Schreibänderungen - Bedeutungsänderungen

Brief an den Schüler eines Bonner Gymnasiums der 8. Klasse,
9.6.99


Lieber Fritz (Name geändert),

es ist sehr schön, daß Du im General-Anzeiger vom 27.5.99 in der Sonderbeilage: „Extra Klasse, Ergebnisse des Projektes: Schüler lesen Zeitung“ einen eigenen Artikel geschrieben hast, und zwar zur Rechtschreibreform. Du informierst Deine Leser, daß Ihr die neuen Regeln schon eine Weile anwendet, daß sie aber erst ab 2005 verbindlich sein sollen. Ja, die Kultusminister haben das für die Schulen so angeordnet und dementsprechend auch für die Schulbücher. Aber alle Erwachsenen dürfen weiterhin so schreiben wie bisher, das steht ausdrücklich im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Juli 1998. Wenn dennoch Ämter und Behörden, manche Verlage und die Nachrichtenagenturen und auch die Zeitungsverlage umstellen, dann geschieht das auf freiwilliger Basis. Nur ist es leider so, daß viele von ihnen offenbar gar nicht wissen, worauf sie sich da einlassen.

Du schreibst richtig, daß die Mehrheit gegen die Reform ist, insbesondere auch in Eurer Klasse. Die Reformer haben zwar gesagt, daß das Schreiben jetzt leichter würde - aber das Gegenteil ist das Fall. Das haben Untersuchungen an Klassenarbeiten längst bewiesen. Warum ist das wohl so? Das zu erklären, ist ganz einfach.

Man muß bei der Reform zwei Hauptgruppen von Änderungen unterscheiden: solche (a), bei denen die Wortbedeutung sich nicht ändert, und solche (b), bei denen sich die Wortbedeutung durch die Neuschreibung ändert.

(a) Keine Änderung der Wortbedeutung

Ob man schreibt:
-   Schiffahrt oder „neu“: Schifffahrt,
-   Delphin oder „neu“: Delfin,
-   Meßergebnis oder „neu“: Messergebnis,

das ändert nichts an der Wortbedeutung und wäre theoretisch möglich. Schreibungen dieser Art sollte man aber aus anderen Gründen vermeiden:

- Wörter mit drei gleichen Konsonanten sind schwer lesbar (Schifffahrt). Daher empfehlen die Reformer, Schiff-Fahrt zu schreiben. Warum behält man dann nicht gleich nur die beiden Konsonanten bei?

- Änderungen in der Schreibung von ph zu f haben sich bisher natürlich entwickelt und sind in z.B. Foto inzwischen üblich. Man sollte so etwas nicht künstlich beeinflussen.

- Oftmals kann man Wörter mit Doppel-s schlechter lesen: Messer-gebnis, nein: es muß heißen: Mess-ergebnis. So sollte man auch die bisherige Regelung bezüglich des ß beibehalten.

(b) Änderung der Wortbedeutung

Unhaltbar jedoch sind die Änderungen der zweiten Art. Jedes Wort hat nämlich eine eigene Bedeutung. Das ist so selbstverständlich, daß man darüber meist gar nicht nachdenkt. „Tisch“ meint „Tisch“, „Sonne“ meint „Sonne“, aber bei „Tor“ ist es schon anders. Es gibt viele Wörter „Tor“, wie zum Beispiel: (Fußball-) „Tor“, (Eingangs-) „Tor“, (ein törichter Mensch) - ein „Tor“. Ein Tor schießen - das kann nur ein Fußballtor sein. Ein Tor öffnen - das kann nur ein Eingangstor sein. Der Tor hat Unsinn geredet - das kann nur ein törichter Mensch sein. Es ist also ganz leicht, zu begreifen, daß es oftmals Wörter gibt, die die gleiche Lautform (Tor) haben, die aber etwas anderes bedeuten. Außerdem wird aus den Beispielen sonnenklar, daß zwischen den Wörtern „Bedeutungsbeziehungen“ bestehen, das heißt, daß man - wenn der Satz sinnvoll sein soll, nur ganz bestimmte Wörter miteinander verknüpfen kann. Ein Fußballtor kann „keinen Unsinn reden.“ Man kann kein „Fußballtor öffnen.“ Bei diesen Bedeutungsbeziehungen ist es immer so, daß ein Wort Ausgangswort für andere abhängige Wörter ist.

