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Duden in 8 Bänden
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Theodor Ickler
09.07.2001 15.20
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Zufällig stoße ich auf meine Besprechung der vorigen Auflage von Dudens Großem Wörterbuch. Sie erschien in der F.A.Z. vom 10. Oktober 1995. Am Schluß ist von der gerade bekannt werdenden Rechtschreibreform die Rede, und so mag es den einen oder anderen interessieren, wie sich die Sache damals darstellte:


Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 8 Bänden. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag 1993-1995. 4096 + XXIV Seiten. Zusammen 592,- DM
Für die meisten Zeitgenossen ist ein Wörterbuch ein staubtrockenes Magazin, in das man sich nur selten und widerwillig begibt, um eine jener leidigen Rechtschreibfragen zu lösen oder einen Bürostreit über das richtige Geschlecht von Joghurt zu beenden. Mit Kopfschütteln blicken sie auf den Freak (´jmd., der sich in übertrieben erscheinender Weise für etw. begeistert´), dem das Erscheinen eines neuen Wörterbuchs ein wahres Fest bedeutet – ein Fest der Kritik natürlich. Zwar freut er sich auch nicht wenig über den Wörter-Schatz auf seinem Schreibtisch, aber er weiß bereits vor der Lektüre des tollkühnen Selbstlobs auf dem Schutzumschlag: Kein Buch ist seinem Wesen nach so unvollkommen wie ein Wörterbuch.
Das fängt schon damit an, daß die Lücken stets zahlreicher sind als die Einträge. Inzwischen hat sich allerdings herumgesprochen, daß der Vollständigkeitswahn kein guter Ratgeber und schon gar kein Qualitätsmaßstab sein kann, und so trägt auch das vorliegende Duden-Wörterbuch sein unvermeidliches Schicksal mit einer Gelassenheit, der sich jeder Rezensent gern anschließen wird. Kein Wort also über Ökosteuer und alles andere, was dieses Wörterbuch (noch) nicht enthält! Geradezu gerührt nimmt man deshalb nach viertausend Seiten auch noch ganze zwei Seiten „Nachträge“ entgegen. Immerhin finden sich hier so aktuelle Neuwörter wie Castorbehälter und Ecstasy, Dino und Doppelklick, aber neben solchen Neologismen, die der natürlichen Fortschreibung des unablässig wuchernden Wortbestandes dienen, auch echte „Nachträge“ von früher Vergessenem: Alkoholproblem und Ermittler, und das ist es, was uns lächeln macht. Als ließe sich durch Hinzufügung dieses oder jenes Wortes zum Gesamtbestand von etwa zweihunderttausend Einträgen auch nur das geringste an der unvermeidlichen Unvollständigkeit ändern!
Es geht also stets um Auswahl, und mit der Auswahl der Stichwörter kann man hier durchaus einverstanden sein. Wenn bei Fachausdrücken aus Medizin und Biologie des Guten manchmal zu viel getan sein sollte, so schadet es doch wenigstens nicht. Fachsprachen sind, so lesen wir, berücksichtigt, soweit sie „auf die Allgemeinsprache hinüberwirken“. Was heißt das? Obwohl mich die Botanik mehr interessiert als die Theologie, hätte ich das Apokarpium nicht erwartet, während ich gleich dahinter die Apokatastasis vermisse. Sollte besagter Bürostreit sich um die Frage drehen, ob es Aphasiker oder Aphatiker heißt, so ergäbe das Nachschlagen im Duden, daß nur die erste Form richtig ist; die zweite fehlt nämlich. Das wäre aber keine gute Antwort, und ich werde weiterhin Aphatiker und aphatisch sagen. Das Wörterbuch ist ein Angebot, kein Kanon, auch wenn die Deutschen es oft dafür halten.

