Das Orthographie-Chaos blüht

von Dr. Maria Theresia Rolland, Bonn 6.3.99

In bezug auf die Rechtschreibung „gilt“ die „amtliche Regelung“ keineswegs generell, sondern sie ist lediglich für Schulen verbindlich mit Ausnahme derer im Land Schleswig-Holstein, in dem ein Volksentscheid die Anwendung der Neuregelung verhindert hat. Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist niemand sonst gehalten, die Neuregelung zu verwenden. Wegen der völligen Unausgegorenheit und der zahlreichen Widersprüche im Regelwerk ist es außerdem nicht möglich, die Regeln korrekt und einheitlich umzusetzen. Wie sollte ein Normalbürger solch ein Regelwerk anwenden können, wenn schon Fachverlage damit überfordert sind? Allein zwischen Duden und Bertelsmann gibt es 8000 Schreibvarianten.

Nachweislich hat sich dann später Bertelsmann in den weiteren Ausgaben seines Rechtschreibwörterbuchs immer mehr dem Duden angeglichen. Die Geschenkaktion von 10.000 Bertelsmann-Rechtschreibwörterbüchern an die Schulen Schleswig-Holsteins in Kooperation mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Februar hat die Rechtsabteilung des Börsenvereins auf den Plan gerufen, die diese Vorgehensweise für „wettbewerbswidrig“ hält und Bertelsmann zu einer Unterlassungserklärung aufgefordert hat. Bevor im März ein neues Bertelsmann-Wörterbuch erscheine, habe der Verlag in einer beispiellosen „Ramschaktion“ auf Jahre den Markt verstopft, rügte der Sortimentbuchhandel. Darüber hinaus will der Duden die „Diffamierungen“ von Bertelsmann gegen sein kürzlich erschienenes „Praxiswörterbuch“, das statt der Varianten eine einheitliche Schreibweise „empfiehlt“, nicht hinnehmen und gerichtlich dagegen vorgehen.

Außer den die Neuregelung „irgendwie“ - nur nicht korrekt - umsetzenden insgesamt 11 Wörterbüchern von Duden, Bertelsmann, Wahrig, Aldi, Eduscho und so fort gibt es seit kurzem das Augstsche Wortfamilienwörterbuch, in dem Augst - obwohl Vorsitzender der Zwischenstaatlichen Kommission - das Regelwerk nicht so umsetzt, wie es die „amtliche Regelung“ erfordert, sondern so, wie es die Reformkommission in ihrem im Januar 1998 veröffentlichten Reformpapier verlangt - was die Kultusminister aber nicht gebilligt haben.

Als 13. Schreibweise präsentiert sich nunmehr die von den Nachrichtenagenturen zur Umsetzung ab 1.8.99 geplante Wörterliste, die so abenteuerliche Schreibweisen erfordert wie: du „Schluss folgerst“ (statt: du schlußfolgerst), etwas „beim Alten“ (= beim alten Herrn) lassen (statt: etwas beim alten lassen = beibehalten), das „frisch gebackene“ (= „soeben gegarte“) Ehepaar (statt das frischgebackene = soeben vermählte Ehepaar). Wünschen die Zeitungsleser wirklich diesen unsinnigen Neuschrieb? Nein! Bei zahlreichen Zeitungen haben langjährige Leser schon angekündigt, ihr Abonnement zu kündigen, wenn sie auf die Neuschreibungen umstellen. Außer diesen 13 Wörterbüchern mit den Falschschreibungen gibt es aber auch noch die bisherige korrekte Schreibweise, deren Beibehaltung von 80 Prozent der Bevölkerung gewünscht wird. Was die wenigsten wissen dürften: Der Duden in seiner 20. Auflage, die diese korrekte Schreibweise enthält, ist noch lieferbar.

Im übrigen sind zahlreiche Kritiker der Reform in über 50 Initiativen ununterbrochen tätig, die Bevölkerung bundesweit durch Artikel, Leserbriefe, Buchpublikationen, Vorträge, Podiumsdiskussionen, Flugblätter und in persönlichen Gesprächen über die sprachzerstörerische Wirkung der Neuregelung aufzuklären. Das Standardwerk von Professor Dr. Theodor Ickler: „Die sogenannte Rechtschreibreform. Ein Schildbürgerstreich“, ist schon in der 2. Auflage erschienen (Leibniz Verlag, St. Goar, 19,80 Mark), und „Die Wörterliste“ von Stephanus Peil, in der sehr instruktiv und eingängig Schreibweisen des bisherigen Duden mit denen des neuen Duden verglichen werden, gibt es sogar schon in der 10. Auflage (zu beziehen beim Leibniz-Verlag oder beim Autor: In den Gärten 5, 56457 Westerburg, Tel./ Fax: 02663/ 8593, Preis pro Heft 2.- Mark + Versandkosten). Sehr aufschlußreich und bezeichnend für die Diskrepanz zwischen Wort und Tat zahlreicher Verantwortlicher ist die Zitatensammlung von Ruta/ Ahrens: „Der nackte Keiser“, in der Befürworter und Kritiker zu Wort kommen (Leibniz Verlag, St. Goar, 6.- Mark).

Wenn die Bevölkerung von dem ihr vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigten Recht Gebrauch macht, die bisherige Schreibweise beizubehalten, wird die Reform wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.