Apar Singh
Ansichten eines ausländischen Germanisten, Physikers und ehemaligen Deutschdozenten:

Als ein langjährig im deutschsprachigen Raum lebender ausländischer Akademiker bin ich über den rapide wachsenden, verschiedenerorts im Internet sichtbar werdenden Widerstand gegen diese Verhunzung – man kann es kaum anders ausdrücken –; der deutschen Sprache höchst erfreut! Es hat zwar gedauert, aber endlich sind die Menschen aufgewacht und versuchen, sich gegen diese Obrigkeitswillkür zu wehren! Ich finde es beschämend, daß sogenannte demokratische Vertreter dieses Landes, angesichts seiner wilhelminischen und nationalsozialistischen Vergangenheit, überhaupt wagen können, sich so zu benehmen, als wären sie die rechtmäßigen Erben der wilhelminischen Adelsoberschicht (vielleicht sollte man sie öffentlich mit „von“ und „zu“ vor dem Nachnamen titulieren!) oder der „Führer“-Clique. Wieso dürfen vom Volke gewählte Kultusminister und ihre Kohorten ungestraft so tun, als würden sie schon am besten wissen, was für das unmündige Volk gut sei? Das kommt einem irgendwie allzu bekannt vor!

Ich bin selbst kein linguistischer Fachmann, aber jede(r) Gebildete kann und sollte ja zur Meinungsbildung die vorliegenden Expertisen zum Für und Wider in einer einem so nahegehenden Frage durchlesen. Nach der Lektüre u. a. der Ausführungen von Prof. Ickler und Prof. Jochems, und nachdem jetzt reichlich viele Fallbeispiele der widersprüchlichen Anwendung der RSR sowie der Verletzung des tieferen Sprachgefühls in gedruckter Form überall zu sehen sind, kann man sich nur wünschen, daß die Verantwortlichen bald ihren Irrtum einsehen und dem schriftlichen Chaos ein Ende setzen. Diese Sprach-„Weisung“ von oben hat überhaupt nichts zu tun mit der Konsensregelung von 1902, wie von Prof. Ickler glaubhaft nachgewiesen worden ist. Außerdem scheint sie eine gefährliche Verletzung der Sprachmuster (Tiefencodes), die lebenswichtig für die innere Systematik und weitere Entwicklungsfähigkeit jeder Sprache sind, darzustellen.

Warum muß die Schriftsprache hierzulande überhaupt amtlich neu geregelt werden? Die Briten tun’s nicht, und die Franzosen schützen sie nur vor Überfremdung, regeln sie aber nicht neu von oben. Wie von verschiedener Seite vielfach belegt worden ist, ist die Schriftform des Deutschen auch nicht erstarrt, sondern von selbst veränderlich, und der Duden war nicht die Regelvorgabe, sondern die statistische Präsentation, eine Momentaufnahme des sich verschiebenden Regelwerk- und Vokabularzustands der deutschen Sprache. Vielleicht geht diesmal der Volkszorn so weit, daß auch im deutschsprachigem Raum der Regierung die selbstangemaßte Gewalt, über die schriftliche Sprachform nach Gutdünken bestimmen zu können, endlich entrissen und endgültig verboten wird! In dieser Hinsicht ist Deutschland doch immer noch nicht so „normal“ wie andere europäische Länder! Hier scheint selbst die demokratisch gewählte Obrigkeit sich Dinge anmaßen und ohne Unterstützung der „Untertanen“ durchsetzen zu können, die, erstens, sie gar nichts angehen, und, zweitens, auf die niemand in anderen Kultur- und Industrieländern jemals kommen würde!

Gerade deshalb ist es jetzt von größter Bedeutung, daß die Deutschen und andere Deutschsprachige diese Art von Fehlverhalten seitens der Regierenden, die es besser wissen müßten, nicht durchgehen lassen, sondern der „Obrigkeit“ ihren Obrigkeitswahn, wie es sich demokratischerweise gehört, gründlich austreiben!

Der Wandel in der Schriftform sollte auch im Deutschen der Gesamtheit der auf Papier und im Internet schreibenden, lesenden und elektronisch kommunizierenden Teilhabenden und Beteiligten des deutschsprachigen Raums überlassen bleiben, wie es auch sonst in allen Kulturländern der Welt üblich ist. Müssen die Regierenden wieder mal regulierend völlig überflüssigerweise auch noch in diesen Bereich eingreifen? Wann beginnt man endlich mit der immer wieder in voller Lautstärke propagierten und nie auch nur einmal umgesetzten Zurückdrängung der staatlichen Regulierungswut in allen öffentlichen Gesellschaftsfeldern? Wieso lenken die Kultusminister und andere Beteiligten alle und sich selbst von Ernsthafterem ab? Sollten sie sich nicht lieber den zur Genüge vorhandenen echten Problemen des Schulunterrichts und der Hochschulen, des Lehrstellenmangels und der Bildung überhaupt, widmen? Es kann ja die ehrliche, lang anhaltende Arbeit, die für die Lösungsfindung solcher echten und schwierigen Probleme nötig wäre, hintenan stehen - die Herren Kultusminister und die mit ihnen Verflochtenen können ja dabei nicht so leicht von sich, auf Kosten anderer, Reden machen und sich parteipolitisch profilieren!