Verkleinerungsformen sind manchmal angegeben (Bierchen), manchmal nicht (Stückchen). Das macht aber nichts, denn anders als in vielen anderen Wörterbüchern sind die Wortbildungsmittel, also auch das Verkleinerungssuffix -chen, als eigene Einträge aufgenommen und erläutert. Wieder andere Probleme wirft die Frage auf, ob man so etwas wie die „durchraßte Gesellschaft“ durch Aufnahme in das Wörterbuch verewigen soll. Das Wort ist vielleicht nur einmal in „gerader Rede“ verwendet, sonst aber immer nur mehr oder weniger ironisch angeführt worden. Ist es deshalb als Hapaxlegomenon (´nur einmal belegtes, in seiner Bedeutung oft nicht genau zu bestimmendes Wort einer (nicht mehr gesprochenen) Sprache´) zu betrachten und folglich beiseite zu lassen? In diesem Sinne scheinen sich die Verfasser entschieden zu haben, zum Glück für den Schöpfer der odiosen Wendung.
Das Wörterbuch verweist nicht ohne Stolz auf die Fülle von authentischen Belegen (allerdings nur aus schriftlichen Quellen, was den Anspruch, „das sprachliche Leben in seiner ganzen Vielschichtigkeit“ zu repräsentieren, denn doch etwas relativiert). Welchen Sinn haben Beispiele und Belege? Beliebige Beispiele, auch selbstgemachte, führen im günstigen Fall die Verwendungsweise eines Wortes anschaulich vor und sind damit einer abstrakten Erklärung in gewisser Weise didaktisch überlegen. Statt ausdrücklich zu sagen, daß das Verb gedenken in der Bedeutung ´beabsichtigen´ den mit zu erweiterten Infinitiv regiert, gibt das Wörterbuch ein Beispiel („Er gedenkt, zehn Tage zu bleiben“), aus dem die grammatische Information unmittelbar hervorgeht. Authentische Belege sollen darüber hinaus etwas beweisen. Im Grimmschen Wörterbuch dienen sie der wortgeschichtlichen Argumentation, folglich kommt es dort auf Erstbelege an. Das ist natürlich für das vorliegende Wörterbuch nicht angestrebt. Die Belege könnten also den Sinn haben, die bloße Existenz eines Wortes bzw. einer bestimmten Verwendungsweise (Konstruktion, Bedeutung) nachzuweisen. Wer nicht glaubt, daß es das Wort Sattel gibt, dem kann man nun nicht weniger als vier Belege, alle aus demselben Werk Edwin E. Dwingers, entgegenhalten. Immerhin zeigen diese Belege das Wort in verschiedenen Verbindungen. Nichts dergleichen läßt sich jedoch lernen, wenn das Wort Made, an dessen Existenz ja ebensowenig zu zweifeln ist, durch folgenden Satz belegt wird: „Er staunte, als Josefine ihm sagte, daß er den Schinken ja nur wegen der Maden bekommen habe“. Die Verlagswerbung hebt, offenbar in rühmender Absicht, hervor, daß danken mit einem Zitat aus Hermann Hesse und begründen mit Habermas belegt sei, und tatsächlich lesen wir „Goldmund dankte überschwenglich“ und „Ein Vertrag begründet eine Norm“. Nichts gegen Hesse und Habermas – aber was ist die Pointe dieser Nachweise, worin liegt ihr Verdienst? Mir kommt das vor wie ein lexikographisches Name-dropping (´geschicktes Einflechten von Namen berühmter Persönlichkeiten...´). Ließe man solche nutzlosen Belege fort, ermäßigte sich der Umfang des Werkes um ein Beträchtliches. Fachausdrücke werden mit Recht nicht durch Belege nachgewiesen; niemand erfindet ja mutwillig Wörter wie Bilirubin, Rocaille oder Zyrtolith, so daß ein Existenznachweis sich hier erübrigt. Wie aber steht es mit Wörtern, die den Verdacht wecken, sie seien nur um der politischen Korrektheit willen erfunden, etwa die mit großer Regelmäßigkeit angegebenen weiblichen Formen von Personenbezeichnungen? (Political correctness findet man übrigens erst in den Nachträgen!) Sind etwa die Prozessualistin, die Schutzzollpolitikerin und die Zetetikerin wirklich belegt, oder bedeuten uns diese Einträge nur, wie die Wörter korrekt zu bilden wären, wenn sie denn je gebildet werden sollten? Das wäre allerdings eine Aufgabe der Grammatik, nicht des Wörterbuchs. Das Wörterbuch erklärt selbst, nur solche Wörter verzeichnen zu wollen, die fester Bestandteil des Wortschatzes sind, nicht aber die jederzeit möglichen Augenblicksbildungen. Ein netter Zug ist übrigens die Galanterie, mit der die Frauen gelegentlich auch vor dem Übelsten bewahrt werden. So gibt es zwar den unglücklichen Dauerausscheider, aber unter all den Datenschützerinnen, Messerwerferinnen und Strandräuberinnen keine Dauerausscheiderin.
