Die verborgenen Regeln
(leicht gekürzt in Eroms/Munske [Hg.] 1997)
Je länger ich mich mit dem neuen Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung beschäftige, desto stärker wird mein Eindruck, daß unter dem ausdrücklich Gesagten ein unsichtbarer Subtext mitläuft, sozusagen ein geheimes Zusatzprotokoll. Die Kommentarliteratur verstärkt diesen Eindruck. Darin finden sich allerdings noch einige Regeln, die man offensichtlich erst nachträglich hinzuerfunden hat, um nicht zuletzt unter dem Eindruck der Kritik die gröbsten Mängel des Reformwerks auszugleichen.
1. Umlautschreibung
Für kurzes [e] schreibt man ä statt e, wenn es eine Grundform mit a gibt. (§ 13)
Dazu soll es nach § 15 wenige Ausnahmen geben: Eltern (trotz alt), schwenken (trotz schwanken). In Wirklichkeit gibt es natürlich sehr viele (heften, prellen, wecken, Mensch, fertig, fest usw.). Viele davon stehen ohne besonderen Hinweis im Wörterverzeichnis. Vor die Frage gestellt, ob zum Beispiel Spengler wegen Spange künftig Spängler zu schreiben sei, findet der Benutzer aber nichts, was dagegen spräche, denn Spengler ist weder im Wörterverzeichnis enthalten noch unter § 15 als Ausnahme angeführt.
Mit dieser Schlußfolgerung konfrontiert, teilt die Sprachberatung der Dudenredaktion folgendes mit:
Bekanntlich verfolgten die Rechtschreibreformer das Ziel, das korrekte Schreiben zu erleichtern, ohne radikale Eingriffe in vertraute Wortbilder vorzunehmen. § 13 des amtlichen Regelwerks ist deshalb nach unserer Auffassung so zu verstehen, dass die Umlautschreibung entsprechend dem Stammprinzip nur auf diejenigen ausgewählten Einzelwörter anzuwenden ist, die explizit in der amtlichen Wörterliste verzeichnet sind. Das Lemma Spengler ist demnach von der Neuregelung nicht betroffen. (Brief an den Verfasser vom 2. Juli 1997)
Damit ist zweifellos die verborgene Zusatzregel genau getroffen, die man stillschweigend anwenden muß, um den fatalen Folgen einer wörtlichen Befolgung von § 13 zu entgehen. Anders gesagt: § 13 ist eine Pseudoregel, die nur dazu dient, den wenigen historisierenden Neuschreibungen wie Stängel und behände den Schein einer Begründung zu verschaffen.
2. Ableitungsrichtung bei Stammschreibung
Um der uferlosen Ausweitung der Stammschreibung, insbesondere der Umlautschreibung vorzubeugen, muß man die Ableitungsrichtung berücksichtigen. Dies wird bisher nur von Gallmann/Sitta in einer kurzen Bemerkung angedeutet (1996:78). Im Regelwerk selbst ist nur von einer undefinierten Grundform die Rede, die als Kriterium heranzuziehen sei. Gegen hätzen, sätzen, märken usw. wäre folglich nichts einzuwänden, denn irgendwelche Formen mit a finden sich immer.
3. Getrenntschreibung substantivierter Adjektiv- und Partizipialgruppen
Die obligatorische neue Getrenntschreibung nach § 36 läßt nur noch tief schürfend, Besorgnis erregend usw. zu; die bisher üblichen Zusammensetzungen tiefschürfend, besorgniserregend usw. werden also nicht mehr als Zusammensetzungen anerkannt und damit als Wörter aus dem Verkehr gezogen. Es versteht sich von selbst, daß dies unzulässig ist, denn schon die Steigerbarkeit und Intensivierbarkeit beweist, daß es sich um echte Komposita handelt, die neben den jederzeit möglichen syntaktischen Gruppen ein Existenzrecht haben: weitaus tiefschürfender (nicht *weitaus tief schürfender), am besorgniserregendsten (nicht *am Besorgnis erregendsten). Die Substantivierung der Wortgruppen ergibt: das tief Schürfende, das Besorgnis Erregende. Denn: In Adjektivgruppen wird nur das Adjektiv selbst nominalisiert, in Partizipgruppen nur das Partizip. (Gallmann/Sitta 1996:102) Es entsteht also keine substantivische Zusammensetzung. (Gallmann/Sitta 1996a:130) Um den bedenklichen Folgen der Getrenntschreibung zu entgehen, erfindet ihr Urheber, der Rechtschreibreformer Burkhardt Schaeder, zunächst die Zusatzregel, daß Substantivierung generell univerbierend wirke. (Augst et al. 1997:189) Als Beleg führt er immer wieder Fälle wie Autofahren an, die aber nicht einschlägig sind, denn der Infinitiv ist grundsätzlich anders zu beurteilen als das Partizip I. Der Infinitiv hat nämlich keine Valenzstelle für Ergänzungen, während das Partizip aufgrund seiner Doppelnatur teils verbal, teils adjektivisch durchaus noch Ergänzungen regieren kann. Nur muß man sich entscheiden: Als Adjektiv kann das Partizip gesteigert werden, aber keine Ergänzungen regieren, als Verbform kann es Ergänzungen bei sich haben, aber nicht gesteigert werden.
