung ihres marktführenden Leitwörterbuchs, des eigentlichen Rechtschreibdudens, herausbrachte, obwohl die Ausgabe von 1996 den kapitalen Fehler der Getrenntschreibung von wiedersehen und zwanzig ähnlichen Verben enthält - die einzige Fehlinterpretation, die der Bericht, mit einem weiteren Seitenhieb gegen Duden, ausdrücklich für erwähnenswert hält. (Die Zusammenarbeit mit Bertelsmann scheint bis zur Bürogemeinschaft zu gehen: Eine Frage, die ich dem Geschäftsführer der Kommission vorlegte, wurde mit dem Hinweis gekontert, darauf habe mir die Bertelsmannredaktion ja schon geantwortet!)

Das Allerwichtigste wird verschwiegen: Die Kommission hat die seinerzeit untersagten, jedoch „unumgänglich notwendigen“ Korrekturen an den Kultusministern vorbei in die neuesten Wörterbücher hineingeschleust. Der neue Bertelsmann, der zehnbändige Duden und der einbändige Bertelsmann-Wahrig stellen mehr oder weniger konsequent, auf jeden Fall aber gegen den eindeutigen Wortlaut der amtlichen Neuregelung, die angemahnten Zusammenschreibungen bei Fällen wie aufsehenerregend, nichtssagend, schwerbehindert usw. wieder her. Den Kultusministern, die den Bericht gleichwohl „zustimmend zur Kenntnis genommen“ haben, wird hier blauer Dunst vorgemacht: „Im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung sowie im Bereich der Groß- und Kleinschreibung wurde Wert darauf gelegt, das Regelwerk konsequent anzuwenden und ihm zuwiderlaufende, lediglich als Zugeständnis an das Hergebrachte, Altgewohnte zu verstehende Schreibungen nicht zuzulassen.“ (Man beachte die illiberale Weise, bisher richtige Schreibweisen nicht bloß durch neue Vorschläge zu ergänzen, sondern streng für falsch zu erklären. Der kulturrevolutionäre Impuls, mit dem „Altgewohnten“ zu brechen, ist immer noch spürbar.) In Wirklichkeit kann von konsequenter Anwendung der Regeln keine Rede sein.

Interessant sind die Bemerkungen zur Silbentrennung, die sich ja entgegen den eigentlichen Vorsätzen zu einem Hauptproblem der Neuregelung entwickelt hat. Es sollen nicht mehr alle Trennungen, „obschon prinzipiell möglich“, in den Wörterbüchern vorgeführt werden. Man erinnere sich: Im Jahre 1996 prangerte der Reformer und Bertelsmannautor Zabel den neuen Duden gerade deshalb an, weil er nicht alle neuerdings möglichen Wortrennungen anführte. Wenig später mahnte der Geschäftsführer der Kommission, Klaus Heller (ebenfalls Bertelsmannautor), Trennungen wie Hämog-lobin an, was zufällig im Bertelsmann, aber nicht im Duden verzeichnet war. Die Neubearbeitung des Bertelsmann enthält diese und andere Absurditäten nicht mehr. Auch die Trennung vol-lenden ist aus den neuesten Wörterbüchern verschwunden, obwohl sie ausdrücklich im amtlichen Regelwerk (§ 112) vorgeschlagen wird. Um so rührender die Anhänglichkeit an Trennungen wie Res-triktion und Rest-riktion, nach denen nun wirklich im Zeitalter der automatischen Silbentrennung niemand gerufen hat. Elemente wie das griechische -klast sollen bei der Worttrennung erhalten bleiben - was immerhin eine bemerkenswerte Bildung bei Ratsuchenden voraussetzt, denen andererseits nicht zugetraut wird, einander oder herab morphologisch korrekt zu trennen. Man kann auch lange nachdenken über den Sinn von Trennungen, die „prinzipiell möglich“, aber so abwegig sind, daß sie nicht in die Wörterbücher aufgenommen werden sollten. Was ist das für eine Rechtschreibregelung, die vor ihren eigenen Konsequenzen zurückschreckt?

Die Ankündigung, man wolle überall auf „progressive“ Schreibweisen hinwirken, ist wohl ernst zu nehmen. Der Bericht selbst verwendet zum Beispiel die hybride Nebenvariante Orthografie, gegen die sich einzelne Kommissionsmitglieder entschieden verwahrt haben.

Der Bericht geht kurz auf die Neuschreibung der Nachrichtenagenturen ein, verschweigt aber die erheblichen Abweichungen dieser gemeinsamen Hausorthographie von der amtlichen Regelung. Der Sachverhalt, der die Kommission sehr verärgert hat, läßt sich nur indirekt erschließen, wenn über die Hausorthographie der „Zeit“ gesagt wird, sie gehe einen Mittelweg zwischen amtlicher Regelung und Agenturschreibung. Die Wiederkehr der Hausorthographien, im vorigen Jahrhundert das Hauptmotiv der Einigungsbemühungen, stellt der Neuregelung ein vernichtendes Zeugnis aus.

Im letzten Absatz (wo übrigens ein im Sinne der Neuregelung obligatorisches Komma fehlt) wird vage in Aussicht gestellt, daß die Kommission weiter an den seinerzeit abgelehnten Korrekturen arbeitet und nach der Übergangszeit, also im Jahre 2005, eine neue Chance zu „Optimierung der Neuregelung“ zu bekommen hofft. (Nur hier wird das Wort „Korrektur“ verwendet, im ersten Bericht war es peinlich vermieden, und auch sonst hat die Kommission stets betont, nicht Korrektur, sondern nur „Verdeutlichung“, „Anpassung“ u. dgl. sei ihr Auftrag.) Daß eine Reform der Reform bevorsteht, verrät auch der dreimalige Gebrauch des Wortes „zunächst“ auf der ersten Seite. Von dem Beirat, der die Arbeit der Kommission begleiten soll, ist gar nicht die Rede, folglich auch nicht von der bemerkenswerten Tatsache, daß dieser Beirat nur von Deutschland getragen wird und die Renationalisierung der Orthographie damit bereits begonnen hat.

Inzwischen mehren sich die Anzeichen, daß die Rechtschreibreform das Jahr 2005 nicht erleben wird. Nachrichtenagenturen und Zeitungen arbeiten am weiteren Rückbau, so daß sich die Frage stellt, wie lange die deutschen Schulen noch auf ihrer orthographischen Insel ausharren können, ohne ihrem Bildungsauftrag in nicht mehr verantwortbarer Weise zuwiderzuhandeln.

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