Ein sogenannter "übertragener“ Gebrauch sollte nur dann verzeichnet werden, wenn die Metapher schon mehr oder weniger üblich geworden und im gleichen Maße natürlich auch verblaßt ist. Wenn ein Schriftsteller jedoch einmal schreibt: „Alle Wirklichkeit kam ihr jetzt rissig vor und vom Sterben bedroht“ – dann behält das Wort rissig seine normale Bedeutung, und die metaphorische Deutung ist allein Sache des Lesers. Es wird also kein neuer sprachlicher Tatbestand geschaffen, der in einem Wörterinventar aufzuzeichnen wäre. Diese Überlegung läßt noch einmal eine große Anzahl von Beispielen entbehrlich erscheinen. Richtig dagegen ist der Eintrag einer besonderen Bedeutung bei schalten, weil hier der Bezug auf ´begreifen, verstehen´ längst usuell geworden ist. Andererseits hapert es gerade bei diesem Wort wiederum an geeigneten Beispielen, denn der Beleg: „Der Kaufmann schaltete schnell. Er wendete an der nächsten Ausfahrt, fuhr zurück nach München“, der noch dazu aus der „ADAC-Motorwelt“ stammt, läßt den nichttechnischen Gebrauch des Wortes gerade nicht deutlich werden. Authentische Belege haben als Zufallsfunde oft den Nachteil einer gewissen idiosynkratischen Seltsamkeit. Aufpicken ´durch Picken öffnen´ wird u.a. durch den Satz „Fleischmann pickte persönlich einen rostigen Blechkanister auf“ erläutert, was höchst sonderbar wirkt. Zu apodiktisch ´keinen Widerspruch duldend´ gibt es als einzigen Beleg einen Satz von Max Frisch: „Stiller wiederholte mit apodiktischer Melancholie: ´Es war ein Versagen.´" Eine völlig untypische Kollokation, die das Wort und seine übliche Verwendung kein bißchen klarer werden läßt. Aus dem seinerzeit sehr beliebten, auch vom Duden ausgiebig benutzten Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ stammt der Beleg: „An jeder Ecke gab es Hasch und nirgends Shit“. Wenn man der „Scene“ (´Örtlichkeit in einer Stadt, wo Verkäufer und Käufer von Drogen zusammentreffen u. ihre Geschäfte abwickeln´) ferner steht, gerät man hier ins Grübeln, denn sowohl Hasch als auch Shit bedeuten laut Wörterbuch ´Haschisch´. Solche Belege sind also nicht sonderlich hilfreich, manchmal verwirren sie eher.

Die Bedeutung wird im allgemeinen in Form einer Paraphrase oder eines Synonyms angegeben; nur bei Wortbildungselementen (wie be-, un-, -iv oder -ist) und einigen Funktionswörtern findet sich eine begriffliche, metasprachliche Funktionsbestimmung. Es wäre unbillig, bei den Funktionswörtern, einem notorisch schwierigen Gegenstand der Linguistik, semantische Pionierleistungen zu erwarten, doch wenn man zu denn liest: „drückt in Fragesätzen innere Anteilnahme, lebhaftes Interesse, Ungeduld, Zweifel o.ä. des Sprechers aus; überhaupt, eigentlich: was ist denn mit ihm?“ – so staunt der Leser wohl darüber, wie viele verschiedene Dinge dieses Wörtchen angeblich ausdrückt und auch darüber, daß es durch überhaupt und eigentlich ersetzbar sein soll, obwohl es doch oft mit diesen zusammen vorkommt. Die Partikel aber hingegen soll „emphatisch zur Kennzeichnung der gefühlsmäßigen Anteilnahme und zum Ausdruck von Empfindungen“ dienen, was womöglich noch unbestimmter und darüber hinaus teilweise dasselbe ist wie bei denn. Hier bleibt offenbar noch viel zu tun. Gerade an diesen Beispielen wird auch ein altes Problem der Wörterbuchmacher sichtbar: Sollte man nicht versuchen, all die scheinbar unterschiedlichen Bedeutungen von denn oder aber auf einen Nenner zu bringen? Liegen etwa in den folgenden Sätzen wirklich drei Bedeutungen von kommen vor: 1. Der Monteur kommt wegen der Heizung (´sich auf ein Ziel hin bewegen´), 2. Der Arzt kommt zu dem Kranken (´jmdn. aufsuchen´) 3. Das Essen kommt auf den Tisch (´gebracht werden´)? Oder ist das ein Fall von „konstruierter Mehrdeutigkeit“? Bei Kontrahent wird mit Recht zuerst die heute vorherrschende, teilweise auf volksetymologischer Umdeutung beruhende Bedeutung ´Gegner´ angegeben, aber ist es gerechtfertigt, danach zu differenzieren, ob es sich um Gegenerschaft in einer „geistigen“ oder in einer „sportlichen“ bzw. „kämpferischen“ Auseinandersetzung handelt? Ich denke nicht.