Das amtliche Wörterverzeichnis überrascht den Benutzer mit einigen wenigen Zusammenschreibungen vom Typ die Ratsuchenden, die sich aus dem Regelwerk nicht rechtfertigen lassen und für die auch kein einschlägiger Paragraph herangezogen wird. Schaeder beruft sich auf eine weitere Regel:
Durch die Anweisung, daß partizipiale Fügungen dann getrennt zu schreiben sind, wenn die entsprechende verbale Fügung getrennt geschrieben wird (z.B. abhanden kommen ® abhanden gekommen, auswendig lernen ® auswendig gelernt, Not leiden ® Not leidend, sitzen bleiben ® sitzen geblieben usw.) verstärkt sich die Tendenz zur Getrenntschreibung auch der substantivierten Verwendungen, jedenfalls dann, wenn das Partizip für sich allein substantiviert gebraucht werden kann, z. B. die Suchenden, die Erziehenden, das Gedruckte; nicht aber die Genommenen, die Gegangenen, die Gebliebenen, das Gebende.
Somit wurde vorgesehen (! wo und von wem?), daß zusammenzuschreiben ist, wenn der partizipiale Bestandteil üblicherweise nicht allein gebraucht wird, z. B. die Gefangengenommenen, die Sitzengebliebenen. Konsequenterweise wäre nach diesem Kriterium zusammenzuschreiben: das Obenstehende, das Untenstehende.
Konsequenterweise sind darum von den unter (b) und (c) genannten Fällen abgesehen beide Schreibungen möglich, also neben der wohl eher gewählten Zusammenschreibung auch Getrenntschreibung, z.B. die Aufwärtsstrebenden / die aufwärts Strebenden (...) (ebd.)
All dies hat keine Grundlage im Regelwerk, ja es widerspricht ihm geradezu. Schaeder tut so, als sei entgegen der Grundregel die Zusammenschreibung das Normale und die Getrenntschreibung (bzw. die Tendenz zur Getrenntschreibung, wie der systemwidrige Ausdruck lautet) das eigens durch eine Anweisung zu Regelnde. Die Inkonsequenz soll offenbar durch das zweimal gebrauchte, geradezu beschwörende Wort konsequenterweise vertuscht werden.
Schaeder räumt denn auch ein:
Ohne daß dies ausdrücklich gesagt ist und obwohl es nur teilweise in den Beispielen zum Ausdruck kommt, soll zusammengeschrieben werden, wenn der partizipiale Bestandteil üblicherweise nicht allein gebraucht wird bzw. die Getrenntschreibung eine abweichende Semantik des zweiten Bestandteils erzeugen würde, wie die Weglaßprobe ergibt, z.B. das Bekanntgegebene (# das Gegebene) (...) (a.a.O. S. 200, Hervorhebung hinzugefügt, vgl. auch S. 189)
4. Zusammengesetzte Adverbien keine Verbzusätze
Unter § 34 E3 (2) findet man die Bestimmung, daß "(zusammengesetztes) Adverb + Verb getrennt geschrieben werden, zum Beispiel abhanden kommen. Es ist auf den ersten Blick nicht recht klar, warum zusammengesetzt hier in Klammern steht. Die Beispielwörter sind ausnahmslos zusammengesetzt. Allerdings enthält die Liste mit den sogenannten Partikeln ebenfalls eine Reihe zusammengesetzte Adverbien, etwa hintenüber, dazwischen, daneben usw. Die abhanden-Gruppe ist nicht definiert, aber bei näherem Zusehen zeigt sich etwas Gemeinsames: Alle Adverbien dieser Rubrik bestehen aus einer Präposition und einem ursprünglichen Substantiv. Von dieser Gruppe wird zwar nicht im Regelwerk, wohl aber in der früheren Duden-Literatur gesagt, daß sie nicht mit einem Verb zusammengeschrieben wird (z. B. Mentrup 1968: 109, Duden Bd. 9: 791). Erst die Kenntnis dieser Tradition gibt der impliziten Neuregelung Hand und Fuß.