Auch als Germanist sehe ich nicht ein, woher Germanisten das Recht zugesprochen werden kann, irgendwelche vorher nicht im betreffenden Gesamtsprachraum existierende bzw. organisch aus der spracheigenen Entwicklung entstandene (Neu)regelung vorzuschlagen. Die Rolle der Germanisten wie auch der Sprachwissenschaftler ist von sich aus eine passive, beobachtende und kommentierende, nicht viel anders als die des Dudens oder sonst irgendeines bestandaufnehmenden Werkes. Germanisten bestimmen auch nicht und stellen auch keine Regeln dafür auf, wie Schriftsteller zu schreiben haben, obwohl sie von Berufs wegen die schriftstellerische Tätigkeit und auch andere Sprachentwicklungen analysieren und kommentieren! Überhaupt, glaube ich, haben all diejenigen, die in dieser Angelegenheit aktiv und ursächlich eingreifen zu müssen glaubten, das Augenmaß für das, was ihnen als TEIL eines selbstregulierend Ganzen zusteht, völlig verloren!

Von wegen, daß die gewohnte Regelung es Ausländern erschwerte, Deutsch zu lernen! Für Ausländer, die in die Sprache nicht hineingeboren sind und deshalb nicht vom Anfang an alles Mögliche darin ausdrücken lernen, sieht das Erlernen dieser Sprache anders aus als für die Einheimischen. Man lernt stufenweise, wobei sich die Stufen darauf beziehen, ob nun das Besprochene (1. Sprachstufe) auf Alltagshandlungen, z. B. gehen, fahren, essen, einkaufen usw., oder auf Gemütsbefinden und Subjektives (2. Sprachstufe) im Alltag oder aber (3. Sprachstufe) auf Ansichten, Meinungen und Philosophieren ausgerichtet ist. Bei der gegenständlichen ersten Stufe waren die alten Regeln eindeutig und unmißverständlich, was das Erlernen des Deutschen ungemein erleichterte; wieso soll das jetzt besser sein, wenn man nicht mal klar vorschreiben kann, wo die Kommas hingehören? Alle Zweifelsfälle sowie Differenzierungen fangen bei der zweiten, abstrahierenden Lernstufe bei komplexerem Satzaufbau an, das scheint aber bei der Neuregelung sogar noch schlimmer zu sein als vorher! Außerdem weiß jeder sprachlich Nachdenkliche, der mehrsprachig aufgewachsen ist bzw. länger im fremdsprachigen Ausland gelebt hat, daß jede Schriftsprache, ganz ähnlich wie im Deutschen, nicht zu beseitigende Zweifels- und Ausnahmefälle vorweist, die sich nach dem allgemeinen Brauch richten.

Das Obige bringe ich als einer vor, der selbst erst im erwachsenen Alter Deutsch gelernt und mehrere Jahre in den USA Deutsch für amerikanische Studenten wie auch hierzulande Fachenglisch für deutsche Studenten unterrichtet hat.

Vielleicht zeitigt die ganze Auseinandersetzung letztendlich doch etwas Gutes, nämlich dann, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, daß:

Dabei sollte man sich doch daran erinnern, daß mehr als genug Raum für Sprachexperimente gegeben ist - es ist gar nicht so lange her, daß in den 70ern viel mit der durchgehenden und der gemäßigten Kleinschreibung veröffentlicht wurde; sie ist auch heute noch in einigen künstlerischen und politischen Kreisen vorhanden. Ein ganz anderes Experiment ist der Versuch der Wiederbelebung der gebrochenen deutschen Schriften (Fraktur u. ä.), der zumindest teilweise, auch unter Jüngeren, Widerhall findet, wie das kommerzielle und nichtkommerzielle Angebot von entsprechenden Druckerzeugnissen sowie Rechnerschriftarten belegt (Geben Sie mal am Rechner „Fraktur“ in eine Suchmaschine für deutsche Webseiten ein!). Was dies belegen soll ist, daß auch ein als Leitlinie dienendes Regelwerk niemanden daran hindert, eigene Sprachexperimente zu veranstalten - solche Freiheiten kann man nur bejahen in der gereiften demokratischen Erkenntnis, daß die Sprache als Ganzes sowieso von selbst bestimmen wird, was sie von Erneurungsexperimenten einzelner Gruppen aufnimmt, und was nicht.

- Apar Singh, Siegen, A84.Singh@t-online.de Donnerstag, 11.11.1999