Sprachforschung.org
gefunden am 23.8.2004 über ots
Christian Dörner
Kein schöner Anblick
Die Reform der Reform nimmt Gestalt an
Am 28. August 2004 erscheint die 23. Auflage des Rechtschreibdudens. „Die neue Rechtschreibung endlich amtlich!“ verheißt die Banderole, die um den Band geschlungen ist. Als er bearbeitet und druckfertig gemacht wurde, ahnte wohl niemand in der Dudenredaktion, welche Diskussion sich um die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung im Sommer 2004 entwickeln würde. Der Spiegel- sowie der Springer-Verlag haben inzwischen die Rückkehr zur bewährten Orthographie angekündigt, andere Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung oder der Rheinische Merkur wollen folgen. Der niedersächsische Ministerpräsident zeigt sich entschlossen, die Reform noch zu „kippen“. Der neue Duden kommt daher zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt: Die Rechtschreibreform wird von außen wie von innen erschüttert. Die völlige Rücknahme der Reform ist politisch denkbar geworden, während die Reform der Reform im neuen Duden Gestalt annimmt. Letztere ist tiefgreifend und doch keineswegs geeignet, die Kritik an der „neuen Rechtschreibung“ verstummen zu lassen.
Duden – politisch immer korrekt
Die nach nur vier Jahren erfolgte Neuauflage des Rechtschreibdudens wird mit der Aufnahme von 5.000 zusätzlichen Wörtern wie Anthrax, DVD, Hartzkommission, Homoehe, Riesterrente und Zwangspfand begründet. Mit genau 1.152 Seiten ist der Duden allerdings exakt so umfangreich wie sein Vorgänger. Platz wurde vor allem dadurch geschaffen, daß die herkömmlichen Schreibungen größtenteils gestrichen wurden. Der Anteil wirklich aktueller Wörter an den Neueinträgen ist verschwindend gering, wie die ersten zehn neuaufgenommenen Wörter zeigen: Aasfresser, Abänderungsantrag, abbedingen, Abbedingung, abcashen, abdunkeln, abduschen, abdüsen, Abendländerin sowie Abendsonne. Mit der Sprachentwicklung der letzten vier Jahre haben nur die wenigsten Neueinträge etwas zu tun. Dafür hat der Duden inzwischen die Political correctness weitgehend perfektioniert. Wie die Abendländerin sind inzwischen fast alle weiblichen Formen ins Wörterbuch aufgenommen, obwohl deren Bildung orthographisch unproblematisch ist. Nur noch bei stark negativ gebrauchten Wörtern „vergißt“ die Dudenredaktion ritterlich die Aufnahme der weiblichen Ableitung: Die Gotteskriegerin und die Kinderschänderin fehlen ebenso wie die Nationalsozialistin; die unmittelbar darauf folgende Nationalspielerin ist hingegen angeführt. Des weiteren erklären jetzt erstmals spezielle Infokästen sehr ausführlich, warum man Wörter wie Zigeuner oder zwergwüchsig nicht verwenden sollte – unzweifelhaft keine orthographische Frage. Die Beibehaltung der gestrichenen Einträge – der erste ist abduzieren – wäre wichtiger gewesen. Auch bei der Aufnahme der „Unwörter des Jahres“ hat der Duden politisch korrekt selektiert: Das Tätervolk fehlt ebenso wie die national befreite Zone oder die Rentnerschwemme – die Peanuts wurden hingegen aufgenommen. Dieses Vorgehen ist immerhin linguistisch nachvollziehbar, denn viele „Unwörter“ sind so ungebräuchlich, daß sie eine Lemmatisierung nicht verdienen. Erstmalig verzeichnet ist auch El Kaida. Die deutschsprachigen Medien verwenden unterschiedliche Transkriptionssysteme, so daß man nicht davon ausgehen kann, daß sie dem Duden an dieser Stelle folgen werden.