5. Adjektivkomposita mit superlativischem Vorderglied
Gallmann und Sitta referieren, daß nach § 36 E1 (4) getrennt geschrieben wird, wenn ein Adjektiv oder Partizip durch einen erweiterten oder gesteigerten bzw. erweiterbaren oder steigerbaren Bestandteil erweitert ist: schwer verdaulich, schwerer verdaulich, am schwersten verdaulich. (1996:101; 1996a:128) Dann weisen sie darauf hin, daß dies nicht für den reinen Superlativ auf -st gelte: schwerstbehindert. Das soll aus § 36 (2) hervorgehen:
Der Superlativ mit reinem -st führt (...) nach § 36 (2) zu Zusammenschreibung. (1996a:128)
Nun lautet der betreffende Punkt allerdings:
Zusammensetzungen, bei denen der erste oder zweite Bestandteil in dieser Form nicht selbständig vorkommt, zum Beispiel:
einfach, zweifach; letztmalig, redselig, saumselig, schwerstbehindert, schwindsüchtig; blauäugig, großspurig, kleinmütig, vieldeutig
Das Wort schwerstbehindert ist nur eines von vielen Beispielen, und es ist nicht deshalb aufgeführt, weil der Superlativ des Erstgliedes Zusammenschreibung bewirkt, sondern weil dieses Erstglied nicht selbständig vorkommt. Die Extrapolation auf alle reinen Superlative mit -st ist eine Zutat der Interpreten. Ist sie berechtigt? Dazu müssen wir prüfen, was das amtliche Wörterverzeichnis zu derartigen Gefügen zu sagen hat. Unter bestgehasst und höchstwahrscheinlich wird in der Tat jeweils auf § 36 (2) verwiesen, was zwar immer noch nicht zu der fraglichen Superlativregel berechtigt, aber doch ein starkes Indiz für ihre Richtigkeit darstellt. Nun steht allerdings gleich über dem Eintrag höchstwahrscheinlich folgendes:
höchst [selten ...] (zu hoch)
Das Wort höchst kommt also durchaus selbständig vor und wird daher unter nicht näher spezifizierten Umständen von einem folgenden Adjektiv getrennt geschrieben. Es ist ja auch nicht anzunehmen, daß die Reformer höchst unwahrscheinlich zusammenschreiben würden. Dann ist aber der Verweis auf § 36 (2) jedenfalls unter höchstwahrscheinlich falsch, denn höchst kommt im Gegensatz zu schwerst selbständig vor, wie das Wörterverzeichnis ausdrücklich festhält. Wenn aber höchstwahrscheinlich weder nach § 36 (2) zusammengeschrieben wird noch wegen der daraus extrapolierten verborgenen Superlativregel warum wird es dann überhaupt zusammengeschrieben? Das Regelwerk gibt darauf keine Antwort; die Betonung heranzuziehen versagt es sich grundsätzlich. Es kann daher den Unterschied, den die Wörterbücher immerhin noch machen, nicht erfassen: er hat es höchstwahrscheinlich getan, aber es ist höchst (im höchsten Grade) wahrscheinlich, dass ... Der offene Widerspruch führt die Interpreten dazu, das Regelwerk durch Zusatzregeln zu ergänzen, für die sie aber keine Gewähr übernehmen können.
6. Fremdwortschreibung oder Anglizismen?
In § 37 (1) wird bestimmt, daß Zusammensetzungen, bei denen der letzte Bestandteil ein Substantiv ist, zusammengeschrieben werden. Das ist an sich eine überflüssige Regel, da Zusammensetzungen im Deutschen immer zusammengeschrieben werden, gegebenenfalls mit Bindestrich. Zu klären ist vielmehr, ob es sich überhaupt um eine Zusammensetzung oder eine syntaktische Wortgruppe handelt. Beispiele wie Feuerstein, Lebenswerk usw. (ebd.) zeigen, daß hier in den meisten Fällen überhaupt kein rechtschreibliches Problem entsteht.
