Camille Liebhäuser, Frankfurt am Main, 12.7.1999

Zur Manipulation von Leserbriefen der ZEIT seit deren Umstellung auf die ZEIT-Hausorthographie

Attacken auf die Schreibfreiheit

Wie die ZEIT Leserbriefe manipuliert

Seltsam. Seitdem die ZEIT auf ihre eigene Variante der neuen Rechtschreibung „umgestellt“ hat, schreiben alle Verfasser von Leserbriefen des Wochenblatts plötzlich so, als wären sie bedingungslose Anhänger der neuen deutschen Rechtschreibung. Weiß man jedoch, daß die weit überwiegende Mehrheit der Deutsch Schreibenden und Lesenden die neue Rechtschreibung kategorisch ablehnt, ihr zumindest skeptisch gegenübersteht oder sich nicht im geringsten für all den verqueren Neuschrieb interessiert, so stellt sich die Frage: Weshalb unterwerfen sich die lieben ZEIT-Leserbriefschreiber und -innen neuerdings diesem offensichtlich unwiderstehlichen Zwang, nur noch „dass", „gewiss", „selbstständig", „so genannte", „muss“ etc. pp. zu schreiben?

Der Grund ist einfach. Die ZEIT manipuliert die Leserbriefe, die ihren neuen Rechtschreibvorstellungen nicht entsprechen, und dies ab der Ausgabe Nr. 24, der denkwürdigen Umstellungsausgabe mit dem rein zufälligen Titel „Schocktherapie". Mit anderen Worten: Es findet von nun an eine bewußte, vorsätzliche und systematische „alphabetische Säuberung“ statt.

Soweit es sich um den redaktionellen Teil der ZEIT handelt, mag es Sache der für das Blatt Verantwortlichen sein, ihre Leser fürderhin mit der selbstgehäkelten Hausorthographie Dieter E. Zimmers zu strapazieren. Geht es jedoch um die Seite mit den Leserbriefen, so haben wir es mit der Freiheit unabhängiger Leserinnen und Leser zu tun: der aktiven Freiheit, selbstbestimmt und unbeeinflußt Leserbriefe in der ZEIT zu schreiben, und der entsprechenden passiven Freiheit, sich ein unverfälschtes Bild davon zu machen, was andere Leserinnen und Leser „wie“ in der ZEIT schreiben. Während Zimmer die offizielle neue Rechtschreibung nach eigener Einschätzung „vorsichtig repariert“ hat, werden die Leserbriefe, die es aus der neuen orthographischen Hausperspektive der ZEIT nötig zu haben scheinen, eher „unvorsichtig“ repariert. Denn selbst vor Zitaten, die in den Leserbriefen durch Anführungszeichen ausdrücklich als solche kenntlich gemacht wurden, macht der Regulierungseifer des reformentfesselten „Hausgeistes“ nicht halt (Beispiel: „Verschlusssache", Ausgabe Nr. 24, S. 68).

Findet das Rasenmäherprinzip also selbst schon im ansonsten allgemein respektierten Zitatschutzgebiet seine Anwendung, wirkt es natürlich ganz besonders peinlich, wenn die eifernden Verschlimmbesserer ihren unfreiwillig „verarzteten“ Autoren auch noch kuriose Eigenschreibungen des Hauses in den Text „hineinwürgen", die diese so vermutlich nie selbst formuliert hätten, oder eindeutig exotische Schreibweisen des jeweiligen Autors von den sprachpädagogisch besessenen Neosamaritern bewußt nicht „geheilt“ werden, sofern sie der „deplatziert“ innovativen ZEIT-Schreibweise entsprechen (Bsp. „Hohe Lied", Ausgabe Nr. 25, S. 56, das sowohl laut traditioneller Rechtschreibung wie auch gemäß offizieller Neuschreibweise zusammenzuschreiben ist, nach Neudeutsch allerdings (nur) in gebeugter Form - die im zitierten Fall nicht gegeben ist - getrennt geschrieben werden muß).

Worauf es zurückzuführen ist, daß die ZEIT sich in der heiklen Frage der neuen, umstrittenen Schreibweisen gegenüber ihren Lesern in derart naßforschem Tabula-rasa-Auftritt präsentiert, bleibt unklar. Sie hat es bisher vorgezogen, sich zu dieser Frage einfach nicht zu äußern. Durfte nach der Umstellungsausgabe noch gemutmaßt werden, hier wäre in einer hektischen Produktionsphase die Leserbriefseite quasi aus Versehen und unbedacht in den elektronischen Konvertierungswolf geraten, so weist die konsequente Fortführung der neuen Praxis in den darauffolgenden Ausgaben eindeutig auf bewußte und gesteuerte Umtriebigkeit hin.