Zahlenspielchen
Die Neuauflage ist nicht um der 5.000 „neuen Wörter“ willen erarbeitet worden. Sie ist nötig geworden, weil die Kultusministerkonferenz Anfang Juni Änderungen am amtlichen Regelwerk bewilligt hat. Am Anfang des neuen Dudens findet man eine kurze Zusammenfassung dieser Änderungen, die deren Tragweite jedoch kaum erahnen läßt. Die Redaktion spricht von „Präzisierungen und Ergänzungen“. In Wirklichkeit handelt es sich um Änderungen, was aber nicht ausgesprochen werden darf, um den Schein der Kontinuität einer „neuen Rechtschreibung“ zu wahren. Die geänderten Bestimmungen wurden in die bereits vorhandenen Dudenregeln eingearbeitet. Man hat also darauf geachtet, daß sich deren Anzahl nicht weiter erhöht. Die Reformer selbst haben sich von Anfang an bemüht, eine Reduktion der Regelanzahl durch Umnumerierungen zu erreichen. Dabei wurden sie zunächst durch die Dudenredaktion unterstützt. In einer internen Anweisung hieß es bereits 1996: „Durch Neustrukturierung und vor allem durch Zusammenfassung einzelner Regeln und Regelbereiche wird die Zahl der Richtlinien von 212 auf 136 gesenkt. Begründung: Die inhaltlich falsche, aber politisch wirksame Formel ‚aus 212 mach 112‘ muß auch im Duden ihren angemessenen Ausdruck finden.“ Der Duden 2004 hat 169 Regeln im Vergleich zu den 171 orthographischen Regeln (der Rest bezog sich auf grammatische und andere Fragen) des letzten vorreformatorischen Dudens von 1991.
Wirre Listen
Das amtliche Regelwerk (§ 34) enthält eine Liste von präpositionalen und adverbialen „Partikeln“, die festlegt, daß diese Verbzusätze mit einem Verb zusammengeschrieben werden, sofern keine Verwendung als freies Adverbial vorliegt. Diese Liste wurde laut Duden um dahinter-, darauf-/drauf-, darauflos-/drauflos-, darin-/drin-, darüber-/drüber-, darum-/drum-, darunter-/drunter-, davor-, draus-, hinter-, hinterdrein-, nebenher-, vornüber- ergänzt, was allerdings nicht ganz richtig ist, denn drauf-, drauflos- und drin- standen schon immer auf der Liste. Auffällig ist, daß selbst die bisherige Schreibung keine Zusammenschreibungen mit darin- und darauflos- kannte. Laut modifiziertem amtlichem Regelwerk müßte man jetzt z. B. obligatorisch *darinstehen und *darauflosgehen schreiben. Der Duden setzt diese Neuerung – sei es aus Nachlässigkeit oder aus besserer Einsicht – nicht um und bleibt in diesen Fällen bei der Getrenntschreibung. Während die Rechtschreibreformer tatsächlich anordnen wollten, hintenüberkippen nur zusammen-, vornüber kippen aber nur getrennt zu schreiben, so hat der Duden hier im Gegensatz zur Konkurrenz die Neuregelung von Anfang an nicht umgesetzt, blieb bis heute bei der Zusammenschreibung und befindet sich durch die Regeländerungen nun wieder in Übereinstimmung mit der amtlichen Vorgabe.
Bisher verordnete der Reformduden strikt die Getrenntschreibung von dahinter kommen, davor stellen usw. Aufgrund der Regelmodifikationen wird die Zusammenschreibung dieser und anderer Verben nun wieder obligatorisch. „Durch die Änderungen werden bisherige Schreibweisen nicht falsch“, behauptet die Kultusministerkonferenz. Das ist unzutreffend.
Wie durchdacht das Konzept der Partikelliste war, sieht man z. B. daran, daß die Reformer 1989 noch dazwischen kommen, aber dahinterkommen vorschreiben wollten, 1996 dazwischenkommen, aber dahinter kommen – und ab sofort wieder beides wie bisher zusammen. Entgegen der ursprünglichen Beschlußvorlage der Kultusminister ist die Liste jetzt geöffnet worden, so daß Zusammenschreibung auch bei Partikeln möglich wäre, die nicht angeführt werden. Der Duden macht von dieser unklaren Regelung keinen Gebrauch. Es bleibt daher dabei, daß man ihm zufolge hier bleiben (aber nur dableiben) und dort bleiben (aber nur wegbleiben) schreiben soll.