Eine der Beispielgruppen umfaßt nur englische Komposita vom Typ Substantiv + Substantiv wie Airbag, Football usw., und man kann daraus entnehmen, daß sie wie deutsche Komposita behandelt werden sollen. Eine zweite Gruppe bietet englische Beispiele vom Typ Adjektiv + Substantiv: Bluejeans, Softdrink, Highsociety usw. Dazu wird jedoch vermerkt, daß in Anlehnung an die Herkunftssprache auch Getrenntschreibung möglich ist: Big Band, Black Box, Soft Drink. Man muß anscheinend die englische Schreibweise kennen, also die Anlehnung an die Herkunftssprache nicht nur als allgemeinen Hinweis auf die Schreibweise englischer Komposita verstehen, sondern als Aufforderung, in jedem einzelnen Fall das englische Wörterbuch aufzuschlagen, so auch Gallmann: Getrenntschreibung ist allerdings möglich, sofern sie auch im Englischen vorkommt.(Augst et al. 1997: 226). Doch nicht das ist unser gegenwärtiges Problem. Wir haben bisher einfach die Beispiele des Regelwerks zitiert und daraus extrapoliert, daß es sich durchweg um Probleme mit englischen Fremdwörtern handelt. Dazu berechtigt aber der Wortlaut der Regeln keineswegs. Lateinische Fügungen wie Ultima Ratio oder Alma Mater (so die Neuschreibung) sind zwar in der Herkunftssprache keine Zusammensetzungen, könnten aber im Deutschen wie die oben erwähnten englischen Nominationsstereotype als solche angesehen werden und müßten dann zusammengeschrieben werden dürfen. Das ist aber offenbar nicht vorgesehen. Schaeder spricht ausdrücklich von mehrteiligen Anglizismen (Augst et al. 1997: 189; 202), und Gallmann hat ein eigenes Unterkapitel Anglizismen (ebd.: 226). Darin wird u.a. dargestellt, daß lexikalisierte Wortverbindungen aus Adjektiv und Nomen bei der Übernahme aus dem Englischen morphosyntaktisch als Zusammensetzungen behandelt werden: Bei Übernahmen aus dem Englischen favorisiert die Neuregelung darum die Zusammenschreibung. Wieder ist zu bemerken, daß diese Einschränkung auf das Englische keine Grundlage im Regelwerk hat.
7. Verbzusätze I: wieder sehen
Aus der Liste mit fast hundert Partikeln, die unter gewissen Bedingungen mit dem Verb zusammengeschrieben werden, geht hervor, daß es Schreibungen wie wiederkommen usw. gibt. Sieht man davon ab, daß diese Liste merkwürdige Lücken enthält, so daß es zum Beispiel künftig danebenschreiben, aber darunter schreiben, hintenüberfallen, aber vornüber fallen heißen soll, so scheint sich hier nicht viel geändert zu haben. Auf die Liste folgt jedoch eine Erläuterung (E1):
Aber als Wortgruppe: dabei (bei der genannten Tätigkeit) sitzen, daher (aus dem genannten Grund) kommen, wieder (erneut, nochmals) gewinnen, zusammen (gemeinsam) spielen usw.
