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Deutsche Rechtschreibung - von Amts wegen zersprengt
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Walter Lachenmann
12.12.2001 13.28
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Noch eine Bildungsreform? – Die Lehren der PISA-Studie
Von Burkhard Müller-Ulrich
Bayern 2 Radio, Kulturkommentar, 9.12.2001, 19.30 Uhr

Zwei Methoden gibt es für schulischen Erfolg, wie jeder weiß, der lange genug einen Klassenraum von innen sah: Fleiß und Talent. Was an zweitem fehlt, kann man mit erstem ausbügeln – zumindest teilweise. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Schulsystem: Da kommt es auf die Lehrer an, aber auch aufs Geld. Es kommt auf die Gesellschaft an, aber auch auf die Verwaltung, die Regierung, die Gesetze. Diese lapidare Einsicht mag ein ganz kleines bisschen beruhigend wirken nach einer von aufgeregten Schuldzuweisungen gekennzeichneten Woche.
Kaum waren am vergangenen Wochenende die ersten Pressemeldungen über die sogenannte PISA-Studie der OECD hierzulande bekannt geworden, da verloren alle Beteiligten die Contenance. Gewerkschaftssprechern „stockte der Atem“, der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände sprach von einer „neuen Bildungskatastrophe“, Politiker aller Couleur verlangten sofortige Konsequenzen, und die Elternverbände forderten eine schnelle Bildungsreform. „Deutschland im Bildungsschock“, titelte der „Spiegel“, den Tenor aller übrigen Medien vorwegnehmend.
Die Einhelligkeit der Reaktionen musste einen kritischen Beobachter allerdings genauso stutzig machen wie der zwanghafte Wortspielreichtum bei der journalistischen Berichterstattung: Immer ging es um „schlechte Noten für die Schule“, „Nachsitzen für die deutsche Schule“ oder „ein katastrophales Zeugnis für die Schule“. Bei derart eingängigen Überschriften, weiß der Kenner, steckt oft eine besonders hingebungsvolle Erwartungshaltung des Schreibenden dahinter, und in der Tat: die Schulmisere gehört in Deutschland zum Standardinventar des gesellschaftlichen Diskurses; zum Thema Schulmisere hat jeder etwas beizutragen, man setzt die Schlechtigkeit der Schule fast als eine Selbstverständlichkeit voraus.
Diese Haltung kommt von den übersteigerten Ansprüchen, die hierzulande mit dem Thema Bildung verknüpft werden. Bildung galt und gilt nämlich in Deutschland als etwas viel zu Wichtiges, um den Lehrern überlassen zu werden. Bildung ist ein gesellschaftlicher Fetisch, ein Karrierechancengenerator, ein Lebensweltausweis. Bildung ist etwas, das man zeigen muss und das man für seine Kinder planen muss. Es ist unter anderem dieser obsessive Zug, der die Probleme schafft, die jetzt dank PISA eklatant wurden.
Die Ergebnisse der Studie lassen sich nicht leugnen: Deutsche Schüler – getestet wurde die Altersstufe der 15-Jährigen – schnitten im internationalen Vergleich beim Lesen, Rechnen und in den Naturwissenschaften schlecht ab. Unter 32 Industriestaaten lagen sie im letzten Drittel, im Umfeld von – das war der Gipfel nationaler Demütigung – Rumänien und Brasilien. Trotz des exorbitanten Bildungspalavers hierzulande ist also die Bildung selber mangelhaft. In dieser Feststellung liegt allerdings kein Widerspruch. sondern eine Erklärung. denn genau diese Hyperaktivität im Theoretischen macht den Beteiligten in der Schulpraxis das Leben schwer.
Kaum ein Land der Welt leistet sich einen solchen Durchsatz an Bildungskonzepten wie die Bundesrepublik. Seitdem in Hessen vor 30 Jahren mit den berühmt-berüchtigten Rahmenrichtlinien demonstriert wurde, was der ideologisch-pädagogische Furor eines Ministers und seiner wissenschaftlichen Zuarbeiter vermögen, jagen sich Reformen und Korrekturen von Reformen in jedem Fach und auf allen Ebenen. Als ob die Kultusbürokratie nichts anderes zu tun hätte, lässt sie immer neue Modelle erstellen, startet Pilotprojekte und bläst andere ab. Viele dieser hektischen Bewegungen werden glücklicherweise von der Trägheit des Lehrkörpers absorbiert, doch zwei Konsequenzen hat die behördliche Experimentierlust allemal: einerseits werden selbst die aufgeschlossensten und enthusiastischsten Pädagogen von diesem Wechselbad zermürbt, andererseits bleiben auch die Eltern ratlos zurück. Heute hat sich selbst in einem Fach wie Mathematik die Didaktik dermaßen verändert, dass man seinen Kindern kaum noch bei den Hausaufgaben helfen kann. Die Kinder bemerken diese Unsicherheit und schließen daraus messerscharf, dass das ganze Schulwissen nichts tauge. Es ist schon fast eine Ironie des Schicksals, dass eine internationale Studie die sprachliche Desorientiertheit der deutschen Schüler feststellt, ein Jahr nachdem einer der Grundpfeiler sprachlicher Orientierung, nämlich die Rechtschreibung, von Amts wegen zersprengt wurde (Hervorhebung WL).