Um noch einmal auf den "übertragenen Gebrauch“ zurückzukommen: Bei Schallmauer ist neben der physikalischen Bedeutung die übertragene verzeichnet, bei Quantensprung hingegen nicht, obwohl neun von zehn Belegen in der heutigen Allgemeinsprache in dieser übertragenen, weitgehend verselbständigten Bedeutung (´großer Sprung´, mit einem charakteristischen laienhaften Mißverständnis) zu verstehen sein dürften. Das Wort Scherbengericht wird der humanistisch Gebildete eher in jenem ursprünglichen Sinn gebrauchen, den das Wörterbuch durch den Verweis auf Ostrazismus festhält, während das heute übliche vulgäre Verständnis (etwa im Sinne eines übermäßig strengen Urteils, bei dem viel in Scherben geht) als "übertragener“ Gebrauch verzeichnet ist. Das ist insofern nicht ganz richtig, als den meisten Sprachbenutzern die „eigentliche“ Bedeutung und folglich auch das Metaphorische der "übertragenen“ Bedeutung gar nicht mehr bewußt ist.
Bedeutungsangaben sollen, daran hält die Dudenredaktion unverdrossen fest, sprachliche und – im Gegensatz zum enzyklopädischen Lexikon – nicht sachliche Angaben liefern. Aber wie trennt man sprachliche und sachliche Informationen? Die Bedeutungsangaben seien das „Ergebnis sprachwissenschaftlicher Analysen“. Der Rezensent gäbe etwas darum, über solche Analysemethoden zu verfügen. Einstweilen beobachtet er nur, daß z.B. die Definition von Wasser ((´aus einer Wasserstoff-Sauerstoff-Verbindung bestehende) durchsichtige, weitgehend farb-, geruch- u. geschmacklose Flüssigkeit, die bei 0 °C gefriert u. bei 100 °C siedet´) ein durchschnittliches Schulwissen kodifiziert, wobei die Klammerung andeutet, daß man einiges davon getrost vergessen haben darf. Aber Sachwissen ist es allemal, ein Unterschied zu „Sprachwissen“ ist nicht erkennbar. Wirklich sprachlicher Natur ist der Aufschlußwert der Wortbildung: Wenn eisenhart, wie das Wörterbuch korrekt angibt, ´sehr hart (wie Eisen)´ bedeutet, dann muß das Wort Eisen offenbar etwas besonders Hartes bezeichnen; viele andere Verbindungen und Redensarten deuten in die gleiche Richtung. Was lesen wir jedoch unter dem Stichwort Eisen? ´Ein silberweißes, weiches, in feuchter Luft leicht rostendes Schwermetall´! Die relative Weichheit des Eisens ist fachlich korrekt vermerkt, aber zum sprachlichen Stereotyp gehört sie gewiß nicht.