So genannte Fachexperten
Die Getrenntschreibung von so genannt – von Anfang an ein Stein des Anstoßes – ist endlich zurückgenommen. Man soll wieder zusammenschreiben dürfen. Offenbar wußte selbst der Vorsitzende der Rechtschreibkommission, Dr. Karl Blüml, bis vor kurzem nichts von dieser Änderung; er verteidigte zuletzt am 8. August, als der neue Duden längst gedruckt war, die obligatorische Getrenntschreibung. Von dem großzügigen Wahlrecht, sogenannt dennoch getrennt schreiben zu dürfen, wird wohl niemand Gebrauch machen, so daß diese Variante, nach der niemand gerufen hatte, sehr bald zu Recht in der Versenkung verschwinden dürfte.
Frischgebackene Wiederzulassungen
Nachdem der Duden 2000 – gegen die Neuregelung – wieder die Zusammenschreibung von Substantivierungen wie das Nichtssagende, der Ratsuchende usw. zugelassen hatte, wurde den Reformern schnell klar, daß auch die zugehörigen Grundformen nichtssagend, ratsuchend usw. wiederhergestellt werden müssen. Unzählige Wörter wie allgemeinbildend, ernstgemeint, tiefgreifend, getrenntlebend, vielzitiert, zufriedenstellend usw., denen die Reform den Garaus machen wollte, sollen nun wieder erlaubt sein.
Bemerkenswert ist, daß Zusammenschreibung auch dann wieder zugelassen werden soll, wenn dieser die strikten Zusammenschreibverbote bei allen Wörtern auf -einander, -ig, -isch, -lich und -wärts entgehenstehen. Man soll also auch wieder alleinseligmachend, ineinandergreifend, rückwärtsgewandt usw. schreiben dürfen, obwohl dies nur aus einzelnen Einträgen im Wörterverzeichnis und nicht eindeutig aus dem Regelwerk hervorgeht. Interessant ist, daß der Duden zwar frischgebackene Brötchen, aber nur frisch gewaschene Wäsche kennt. Einzig mögliche Ursache für diese Differenz ist, daß man in der bisherigen Orthographie so schrieb. Um die Varianten verstehen zu können, muß man somit auch die abgeschaffte Rechtschreibung beherrschen. War das das Ziel?
Noch immer viel Rotgedrucktes – aber warum?
Auch sämtliche Konstruktionen vom Typ diensthabend, eisenverarbeitend, ölexportierend usw., die noch der Duden 2000, der selbst bereits Dutzende Zwangsgetrenntschreibungen dieser Art zurücknahm, noch strikt verbot, sollen endlich ohne Ausnahme wieder zugelassen sein. Man wundert sich jedoch, daß die Wortgruppen noch immer durchgängig rot markiert sind. Dies ist offensichtlich falsch, denn viel Erdöl exportierend wurde zum Beispiel nie anders geschrieben, womit in diesem Bereich wieder alles beim alten wäre. Der Rotdruck kann also nur bedeuten, daß man die Getrenntschreibung auch dann verwenden darf, wenn sie grammatisch falsch ist, also z. B. das Gefieder ist Wasser abweisend. Dagegen sprechen Einträge wie das Medikament ist, wirkt blutbildend, wo nur die Zusammenschreibung zugelassen werden soll. Dies ist zwar korrekt, hat aber keinerlei Grundlage im amtlichen Regelwerk – auch nicht im modifizierten. Wenigstens hat der Duden nach acht Jahren Rechtschreibreform die Notwendigkeit der Zusammenschreibung bei prädikativem Gebrauch endlich eingesehen, auch wenn dies nur an einigen wenigen Einträgen deutlich wird.
