Dr. Maria Theresia Rolland Bonn, den 1.8.1999

Zeitungsleser

Der 1.8.1999, und damit der Tag, an dem die meisten Zeitungen auf die neue Rechtschreibung umstellen, ist da. Es bleibt unerfindlich, warum die 11 Nachrichtenagenturen: AFP, AP, dpa, ddpADN, epd, KNA, Reuters, sid, vwd, APA (Österreich) und SDA (Schweiz) den Beschluß zur Umstellung gefaßt haben - sehr wohl wissend, daß bei der Neuregelung so manches im argen liegt. Daher übernehmen sie auch die Neuregelung nicht blind, sondern haben eine eigene Hausorthographie geschaffen, nach der sich der Einfachheit halber auch die Zeitungen richten - mit einigen löblichen Ausnahmen. Es sind dies in Deutschland alle 14 Zeitungen des schleswig-holsteinischen Zeitungsverlages (geschätzte Auflage 500.000) sowie die Neue Bildpost, in Österreich sind es: Die Presse, Die Ganze Woche, News, täglich Alles, tv-Media und Format. Darüber hinaus haben Gruner+Jahr sowie DIE ZEIT wiederum eigene Hausorthographien kreiert.

Begründungen für die Einführung der Hausorthographie der Nachrichtenagenturen kann man zur Zeit allenthalben lesen: “Teilweise weichen die Vereinbarungen auch von den offiziellen Regeln ab, um die Lesbarkeit sicherzustellen” (Stuttgarter Nachrichten, 28.7.99). “Wir wollten den Leser nicht verunsichern, ... . Und man wich, der Klarheit wegen, bei feststehenden Begriffen aus Adjektiv und Substantiv sogar von der offiziellen Neuregelung ab” (Sindelfinger Zeitung, 28.7.99). Die bisherige Rechtschreibung war also klar, lesbar und verunsicherte niemanden. Warum hat man sie dann umgestellt? Es ging offenbar gar nicht um die häufig angeführte sogenannte “Vereinfachung” für die Schüler. Karl Blüml, der Vertreter Österreichs in der Zwischenstaatlichen Kommission, klärt die Bevölkerung darüber auf (Ruta/Ahrens: Der nackte Kaiser. St. Goar: Leibniz Verlag, 1998, S. 50, DM 6.-): “Das Ziel der Reform waren gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlages in die staatliche Kompetenz zurückzuholen.” Hierzu erübrigt sich jeder Kommentar.

Die Hersteller von Computerprogrammen wittern ebenfalls das große Geschäft. Der Duden-Konverter überläßt dem Benutzer die Wahl bei mehreren Varianten. Andere Programme erlauben gleichzeitig alte und neue Schreibweise, wobei man daran arbeitet, daß der Computer die alte oder die neue Schreibweise erkennt. Allerdings haben die Programme zum Teil große Probleme mit kontextabhängigen Regeln, vor allem im Bereich Groß- und Kleinschreibung - was nach Aussagen der Firma SoftEX ein derzeit “noch nicht gelöstes Problem” darstellt. “Eine Korrektur nach den speziellen Regeln der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen ... sieht allerdings keines der bislang erhältlichen Produkte vor” (Frankfurter Neue Presse, 28.7.99).

Eine Befragung der Unternehmen zeigt, daß die Ablehnung gegen die Reform eher noch gestiegen ist. Eine Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer unter 350 Mitgliedsfirmen Ende 1998 hat ergeben, “daß über 91 Prozent der Betriebe die Übergangsfrist bis 2005 voll ausschöpfen wollen, 46 Prozent der Betriebe verweigern die Umstellung sogar völlig” (Dräger, 17.7.1999). Eine Befragung von 1000 Österreichern zur Rechtschreibreform durch das Meinungsforschungsinstitut spectra vom Februar 1999 ergab, daß von den “14 Prozent Anwendern der Reform” 4 von 10 dies gegen ihre Überzeugung tun. Bei einer TED-Umfrage des Berliner Senders 106,7 am 9.7.1999 sprachen sich von den über 3000 Anrufern 91,6 Prozent gegen die Reform aus. Eine Umfrage des “Nordbayerischen Kurier” hat gezeigt (28.7.99), daß bei Firmen und Behörden zum Teil eine Mischform aus alt und neu praktiziert wird, daß man sich im übrigen Zeit läßt bis 2005 und daß man speziell den Richtern beim Amtsgericht die Anwendung der Neuregelung “im Moment nicht vorschreiben” könne. In bezug auf die Zeit der Übergangsregelung von Mitte 1996 - Mitte 2005 wird bedauernd festgestellt, daß “die lange umkämpfte Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung ... für diese acht Jahre wieder verloren” ist (es sind 9 Jahre).

Auch wenn im einzelnen Artikel einer Zeitung die Anzahl der Änderungen gering sein mag - auf eine ganze Zeitungsseite und erst recht auf eine ganze Zeitung von 60 oder mehr Seiten bemessen, sind es über tausend. Aber auf die Anzahl kommt es nicht an. Jedes Wort, das aufgrund der Neuregelung schwer lesbar bzw. von der Bedeutung her falsch geschrieben ist und daher auch falsch verstanden wird, schafft Verwirrung und stört die Zufriedenheit des Lesers mit seiner ihm ansonsten liebgewordenen Zeitung. Der Beschluß der Nachrichtenagenturen ist von vornherein nicht auf Endgültigkeit angelegt, sondern auf Änderung. Heißt es doch, daß man die Entwicklung “beobachten” und ggf. “reagieren” wolle. Da die meisten Neuschreibungen schlichtweg falsch sind, weil sie gegen Semantik und Grammatik der Sprache verstoßen, ist eine Beobachtungsphase nicht vonnöten, man kann gleich “reagieren”.

Die Nachrichtenagenturen und die Zeitungen könnten also sehr schnell den Beschluß fassen, den Zeitungslesern ihr Vergnügen am Zeitungslesen durch Rückkehr zur bisherigen Schreibweise zurückzugeben. Die Bevölkerung hat sich eindeutig gegen die Reform ausgesprochen. Jetzt sind die Zuständigen an der Reihe, dem Unsinn der Reform nicht nachzugeben, sondern den Zeitungs”leser” zufriedenzustellen; denn die Schrift ist zum Lesen da. Einmal Geschriebenes wird tausendfach gelesen.