Fest steht, daß die sich als fürsorglich stilbetreuend gebende Interventionspraxis unerbeten und aufoktroyiert ist, und klar ist, daß damit eine nahezu undefinierbare, jedenfalls nicht mehr trennscharf unterscheidbare orthographische Gemengelage zwischen der „Originalfassung“ des Autors und der manipulierten und veröffentlichten Fassung des Leserbriefs produziert wird. Darüber hinaus wird dadurch eine systematische Vernebelung der urheberschaftlichen Zurechenbarkeit für die jeweilige „Schreibe“ bewirkt. Daß es damit aus der Perspektive des genasführten Lesers nicht mehr gelingen kann, Bock und Gärtner im üppig wuchernden Krautgarten der deutschen Orthographie voneinander zu scheiden, mag die ZEIT als nicht unerwünschen Nebeneffekt stillschweigend in Kauf nehmen.

Nach der frontalen Überraschungsattacke auf die Leser mußte die ZEIT jedoch auch damit rechnen, daß ihre schwarzen Sprachsheriffs bei ihren sprachschutzdienstlichen Sicherheitseinsätzen in zwei vorhersehbaren Szenarien besonders leicht in die Bredouille geraten könnten: im Falle des Umgangs mit unverbesserlichen Rechtschreibreformgegnern und im Falle der Behandlung unserer Großschriftsteller der literarischen Kragenweite Grass, Enzensberger, Walser beispielsweise.

In der Auseinandersetzung mit den Reformgegnern war zu berücksichtigen, daß bei dem hochkontroversen Thema Rechtschreibung gerade die in Frage stehenden Formalia den inhaltlichen Gegenstand darstellen, um den gestritten wird. Von vornherein mußte deshalb einkalkuliert werden, daß diejenigen, die in Rechtschreibfragen anderer Auffassung sind als die Herrschaften der ZEIT, sich deren anmaßendem Herr-im-Haus-Standpunkt nicht widerspruchslos unterwerfen würden. Des weiteren konnte davon ausgegangen werden, daß diese Klientel es nicht hinnehmen würde, ungefragt sprachlich abgebürstet, „entschmutzt“ vorzeigbar gemacht und anschließend wie in einem Zerrspiegel konvertiert „vorgeführt“ zu werden. Als es in der Ausgabe Nr. 27 unvermeidbar wurde, nun auch Leserbriefe von Reform- bzw. Hausreformgegnern abzudrucken, ging man größeren Konflikten bzw. gravierenden Havarien der jeweiligen Versionen wohlweislich aus dem Weg. Durch eine geschickte Selektion entsprechender Passagen läßt sich ein exzessives gestaltendes Eingreifen verhältnismäßig einfach vermeiden, zumal sich die Redaktionen üblicherweise vorbehalten, Leserbriefe abzudrucken bzw. zu kürzen. Frontale Kollisionen wie z. B. ein Konflikt um die Verwendung der kontroversen Schreibweise groß schreiben/großschreiben, die sich heute als untrüglicher Lackmustest für die jeweils gewählte Orthographievariante erweist, wurden tunlichst umschifft. (Die ZEIT hat sich im zitierten Beispiel dem unsäglich plumpen gegenseitigen Austausch des Sinns der jeweiligen Schreibweisen angeschlossen. Perverser kann Reform als chaotisches Verwirrspiel kaum mehr auf die Spitze getrieben werden.)

In die Verlegenheit, an den exquisiten Sprachbuketts unserer heimischen Sprachgrößen allzu exzessiv herumzuzupfen oder herumzurupfen, kamen die eifrigen Schriftschützer der ZEIT erst gar nicht so richtig. In der Ausgabe Nr. 27 war bereits Günter Grass allseits präsent. Hier hat man sich offensichtlich auf folgenden Kompromiß geeinigt: Grass wirft der ZEIT das weite Feld seiner im Interview gesprochenen wörtlichen Formulierungen zum Fraß vor, die ZEIT hält sich mit ihrer Konvertierungsmanie aus dessen Texten heraus. Daß Grass es sich bieten läßt, beispielsweise mit „dabei sein“ zitiert zu werden, wenn er „dabeisein“ meint, zeigt dabei wenig Fingerspitzengefühl, das man von ihm in dieser Frage wohl doch schon hätte erwarten dürfen, ist er schließlich einer der bekannteren Gegner der Rechtschreibreform. Offen bleibt, inwieweit der alte Kaschube sich mit seinem exklusiven Aquarell als Gruß an die ZEIT-Leser bewußt auch der ZEIT gegenüber für deren aufdringliche und gierige Vereinnahmungspraxis revanchieren wollte, indem er über den Scheiterhaufen abgebrannter Streichholzköpfe seinen Namen mit „Günter Graß“ pinselte.