Tiefergelegte Partizipien und hochanständige Adjektive
Interessanterweise gilt die grundsätzliche Erlaubnis, adjektivisch gebrauchte Fügungen wie nichtsahnend, tieferschüttert usw. wieder zusammenzuschreiben, nur für Partizipien, nicht jedoch für Adjektive. Folglich werden hierhergehörend und schwerverletzt wiederhergestellt, hierher gehörig und schwer krank sollen aber nur getrennt erlaubt sein. Ein Fiasko für die Neuregelung ist die Wiederzulassung von ein tiefergelegtes Fahrwerk, ja sogar näherliegend soll erlaubt sein, obwohl der erste Bestandteil gesteigert ist, Zusammenschreibung in der neuen Rechtschreibung somit ausgeschlossen sein müßte. Damit ist einer der zentralen Punkte der Reform über den Haufen geworfen. Die Dudenredaktion bemerkt nicht, was sie mit diesem Eintrag anrichtet, denn jetzt müßten auch Schreibungen wie weitergehende Forderungen oder gar schwererwiegende Fehler zugelassen sein. Dies soll aber laut Duden (noch) nicht der Fall sein. Bei weiter gehend herrschte von Anfang an Verwirrung, da ein Paragraph der amtlichen Regelung die Zusammenschreibung ausschloß, ein anderer wiederum die Getrenntschreibung. Der Duden kennt bis heute nur weiter gehend, das Konkurrenzwörterbuch von Bertelsmann hingegen nur weitergehend.
Neben der Getrenntschreibung soll man jetzt auch wieder hochempfindlich und hochkompliziert schreiben dürfen. Da es sich um reine Intensivierungen wie z. B. hochanständig (nur so!) handelt, dürfte man laut Duden eigentlich nur zusammenschreiben; die beiden Wörter wurden jedoch wie schon vor vier Jahren bei den Partizipien falsch eingeordnet, was damals die Redaktion veranlaßte, die Getrenntschreibung sogar obligatorisch zu verordnen.
Wohl bekanntes Chaos
Bekanntlich hat die Reform bei den Verbindungen mit wohl- in einen wahren Dschungel geführt. Getrennt- und Zusammenschreibung wechselte bei fast jedem Wort von Auflage zu Auflage und von Produkt zu Produkt. Im nun vorliegenden Duden soll beinahe durchgängig sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung zulässig sein. Besonders heftig kritisiert wurde z. B. die obligatorische Getrenntschreibung von wohl bekannt. Die Dudenredaktion hat den Eintrag wohl bekannt nun komplett aus dem Wörterverzeichnis entfernt. Im Infokasten wird weiterhin Getrenntschreibung verordnet, da die Dudenredaktion bekannt (korrekterweise) als Adjektiv betrachtet. Dieselbe Erkenntnis würde jedoch zur obligatorischen (!) Zusammenschreibung von bekanntgeben usw. führen. So weit geht die Dudenredaktion aber noch nicht. Die Steigerung von wohl ist auch nicht besser, wie der Duden annimmt. Das Wörtchen wohlbekannt ist somit die einzige Verbindung mit wohl-, die laut Duden nach wie vor getrennt geschrieben werden muß. Wer glaubt, das nun sehr weitgehende Wahlrecht bei wohl- auch bei wohlgemerkt anwenden zu dürfen, der irrt, denn wohlgemerkt soll wie bisher nur zusammengeschrieben werden. Gänzlich unklar bleibt indes, ob das Wahlrecht auch bei prädikativem Gebrauch der wieder zugelassenen Wörter gilt. Soll man neben ein wohldurchdachter Plan also auch wieder der Plan war wohldurchdacht und neben die selbstgemachte Marmelade auch wieder die Marmelade war selbstgemacht schreiben dürfen? Und wenn ja: Wie wird die Abgrenzung vorgenommen? Wie in der bisherigen Orthographie? Also weiterhin nur der Mann war tief bewegt? All dies bleibt im neuen Duden ungeklärt.