Hier geht es also um den Unterschied von Verbzusatz und Adverbial. Letzteres steht nur zufällig einmal in der Position des Verbzusatzes, sonst kommt es gar nicht zu Zweifeln hinsichtlich der Getrennt- oder Zusammenschreibung: daß er dabei gern sitzt; daß die Kinder zusammen im Garten spielen usw. Auch die Betonung ist normalerweise unterschiedlich. Die Klavierlehrerin mag der Mutter des kleinen Hans empfehlen: Ihr Sohn muß mehr üben, und Sie sollten dabeisitzen! Das ist hörbar etwas anders, als wenn sie ihr geraten hätte: Sie sollten dabei sitzen! Dies alles ist trivial. Nun zeigt sich aber, daß fast alle Wörterbuchredaktionen, zum Teil erst nach einigem Zögern, zu der Auffassung gelangt sind, wiedersehen müsse künftig getrennt geschrieben werden. Wie ist das möglich? Die Partikel wieder steht selbstverständlich in der Liste, zugleich tritt sie aber in der Erläuterung E1 auf, und zwar mit der Bedeutungsangabe ´erneut, nochmals´. Die Lexikographen haben nun offenbar gedacht: Wenn man jemanden wiedersieht, dann sieht man ihn nach einer Unterbrechung erneut oder nochmals, folglich will die Neuregelung, daß in diesem Falle getrennt geschrieben wird. Ist das so abwegig? In der älteren Dudenliteratur liest man dazu folgendes:
Zusammen mit einem folgenden Verb schreibt man wieder, wenn es die Bedeutung ´zurück´ hat (jemandem geborgtes Geld wiedergeben; etwas Verlorenes wiederfinden) oder wenn es die Bedeutung ´erneut, nochmals´ hat und durch die Verbindung mit dem Verb ein neuer Begriff entsteht (übertragener Gebrauch): Man hat das zerstörte Denkmal wieder aufgerichtet, aber: Sie hat den Verzweifelten wiederaufgerichtet (= getröstet). Getrennt vom folgenden Verb schreibt man wieder, wenn es die Bedeutung ´erneut, nochmals´ hat und das Verb seine eigentliche Bedeutung behält: Sie hat den Korb wieder aufgenommen. Er hat die gleiche Geschichte wieder erzählt. (Duden Bd.9: 761)
Ich halte diese Erklärung teilweise für falsch, aber darauf kommt es hier nicht an. Es liegt auf der Hand, daß die Wörterbuchverfasser sie noch im Kopf hatten, als sie an die Deutung des überaus wortkargen Paragraphen der Neuregelung gingen, und es ist nachvollziehbar, wie sie zu ihrer Schlußfolgerung kamen: Wiedersehen heißt keinesfalls ´zurücksehen´, es scheint aber auch kein neuer Begriff zu entstehen, sondern das Verb bezeichnet eine erneutes oder nochmaliges Sehen nach einer Trennung. Das mag keine vollständige Bedeutungsbeschreibung sein, aber wenn man zwischen den beiden Optionen zu wählen hat, die in der Dudenliteratur zur Wahl gestellt sind, dann scheint man mit der Deutung ´erneut, nochmals´ am weitesten zu kommen. (Wie sich die Bedeutung von wider/wieder unter dem Einfluß von lat. re(d)- tatsächlich entwickelt hat, kann man im Grimmschen Wörterbuch nachlesen.) Die Verfasser der Neuregelung haben ja offenbar ebenfalls die alte Regel noch im Kopf gehabt und daher darauf verzichtet, die Bedingungen auch nur umrißhaft zu definieren, unter denen Zusammen- bzw. Getrenntschreibung eintreten soll. Statt dessen haben sie sich mit einer aus der Duden-Tradition übernommenen Paraphrase begnügt.
8. Verbzusätze II: einander
Von den zahlreichen Fällen, in denen eine Regel nicht ausgesprochen, sondern allenfalls aus einer Gruppe von Beispielen zu erraten ist, will ich noch folgenden erwähnen. Unter § 34 E3 (2) findet man eine Reihe nunmehr getrennt zu schreibender Verbkonstruktionen:
aneinander denken (grenzen, legen), aufeinander achten (hören, stapeln), auseinander gehen (laufen, setzen), beieinander bleiben (sein, stehen), durcheinander bringen (reden, sein)
Diese Spezialregel betrifft also offenbar sämtliche Verbindungen von Verben mit Zusammensetzungen aus Präposition und einander. Warum wird das nicht ausgesprochen? So bleibt ein letzter Rest von Unsicherheit, ob man die Regel auch wirklich richtig verstanden hat. Und doch ist es eine geradezu unerhörte Regel, da sie offensichtlich ganz unvergleichbare Konstruktionen unter einen Hut bringt: aneinanderlegen (mit Richtungszusatz) und aneinander denken (mit Pronomen als valenzgebundenem Objekt) haben ja, wie man auch an der Betonung hört, überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander, und ebendies wurde durch die unterschiedliche Schreibung anerkannt und ausgedrückt. (Die beiden Verbindungen mit sein sind nach § 35 ohnehin keine Kandidaten für Zusammenschreibung mehr.)
9. Großschreibung biologischer Arten
In bestimmten substantivischen Wortgruppen werden Adjektive großgeschrieben, obwohl keine Eigennamen vorliegen.
Dies betrifft
(...)