Zurück aber zu den zahlreicheren einfachen Sterblichen: Wäre es von seiten der Redaktion nicht angebracht gewesen, zumindest vorsorglich darauf hinzuweisen, daß in der ZEIT neuerdings Leserbriefe „umgeschrieben“ werden, sofern diese mit dem „frisch gebackenen“ ZEIT-Geist kollidieren? Hat der Verfasser eines Leserbriefes in der ZEIT überhaupt einen Anspruch darauf zu verlangen, daß sein persönlicher Schreibstil gewahrt bleibt? Kann er dies der ZEIT gegenüber überhaupt wollen, und will die ZEIT dies überhaupt? Wie dem auch sei, in welches Licht ist die angeblich so liberale Redaktion der ZEIT durch ihre plumpen Manipulationspraktiken geraten?

Eine Redaktion, die ihren Lesern das Recht abspricht, sich in selbstgewählter schriftlicher Darstellung der Öffentlichkeit zu präsentieren, dokumentiert nicht nur ihren selbstherrlichen, autoritären Bevormundungscharakter, sie mißachtet darüber hinaus die persönliche Note des lebensgeschichtlich geprägten individuellen Ausdrucks ihrer Leser, spricht diesen das Recht auf eine historisch differenzierte Schreibkultur ab und gaukelt unbefangenen Lesern - und dabei nicht nur dem gesamten Ausland - die fiktive Scheinwelt einer sprachlichen Harmonie in der aktuellen orthographischen Landschaft vor, deren tatsächliche chaotische Verfassung in krassem Kontrast zu der von der ZEIT bewußt vorgespiegelten angeblich homogenen Rechtschreibidylle steht.

Die ganz überwiegende Mehrheit der Leser in der Bundesrepublik Deutschland schreibt heute nach wie vor gemäß den Regeln der alten, herkömmlichen Rechtschreibung - und dies mit Grund - und gerade nicht so, wie es sich Herr Zimmer und seine Adepten in die eigene Tasche lügen wollen. Vermutlich soll mit diesen lächerlich hilflos wirkenden Sprachsteuerungsversuchen nur darüber hinweggetäuscht werden, daß mit dem rücksichtslosen Einsatz der elektronischen Konvertierungsprogramme die vielzitierte „Gewöhnungsbedürftigkeit“ für die neuen Schreibweisen überhaupt erst eingeleitet werden soll.

Erzählt man staunenden Zuhörern im Ausland von diesen subtilen Überzeugungsmethoden im bundesrepublikanischen Blätterwald, begegnet man häufig spontanen Einschätzungen, eine solch eigenmächtige und selbstherrliche Veränderung des Schreibstils der Leser sei mit seriösem Journalismus nicht vereinbar, viel weniger noch mit einer freiheitlichen Presse. Im Inland will kaum einer etwas von der Rechtschreibreform hören, sucht man das Terrain nach juristischen Gegenmaßnahmen ab, dürfte dies wenig fruchten. Meinungsfreiheit und die Freiheit, sich über öffentlich zugängliche Quellen ungehindert zu informieren, der öffentliche Auftrag der Presse in den Pressegesetzen der Länder, all dies kommt im Zweifel dann eben letztlich doch nicht zum Zuge. Und eine Beschwerde beim Presserat, hätte die Aussicht auf Erfolg, wenn in den kommenden Wochen fast alle Tageszeitungen nachziehen werden - und es ganz genauso machen? Sind wir dann von heute auf morgen in die Horrorutopien von Orwell und Huxley „gebeamt"? Sehenden Auges wird uns der unappetitlichste Newspeak präsentiert - und all dies im Double-talk-Rat, so sei das doch alles viel einfacher. Und selbstverständlich kann jeder weiterhin so schreiben, wie es ihm beliebt. Freiheit, selbstverständlich, klar, überall - aber bitte . . . nicht bei uns . . . Seltsam.