Viele Wörter werden wiederhergestellt, aber nicht wiederhergerichtet
Hatte der Duden 2000 bereits viele Auseinanderreißungen bei Verben mit wieder- zurückgenommen, dürfen diesmal wiederaufnehmen und wiedergutmachen ihre Rückkehr in die deutsche Schriftsprache feiern. Nur noch wiederaufsuchen, wiederauftauchen, wiedereinfallen, wiedereinsetzen, wiederherrichten und wiedertun sollen verboten bleiben. Den Widerspruch, daß man zwar nur wieder herrichten, aber nur wiederherstellen schreiben dürfen soll, hat der Duden noch immer nicht korrigiert. Das Duden-Kompaktwörterbuch aus dem letzten Jahr will dagegen sogar nur wieder herstellen zulassen. Immer noch wird behauptet, daß bei Verben wie wiederaufbereiten, wiederaufnehmen usw. dann zusammengeschrieben werde, wenn die Betonung auf wieder liege. Dabei liegt die Betonung bei solchen Verben selbstverständlich auf auf. Der erste Reformduden und alle Vorgänger hatten dies noch richtig dargestellt.
Das amtliche Regelwerk, das an dieser Stelle nie geändert wurde, ist hier so unklar, daß selbst die kompetentesten Wörterbuchredaktionen (darunter die Dudenredaktion) glaubten, wiedersehen und Dutzende anderer Wörter mit wieder- seien ab sofort getrennt zu schreiben. Erst nach Jahren wurde dieser Fehler korrigiert – in der Presseorthographie sowie in den meisten Schulbüchern noch immer nicht. Bis heute kommt die Dudenredaktion an dieser Stelle nicht zurecht, und nur langsam werden – wie gesehen – die Zusammenschreibungen nach und nach von Auflage zu Auflage ergänzt. Das Chaos hatte dazu geführt, daß der Duden von Beginn der Reform an in sämtlichen Zusammenfassungen der Reform und in allen Wortlisten die Wörter mit hoch-, wieder- und wohl- komplett aussparte. Auch im jetzt vorliegenden Duden ist dies der Fall, wenn man die (ohnehin fehlerhafte) „vergleichende Gegenüberstellung alter und neuer Schreibungen“ betrachtet.
Inkonsequenzen und grammatische Schnitzer, bei denen jedem die Schüler Leid tun/leidtun können
Das grammatisch falsche so Leid es mir tut wird endlich nicht mehr vorgeschrieben. Man soll wieder klein schreiben dürfen, soll sich aber bei Kontaktstellung für die Groß- oder die Zusammenschreibung entscheiden müssen: weil es mir sehr Leid tut oder weil es mir sehr leidtut. Beides ist aus offensichtlichen Gründen nicht akzeptabel. Die bisherige Schreibung leid tun soll nach dem Grundsatz der Reformer, die bewährte Schreibung zu verbieten und dafür zwei neue Varianten einzuführen, unzulässig bleiben.
Weder die Reformer noch die Dudenredaktion wollen anerkennen, daß auch bei Recht haben (wie Recht du doch hast) nur die Kleinschreibung grammatisch korrekt ist. Auch bei Pleite gehen und Bankrott gehen kennt der Duden keine Gnade, obwohl gehen nicht mit Substantiven verbunden werden kann. Hier bleibt es dabei, daß die Schüler grammatisch Falsches lernen müssen – von den Inkonsequenzen wie Feind sein, aber spinnefeind sein ganz zu schweigen. Interessant ist in diesem Bereich die Gegenüberstellung der bewährten und der angeblich vereinfachten Orthographie: Aus leid tun, weh tun, not tun, unrecht tun, unrecht haben, leid sein, not sein, feind sein, spinnefeind sein, todfeind sein wird leidtun/Leid tun, wehtun, Not tun, unrecht tun, Unrecht haben, leid sein, Not sein, Feind sein, spinnefeind sein, Todfeind sein. Ebenso bleibt es auch im neuen Duden dabei, daß heute morgen, Dienstag nacht, morgen früh, Montag früh durch heute Morgen, Dienstagnacht, morgen früh/Früh, Montag früh ersetzt werden – dies alles ist nach Auffassung des Dudens sowie der Kultusminister eine große Erleichterung für Schüler.