Hierzu kann man auch gut Übungen machen. Einer nennt zum Beispiel ein Tätigkeitswort, ein anderer ein davon abhängiges Wort, ein Dritter ein Wort, das gerade nicht paßt. Richtig: öffnen > „Tür, Fenster, Dose, Schrank“; falsch: öffnen > *„den Wind, den Unfall, die Güte“. Solche Übungen können riesigen Spaß machen. Dadurch kann auch der Dümmste verstehen, daß jedes Wort auf Grund seiner Bedeutung nur ganz bestimmte andere Wörter mit sich verknüpfen kann. Sonst kommt Unsinn dabei heraus. Wichtig ist natürlich, daß auch die Grammatik stimmt. Die Wörter: „Tür, Fenster, Dose, Schrank“ sind von „öffnen“ abhängig, wenn man fragt: „was?“ öffnen, nicht aber, wenn man fragt: öffnen: "wer?", "für wen?" (*Die Tür öffnet ...; *Das Fenster öffnet ...; *Er öffnet für das Fenster ...; usw.). Die krausen Wortverbindungen bringen einen richtig zum Lachen. Ihr werdet gern auch zu Hause „Wörterfinden“ spielen, weil es solchen Spaß macht.

Wenn nun Wörter anders geschrieben werden, heißen sie oftmals etwas anderes.

- (In der Schule) sitzenbleiben wird zusammengeschrieben, aber (auf dem Stuhl) sitzen bleiben (= verharren) wird getrennt geschrieben. Neu soll hier nur noch getrennt geschrieben werden. Scherzhaft gesprochen: Man kann nicht mehr „sitzenbleiben“ (!).

- Schwerfallen meint: „Mühe machen“, aber schwer (= heftig) fallen ist doch etwas völlig anderes. Nach der Neuregelung soll hier nur noch getrennt geschrieben werden.

- Jeder kennt das Schwarze Brett als „Anschlagtafel“, neuerdings soll man klein schreiben: schwarzes Brett. Aber wir alle wissen: ein schwarzes Brett ist nur ein Brett, das schwarz ist (und nicht weiß oder blau oder rot).

Die Wörter sitzenbleiben, schwerfallen, Schwarzes Brett sollen also aus der Schriftsprache verschwinden - und viele, viele andere auch. Dadurch wird die Sprache ärmer und unsere Ausdrucksmöglichkeiten auch. Außerdem ist nicht einzusehen, warum mal zusammen, mal getrennt geschrieben werden soll: wohlgeformt, aber: wohl erhalten; wohlgesinnt, aber wohl durchdacht; wohlgenährt, aber wohl gemeint. Wo bleibt da die Logik? Wie soll sich das einer merken? Die Unterscheidung: „er ist wohlbekannt“ (man kennt ihn gut), aber: er ist den meisten „wohl (=wahrscheinlich) bekannt“ ist damit auch hinfällig, da nur noch die Getrenntschreibung gilt.

Wenn nun Schüler so völlig falsch schreiben sollen, also gegen jedes Sprachgefühl, dann ist es nicht verwunderlich, wenn sie mehr Fehler machen als vorher. Alle die, die aus Deiner Klasse gegen die Reform eingestellt sind, tun also recht daran.

Ihr habt sicherlich gehört, daß die Schüler in Schleswig-Holstein nicht mit der Neuregelung behelligt werden, weil dort die Bevölkerung mit Hilfe eines Volksbegehrens gegen den Erlaß der Kultusminister entschieden hat. Solche Volksbegehren sind auch in Berlin, Bremen, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern in die Wege geleitet. Wir Initiatoren gegen die Reform, zu der auch viele Lehrer, Eltern und Schüler gehören, hoffen, daß wir auch für Euch und die übrigen Schüler dadurch einen Stopp der Reform erreichen werden.

In der beigefügten „Wörterliste“ von Stephanus Peil findest Du einen Vergleich von Schreibweisen des bisherigen Duden mit denen des neuen Duden, wodurch die Unsinnigkeiten der Reformschreibungen sehr gut deutlich werden.

Ich wünsche Dir, Deinen Klassenkameraden, Eltern und Lehrern viel Freude mit und an der deutschen Sprache, die für jeden von uns die Grundlage für jedes weitere Wissen darstellt.

Herzliche Grüße an Euch alle

Dr. Maria Theresia Rolland