Die Erklärung eines Wortes durch einen synonymen Ausdruck sollte so gehalten sein, daß beide in dasselbe Konstruktionsmuster eintreten können. Das ist z.B. der Fall, wenn anstimmen erklärt wird als ´zu singen beginnen´, denn man kann zu beiden Ausdrücken ein Akkusativobjekt stellen. Wird hingegen anstinken mit ´jmdn. anwidern´ umschrieben, so ist eine Objektsvariable hinzugefügt, die nicht zur Bedeutung des Stichwortes gehört und dessen unmittelbare Ersetzung durch den erklärenden Ausdruck verbietet. In dieser Hinsicht herrscht weithin große Willkür. Das Kopulaverb sein wird umschrieben als ´sich in einem bestimmten Zustand befinden´; das ist aber die Umschreibung von etwas sein, nämlich z.B. gesund, ruhig, und wie die Ersetzungen der Variablen sonst noch lauten mögen. Diese Inkonsequenz verbindet sich gelegentlich mit der ungeschickten Behandlung rückbezüglicher Verben: aufpflanzen soll u.a. bedeuten ´sich provozierend vor jmdn. hinstellen´. Das wäre aber die Umschreibung von sich vor jmdm. aufpflanzen, nicht von aufpflanzen allein. – Eine ähnliche Ungenauigkeit ergibt sich gelegentlich beim platzsparenden Querverweis. Das läßt sich an der Bedeutungserklärung zu Aktaufnahme erläutern: ´fotografische Aufnahme eines Aktes (4)´. Dieser „Akt (4)" ist jedoch als ´Darstellung des nackten menschlichen Körpers´ definiert. Die Aktaufnahme wäre demnach die Aufnahme der Darstellung des nackten Körpers, und das stimmt natürlich ebensowenig wie die entsprechenden Folgerungen bei Aktbild, Aktgemälde usw. Spätestens bei der Einspeisung des Wörterbuchs in eine Maschinerie zur automatischen Übersetzung würde sich das Schiefe einer solchen Vorgehensweise bemerkbar machen.

DDR-spezifische Ausdrücke sind mit „ehem. DDR“ gekennzeichnet, was trotz einer Erklärung in der Einleitung zu der irrigen Ansicht verleiten könnte, die betreffenden Ausdrücke würden in den neuen Bundesländern (in „Neufünfland“, der hübsche Ausdruck fehlt übrigens) gebraucht. Als sie tatsächlich gebraucht wurden, war die DDR ja noch nicht „ehemalig“. Bei „ns.“ (nationalsozialistisch) ist korrekterweise kein „ehem.“ hinzugefügt. A propos: Um nationalsozialistische Quellen macht das Wörterbuch verständlicherweise einen großen Bogen. Da jedoch nationalsozialistischer Sprachgebrauch verzeichnet und durch Belege nachgewiesen werden muß, treten als Gewährsleute nunmehr Schriftsteller wie Fallada, Hilsenrath und Hochhuth auf, was denn doch ein wenig irreführend ist, da das „ns.“ Wortmaterial bei diesen unverdächtigen Zeugen selbstverständlich nur ironisch gebrochen oder zitatweise vorkommt.
An früheren Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache hat man oft bemängelt, daß sie die Gegenwartsbezogenheit allzu eng nehmen; zu einer Kultursprache gehöre nicht nur das heute Gesprochene, sondern auch das heute noch Gelesene. In der Werbung (Umschlagtext) beansprucht das Wörterbuch, „wie die großen Wörterbücher anderer Kulturnationen, z.B. der ´Larousse´ in Frankreich oder das ´Oxford English Dictionary´ in der englischsprachigen Welt“ auf die Quellen zurückzugehen. Aber damit wird ein Maßstab beschworen, dem das vorliegende Werk nicht genügen kann und offenbar auch gar nicht soll. Das ist nach wie vor Aufgabe des Grimmschen Wörterbuchs, in weniger ausgreifender Form auch des Deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul. Im Vorwort heißt es angemessener, das Werk „beziehe (...) auch den Wortschatz der deutschen Sprache von der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit ein.“ Lessing und Fontane werden als Eckdaten genannt. Schlägt man eine beliebige Seite auf, wird man fast ausschließlich Belege aus heutigen Zeitungen und Gegenwartsautoren finden und nur selten einmal etwas aus der klassischen Literatur. Die Gegenwartssprache ist, wie zahllose Stichproben zeigen, ganz vorzüglich erfaßt. Auch gegen die starke Berücksichtigung der Trivialliteratur ist nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daß man den wirklichen Sprach-„Durchsatz“ (´in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Anlage durchlaufende Stoffmenge´) dokumentiert sehen möchte. Die historische Dimension tritt demgegenüber ganz in den Hintergrund. Ein Beispiel mag zeigen, wie das konkret aussieht: Tucholsky durchlitt bekanntlich schlaflose Nächte, weil ihm keine Bezeichnung für das Geräusch der Birkenblätter im Wind einfiel. (Bemerkenswert seine Intuition, ein solches Wort müsse existieren!) Bei meiner ersten Tucholsky-Lektüre schrieb ich mir das heimatlich-vertraute flispern an den Rand und freute mich Jahre später, es bei Jung-Stilling, und zwar gerade mit Bezug auf die Birkenblätter, wiederzufinden. Das Grimmsche Wörterbuch hat das Wort und die Stelle natürlich ebenfalls, unser Duden leider nicht.