(2) fachsprachliche Bezeichnungen bestimmter Klassifizierungseinheiten, so von Arten, Unterarten oder Rassen in der Botanik und Zoologie, zum Beispiel:
die Schwarze Witwe, das Fleißige Lieschen, der Rote Milan, die Gemeine Stubenfliege (§ 64 [2])
Die in der gesamten Kommentarliteratur vorgenommene restriktive Auslegung dieser Nummer, als sei sie nur auf biologische Arten anzuwenden, entspricht nicht dem Wortlaut der Regel. Der Wortlaut ließe sich zur Not so auslegen, daß nicht nur Arten, Unterarten und Rassen, sondern auch noch weitere Taxa der Biologie gemeint sind, aber das normale Textverständnis legt nahe, die Begrenzung auf die Biologie zu verwerfen und Terminologien anderer Fächer wie Geologie, Astronomie, Technik usw. einzubeziehen. Eine Unklarheit, die bei der Umsetzung in Wörterbücher zu unterschiedlichen Ergebnissen führen muß. Es fragt sich zum Beispiel, ob die Roten Riesen und die Weißen Zwerge, der Schnelle Brüter usw. unter diese Regel fallen.
10. Groß- und Kleinschreibung in Anlehnung an den bisherigen Gebrauch
Da der textsemantische Grund der Großschreibung Kennzeichnung der Redegegenstände weggefallen ist, erscheinen viele Kleinschreibungen nun als Ausnahmen. Das gilt für die vier ausdrücklich erwähnten unbestimmten Zahlwörter, aber auch für bei weitem u.ä. Im Wörterbuchteil des Duden-Taschenbuchs (Gallmann/Sitta 1996a) heißt es dazu, das Adjektiv werde hier in Anlehnung an den bisherigen Gebrauch klein geschrieben. Es gibt also Schreibungen, für die sich im Regelwerk keine Rechtfertigung findet. Nach Gallmann sind es ein Dutzend flektierte artikellose Adjektive, dazu noch unflektierte wie von nah und fern, in bar (aber in Grau, aber wiederum grau in grau, schwarz auf weiß!) usw. (zu § 58 (3)). Wieder wird die Kenntnis der bisher gültigen Regeln vorausgesetzt.
11. Paarformeln zur Personenbezeichnung
Wörter anderer Wortarten schreibt man groß, wenn sie als Substantive gebraucht werden (= Substantivierungen). (§ 57)
In folgenden Fällen schreibt man Adjektive, Partizipien und Pronomen klein, obwohl sie formale Merkmale der Substantivierung aufweisen. (§ 58)
Es ist hier nicht der Ort, die Auswirkungen dieser beiden, mit ihren Untergruppen und Beispiellisten äußerst umfangreichen Paragraphen genauer zu analysieren. Die Beispiele werden in Gruppen angeführt, die durch Absatzschaltung voneinander getrennt sind, inhaltlich aber nicht definiert werden. So finden wir auch eine nicht näher beschriebene Gruppe wie:
Die Pest traf Hohe und Niedrige/Hoch und Niedrig. Diese Musik gefällt Jungen und Alten/Jung und Alt. Die Teilnehmenden diskutieren über den Konflikt zwischen Jungen und Alten/zwischen Jung und Alt. Das ist ein Fest für Junge und Alte/Jung und Alt. (§ 57[1])
Nach § 58 (3) werden jedoch bestimmte feste Verbindungen aus Präpositionen und nichtdekliniertem oder dekliniertem Adjektiv ohne vorangehenden Artikel klein geschrieben. Unter den Beispielen findet man auch Die Pilger kamen von nah und fern, Die Mädchen hielten durch dick und dünn zusammen u.ä. Um die Kleinschreibung der in § 57 (1) erwähnten Beispiele zu verhindern, ist in § 58 folgende Bestimmung eingefügt:
E2: Substantivierungen, die auch ohne Präposition üblich sind, werden nach § 57(1) auch dann großgeschrieben, wenn sie mit einer Präposition verbunden werden, zum Beispiel:
Die Historikerin beschäftigt sich mit dem Konflikt zwischen Arm und Reich. Das ist ein Fest für Jung und Alt. (Vgl.: Die Königin lud Arm und Reich ein. Das Fest gefiel Jung und Alt.)
Diese Regelkombination hat, nebenbei bemerkt, widersprüchliche Folgen. Zum Beispiel sollen Farbwörter in Verbindungen wie grau in grau klein geschrieben werden. Da jedoch grau als Substantivierung auch ohne Präposition üblich ist (Sie hasst Grau (§ 58 [E2])), muß es in Verbindung mit einer Präposition groß geschrieben werden: Wir liefern das Gerät in Grau. (Ebd.) Warum gilt das nicht für die Wendung grau in grau, die folglich grau in Grau geschrieben werden müßte?