Die völlig neue fakultative Großschreibung bei Fügungen wie seit neuestem/Neuestem, von weitem/Weitem usw. zeigt das Provisorische der Reform der Reform. Weitere Großschreibungen wie z. B. unter Anderem oder ein Bisschen müssen, wird dieser Irrweg in die sprachliche Vergangenheit weiter beschritten, unweigerlich folgen.
8fach darf man jetzt auch mit Bindestrich schreiben: 8-fach. Somit ist das Ergebnis nun 19-jährig, 32stel, 2fach/2-fach, 90er, 90-mal – in den Augen der Reformer wohl eine Verbesserung im Vergleich zur schlichten bisherigen Regelung, grundsätzlich ohne Bindestrich zu schreiben.
Erste Hilfe für das Schwarze Brett
Wie die Reformer selbst klarstellten, war es erklärtes Ziel, dem Trend zur Zusammenschreibung bei Verben sowie der Tendenz zur Großschreibung fester Begriffe wie Schwarzes Brett usw. entgegenzuwirken (die Reform folgt also nicht der Sprachentwicklung, sondern stellt sich ihr entgegen!). Jetzt soll die Großschreibung „fachsprachlich“ wieder erlaubt sein, worauf auch der Duden im Regelteil hinweist und unter anderem die Beispiele Erste Hilfe sowie Gelbes Trikot nennt. Tatsächlich ist aber diese bemerkenswerte Änderung im Wörterverzeichnis überhaupt nicht umgesetzt, so daß man aus diesem nicht ableiten kann, wann man denn nun im Sinne der Reform von der neuen Freiheit Gebrauch machen kann und wann nicht. Dürfen die Schüler in Fachsprache, also groß, schreiben? Oder darf nur eine Ärztezeitschrift wieder Erste Hilfe schreiben, während das einer Schülerzeitung untersagt ist? Und wird das schwarze Loch, bei dem ebenfalls im Wörterverzeichnis Kleinschreibung verordnet wird, nicht ausschließlich fachsprachlich gebraucht?
SS-SOS und kein Land in Sicht
Natürlich schreibt der neue Duden nach wie vor durchgängig die vielgelobte neue (in Wirklichkeit aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende) ss-Schreibung vor. Sie war jedoch nie Ziel der Reformer, sondern mußte als Erkennungsmerkmal aus dem Hut gezaubert werden, als ihnen die Kultusminister die sogenannte „gemäßigte Kleinschreibung“ verboten. Auch nur an der ss-Schreibung festzuhalten macht wenig Sinn. Das Stammprinzip wurde nicht gestärkt, obwohl das immer wieder behauptet wird (denn es soll nun schießen, schoss, Schuss statt bisher schießen, schoß, Schuß gelten), und die Lesbarkeit durch Schreibungen wie Missstand oder Messerwerfer und Messergebnis deutlich verschlechtert, obwohl die Kultusminister gerade die mangelnde Lesekompetenz der Schüler monierten. Die bisherige Schreibung war sehr elegant und keinesfalls komplizierter als die neue.
Verwirrende Variantenspiele
Die „gezielte Variantenführung“ der Reformer, die beispielsweise festlegte, daß man Biografie, aber Geographie bevorzugen sollte, ist angeblich aufgegeben worden. Alle Schreibungen sind nun grundsätzlich gleichberechtigt, aber die Neuschreibungen sollen in den Wörterbüchern immer an erster Stelle genannt werden, womit man diese stillschweigend auch im Duden immer zu Hauptschreibweisen gemacht hat. Der Duden hat dies auch in seiner eigenen Orthographie unverzüglich umgesetzt, indem u. a. geographisch im ganzen Buch durch geografisch ersetzt wurde – vor einem Jahr empfahl das Duden-Kompaktwörterbuch noch ausdrücklich die Schreibung mit ph. Allerdings hat die Dudenredaktion hier Sorgfalt vermissen lassen: Im Abkürzungsverzeichnis schreibt sie noch Geographie, in der Einleitung des Regelteils noch Paragraphen (ansonsten durchgängig durch Paragraf ersetzt, so auch im Vorwort).