Die Aussprache ist, wo nötig, in der internationalen Lautschrift angegeben und folgt im allgemeinen einem Hang zur Eindeutschung, etwa bei der Auslautverhärtung. Aussprachevarianten werden selten angegeben. Wird z.B. in Apodosis das erste o wirklich immer oder auch nur überwiegend lang gesprochen? Ich möchte es bezweifeln. Zur Transliteration griechischer Wörter fehlen Hinweise, die auch solche Gebilde wie ode (offenbar mit angedeutetem Jota subscriptum) verständlich machen.
Das Werk beruht, wie mitgeteilt wird, auf mehreren Millionen Belegen einer Sprachkartei. Das ist die traditionelle Grundlage guter Wörterbücher, und sie ist in jedem Falle der verbreiteten gegenseitigen Abschreiberei vorzuziehen. Andererseits scheinen die Zeiten der von vielen Händen und Augen mit Fleiß gesammelten Zufallsbelege vorbei zu sein. Künftige Wörterbucharbeit wird, wie es mancherorts schon heute der Fall ist, auf die computergestützte Durchmusterung maschinenlesbarer Corpora gegründet sein müssen. Auch dann bleibt allerdings die Aufgabe, neben den sicherlich interessanten statistischen Auskünften für einen allgemeinen Benutzerkreis auch signifikante Belege auszuwählen, die in der Tat der „Sprachkultur“ dienen.
Die Bände sind solide gebunden und liegen gut in der Hand. Die Schrift ist klein, aber noch gut lesbar, die Gestaltung der Artikel recht übersichtlich. Dazu dient auch der Verzicht auf die Tilde (´Zeichen in Gestalt einer kleinen liegenden Schlangenlinie auf der Mitte der Zeile, das die Wiederholung eines Wortes od. eines Teiles davon angibt´). Ich gestehe allerdings, daß ich ungern zwischen acht Bänden hin- und herspringe; nach dem Vorbild des einbändigen „Deutschen Universalwörterbuchs“ aus demselben Hause (mit ca. 1800 Seiten und 120 000 Stichwörtern ohnehin der schärfste Konkurrent) hätte sich das Werk wohl auf zwei Bände komprimieren lassen.
Der letzte Band enthält als Anhang den Text der auch gesondert erschienenen Broschüre „Die Neuregelung der Rechtschreibung“. Diese Skizze der geplanten Reform nun stellt eine ironische Pointe dar, die ihresgleichen sucht: Dem Leser wird ja nichts anderes nahegelegt, als daß es gescheiter gewesen wäre, mit dem Erwerb des Wörterbuchs zu warten, bis die in Kürze zu erwartende reformierte Neuauflage erscheint. In einer Pressemitteilung versucht der Verlag zwar, die Bedeutung des Werks als Rechtschreibwörterbuch ebenso herunterzuspielen wie die erwartbaren Auswirkungen der Reform. Der Käufer und Benutzer wird das aber mit berechtigtem Mißtrauen zur Kenntnis nehmen. Es bleibt ihm nur die Hoffnung, daß das ebenso folgenreiche wie sinnlose Reförmchen im letzten Augenblick noch an dem Sachverstand der Kultusbürokratie scheitert, damit er sich recht lange an diesem reichhaltigen, sowohl im großen und ganzen als auch im Großen und Ganzen wohlgeratenen Wörterbuch erfreuen kann.


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Th. Ickler

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