Gallmann und Sitta bringen einen Teil dieser problematischen Fälle unter die Überschrift Paarformeln zu Personenbezeichung (1996:127; 1996a:158f.). Sie stellen eine Regel auf:
Paarformeln mit substantivierten Adjektiven zur Personenbezeichnung schreibt man einheitlich groß. (1996a:159)
Eine solche Regel dürfte in der Tat den nichtdefinierten Fällen aus § 57 zugrunde zu legen sein. Im Regelwerk ist allerdings keine Spur davon zu finden, der Begriff der Paarformel zur Personenbezeichnung ist hier vollkommen unbekannt. Er stammt aus der älteren Dudenliteratur, deren Weitergelten stillschweigend vorausgesetzt wird; auch im Entwurf von 1992 war er noch enthalten (§ 80).
12. Das Komma bei Infinitivgruppen
Bei Infinitiv-, Partizipial- oder Adjektivgruppen oder bei entsprechenden Wortgruppen kann man ein (gegebenenfalls paariges) Komma setzen, um die Gliederung des Ganzsatzes deutlich zu machen bzw. um Missverständnisse auszuschließen. (§ 76)
Diese Regel ist bemerkenswert unklar formuliert, da der Begriff der Gliederung nicht näher bestimmt und auch nicht gesagt wird, was unter entsprechenden Wortgruppen zu verstehen ist. Die Verwendung von bzw. (im Sinne eines nichtausschließenden oder) entspricht ebenfalls nicht den Forderungen, die an einen präzisen Regeltext zu stellen sind. In unserem Zusammenhang interessiert jedoch ein Kommentar von Gallmann und Sitta:
Die technisch einfachste Lösung, bei diesen Wortgruppen auf das Komma generell zu verzichten, wäre den unterschiedlichen Gebrauchsweisen dieser Wortgruppen nicht gerecht geworden. Dabei wird unausgesprochen auch auf die Sprachkompetenz der Schreibenden in all denjenigen Fällen vertraut, in denen § 76 das Setzen von Kommas eigentlich erlauben würde, in Wirklichkeit aber Kommas gänzlich ausgeschlossen sind. Dies gilt zum Beispiel für Fügungen wie die folgenden:
Der Bagger drohte in den Graben zu stürzen. Ich habe noch zwei Briefe zu schreiben. (1996a: 219)
In Augst et al. (Hg.) 1997 gibt Gallmann eine Theorie des Kommas, die auf der Unterscheidung kohärenter Infinitivkonstruktionen beruht, wie sie auch in den genannten Beispielen auftreten. Man kann diese Sätze nur dann korrekt interpungieren, wenn man die alte Kommaregelung noch im Kopf hat.
Gallmann und Sitta führen noch weitere Interpretationsregeln ein:
So kann man zum Beispiel mit einem Komma anzeigen, ob eine Infinitivgruppe als ein für das Verständnis notwendiger Bestandteil des Satzes oder aber als ein notfalls auch weglassbarer Zusatz zu verstehen ist:
Sie bot mir ohne einen Augenblick zu zögern ihre Hilfe an.
Sie bot mir, ohne einen Augenblick zu zögern, ihre Hilfe an. (1996a:199)
Auch dies steht nicht im Regelwerk.
13. Satzwertigkeit
Gallmann und Sitta (1996: 176) stellen zwei Unterregeln auf:
E 6.2: Wenn eine Infinitivgruppe (bzw. nach E 6.3 eine Partizip- oder Adjektivgruppe) als satzwertig empfunden wird, kann man sie wie einen Nebensatz vom übergeordneten Satz mit Komma abgrenzen.
Das Kriterium der Satzwertigkeit ob empfunden oder nicht hat im Regelwerk keine Entsprechung. In ihrem Taschenbuch schreiben die Autoren mit Recht: Die Neuregelung wertet Partizip- und Adjektivgruppen nicht mehr als satzwertige Fügungen. Es gibt also keine Infinitiv- und Partizipialsätze mehr. Was soll es dann heißen, daß der Schreibende eine Fügung, die nicht satzwertig ist, dennoch als satzwertig empfindet, und warum soll das seine Kommasetzung rechtfertigen?