Nur noch 9 Kommaregeln, oder?
Bei der neuen Kommasetzung, deren Regelung im amtlichen Regelwerk in neun Paragraphen (die keinesfalls die eigentlichen Regeln darstellen) erläutert ist und die sich keinesfalls als einfacher als die bisherige herausgestellt hat, wurde nichts geändert. Die Dudenredaktion hat jedoch selbst Schwierigkeiten mit ihr: Bei es fällt oft schwer[,] sich mit wenig zufrieden zu geben (unter zufrieden) ist das Komma zum Beispiel keineswegs freigestellt, sondern aufgrund des Vorgreifer-es verpflichtend vorgeschrieben. Hier profitieren allerdings Schulkinder davon, daß neben der Dudenredaktion auch die Lehrer die neue Kommaregelung nicht beherrschen. Indem die Kommaregeln unter neun Paragraphen zusammengefaßt wurden, kamen die Reformer auf die Formel „aus 52 Kommaregeln mach 9“. Ohne die Zusammenfassungen waren im Duden 1991 (wie auch bei seinem Vorgänger von 1986) 29 Kommaregeln angeführt, in der jetzigen Neuauflage sind es 33. Der Umfang ist unverändert. Das Zahlenspiel der Reformer bezog sich auf den letzten Leipziger „DDR“-Duden aus dem Jahre 1990, der die Regeln über die Kommasetzung auf 52 Ziffern verteilte.
Fazit und Konsequenzen
Der neue Duden ändert die Orthographie mehrerer tausend deutscher Wörter. Mit „Präzisierungen und Ergänzungen“ hat dies nichts zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine (erste offizielle) Reform der Reform. Somit ist es unmöglich, noch von einer „neuen Rechtschreibung“ zu sprechen. Die Schüler müssen jetzt umlernen, und ihre Schulbücher müssen neu gedruckt werden, so oder so. Was den Dudenverlag selbst betrifft, müssen nun vor allem Band 4 (Grammatik), Band 9 (Richtiges und gutes Deutsch), das erst kürzlich zweimal neu aufgelegte Duden-Universalwörterbuch, das Duden-Kompaktwörterbuch, das „Deutsche Wörterbuch“ sowie das 10bändige „Große Wörterbuch der deutschen Sprache“ noch einmal von Grund auf neu bearbeitet werden. Obwohl der Rückbau und Abriß der Reform vorankommt, reichen die jetzt eingearbeiteten Änderungen noch bei weitem nicht aus, um zu einer grammatisch korrekten und einheitlichen Orthographie zurückzugelangen.
Während sich die bewährte Orthographie in den letzten 100 Jahren auch im Duden nur unmerklich veränderte, kann von Einheitlichkeit bei der neuen Rechtschreibung nicht mehr die Rede sein. Als Kuriosum sei der Kauf des neuen Dudens dennoch empfohlen, so wie jetzt bereits die letzten beiden Reformduden, die Wörtern wie sogenannt oder zufriedenstellend ihre Existenz absprechen wollten, für immer Kuriositäten sein werden. Eines macht der neue Duden unmißverständlich klar: Einen Kompromiß auf Basis des von seinen Urhebern demolierten Reformwerks kann es nicht geben. Und wie kann eine Rechtschreibung einheitlich sein, wenn sich jeder selbst aussucht, welche Neuregelungen im einzelnen akzeptabel und welche verwerflich sind? Was läge also näher als eine Besinnung auf das, was uns 100 Jahre eine leserfreundliche, einheitliche und nicht allzu schwierige Orthographie sicherte: die „alte“, in Wirklichkeit jedoch bewährte und moderne Rechtschreibung.
|