An der zuletzt zitierten Stelle fahren sie fort:
Das heißt nun nicht, dass hier gar keine Kommas mehr stehen können abgeschafft ist nur der Automatismus des Nebensatzkommas. So gelten insbesondere weiterhin die Kommaregeln für Zusätze und Nachträge.
Von Satzwertigkeit ist aber gerade hier natürlich keine Rede, denn Zusätze und Nachträge können vielerlei Gestalt haben. Nach der Neuregelung sind folgende kommalose Sätze korrekt:
Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu.
Obwohl frühzeitig auf ihren Fehler aufmerksam gemacht haben die Reformer sich nicht entschließen können ihn zu berichtigen.
Endlich wieder allein setzten sie ihre Lektüre fort.
Mancher wird hier den Automatismus des Nebensatzkommas zurückwünschen ...
Gallmann und Sitta fügen dem Infinitivparagraphen in Kleindruck hinzu:
Grammatiker, die sich eingehender mit dem Satzbau beschäftigen, sind sehr wohl imstande, genauer anzugeben, wann Infinitivgruppen als satzwertig anzusehen sind und wann nicht. Die davon ableitbaren Regeln sind allerdings nicht volksschultauglich. Wir drucken sie daher in diesem Buch nur als Anhang ab, und zwar im Sinne einer Anregung für den privaten Gebrauch von Interessierten. (1996: 176)
Diese Regeln sind in der Tat nicht im amtlichen Regelwerk enthalten und haben darin auch keine Grundlage. Allerdings beansprucht das Regelwerk durchaus nicht, nur Volksschultaugliches zu bieten.
14. ck in der Worttrennung
Die Buchstabenverbindung ck ist eine konventionelle Schreibweise für kk und nimmt denselben systematischen Ort ein wie andere Doppelkonsonantenbuchstaben. Man kann dies in Anlehnung an die vor allem von Peter Eisenberg entwickelte Begrifflichkeit so ausdrücken: Nach einem kurzen betonten (damit auch offenen oder ungespannten) Vokal gehört der folgende Konsonant als Silbengelenk zu beiden Silben, und dies drückt man sehr sinnreich durch Doppelschreibung aus. Bei der Worttrennung am Zeilenende fällt der Trennungsschnitt naturgemäß genau zwischen diese beiden Buchstaben. Da ein k in dieser Position traditionell durch ck wiedergegeben wird, löst man es als kk auf und wird damit der Grundregel des Trennens nach Sprechsilben gerecht. Nach § 109 der Neuregelung jedoch wird ck den Buchstabenverbindungen ch, th, sch usw. gleichgestellt eine rein phonetische Betrachtungsweise, die als solche zwar richtig ist, aber den systematischen Ort des ck als kk und damit als Silbengelenkschreibung völlig verdunkelt. Bezeichnenderweise findet ck auch keinen Platz in den Tabellen zur Laut-Buchstaben-Zuordnung (§ 22), wo es zwar die Entsprechungen [ç], [x] ch usw. gibt, aber keineswegs [k] ck! Vielmehr gibt § 3 (1) an, wohin das ck eigentlich gehört: Statt kk schreibt man ck. Ein klarer Widerspruch im Regelwerk. Denn wenn ck nur ein Digraph wäre wie ch usw., müßte jeder Bezug auf k und damit auch jener Satz aus § 3 gestrichen, ck jedoch in die Tabelle der Laut-Buchstaben-Zuordnung aufgenommen werden. Bei rein phonetischer Betrachtungsweise stehen nicht nur ck, ch und sch für je einen einzigen Konsonanten, sondern auch mm (Schlamm), ll (hell) usw., ja sogar die neueingeführten Dreifachschreibungen mmm (Schlammmasse), lll (helllicht). Auch sie müßten folglich in die Tabelle der Laut-Buchstaben-Zuordnungen aufgenommen werden, was aber selbstverständlich nicht geschehen ist. Es müßte also darauf hingewiesen werden, daß ck nach Teil A als Ligatur, nach Teil E aber als Digraph zu behandeln ist.
Es ist sonderbar, daß ein Reformwerk, das sich ansonsten größtmöglicher Explizitheit befleißigt, so viele verborgene Zusatzregeln benötigt und trotzdem nicht zu befriedigenden Ergebnissen gelangt. Zu einer entsprechenden Überarbeitung wird es aber wohl nicht mehr kommen, so daß meine kleine Betrachtung nur noch von historischem Interesse sein dürfte.
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Th. Ickler
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