Die Reformwut und ihre üblen Folgen sind freilich nur ein Faktor der Misere. Doch immerhin ist soviel klar: Von einer weiteren Bildungsreform sollte man kein großes Heil und schon gar nicht die Beseitigung der konstatierten Misere erwarten. Denn es fehlt schon an den äußeren Bedingungen für ein erfolgreiches Arbeiten in der Schule. Allein die Tatsache, dass Deutschland als größte und reichste europäische Nation weniger für Bildung ausgibt als die meisten anderen Industriestaaten, ist ein Skandal. Und wie wird das Geld ausgegeben? Da 15 Kultusminister in 15 Ländern eifersüchtig auf ihre Hoheitsrechte achten, muss jedes Englisch- oder Mathebuch 15 einzelne Zulassungsverfahren für den Unterrichtsgebrauch absolvieren. Die führen mitnichten zu gemeinsamen Ergebnissen. So produziert ein und derselbe Verlag von ein und demselben Englischbuch für Bayern eine völlig andere Ausgabe als für Nordrhein-Westfalen – natürlich wird die Sache dadurch teurer. Dafür fehlen die Mittel zur Sauberhaltung der Gebäude; statt täglich wird in vielen Schulen nur noch einmal wöchentlich geputzt.
Dieser an Verachtung grenzende Umgang mit dem sonst bei jeder Gelegenheit hochstilisierten Gut der Bildung setzt sich in der Organisation des Schulalltags fort. Ein normaler Stundenplan sieht heute so aus, dass Vierzehnjährige von morgens acht bis nachmittags um viertel nach zwei nonstop unterrichtet werden. Selbst bei einem kurzen Schulweg bedeutet das: acht Stunden ohne warme Mahlzeit – ein Zustand, den keine Gewerkschaft für erwachsene Arbeitnehmer akzeptieren würde. Damit die Kinder aber überhaupt etwas zu essen bekommen, muss sich mindestens ein Elternteil spätestens um ein Uhr von der Arbeit abseilen. Und wenn dieselben Mütter oder Väter sich nicht den Nachmittag frei halten, um auf die Hausaufgaben aufzupassen, dann werden sie nicht gemacht, es sei denn – Variante zwei – man hat genügend Geld für einen Nachhilfelehrer. Hier beginnt nun die soziale Ungleichheit: Wer gezwungen ist zu arbeiten und seinen Kindern keine Privatstunden finanzieren kann, dem bleibt nur die Hoffnung, dass sein Nachwuchs die schulischen Anforderungen dank übergroßer Begabung meistert. Wunderkinder gibt es immer wieder, gewiss, aber darauf ganze Bevölkerungsschichten zu verweisen, ist mehr als ein politischer Fehler; es ist ein Verbrechen.
Während alle zivilisierten Nationen um uns herum die Ganztagsschule für eine Selbstverständlichkeit halten, hängt Deutschland einem Traum von bürgerlicher Familienidylle nach, der längst obsolet geworden und zu einem Alptraum mutiert ist. Wenn der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, in einer ersten Stellungnahme zum PISA-Debakel fordert, Eltern müssten sich stärker um die Schulangelegenheiten ihrer Kinder kümmern, dann ist dies unter dem wirtschaftlichen und sozialen Horizont der allermeisten Familien einfach weltfremd. Zunächst wäre zu wünschen, dass der Staat sich stärker um die Erwerbsangelegenheiten der Erziehungsberechtigten kümmere.
Die Ganztagsschule dient aber keineswegs nur dazu, den Berufstätigen den Tag freizuhalten. Sie bietet überdies den pädagogischen Vorteil, dass wenigstens nicht alle Nachmittagsstunden mit Computerspielen ausgefüllt werden, denen die Hausaufgaben sonst bis zur letzten abendlichen Deadline weichen.
Allerdings bedurfte es keiner PISA-Studie, um das alles zu erfahren und entsprechende Überlegungen anzustellen. Das Deprimierende an den aufgeregten Reaktionen der vergangenen Woche ist, dass sie einen ziemlich fragwürdigen Anlass haben. Wenn nämlich die Schule noch etwas anderes sein soll als eine Paukanstalt, die wehrlosen Wesen beliebiges Wissen eintrichtert, dann sagen solche Ratings – wie wissenschaftlich sie auch daherkommen mögen – über die Qualität des Lehrbetriebs wenig aus. Was zum Beispiel bedeutet es, dass Japan und Korea in dieser Studie durchweg glänzend dastehen? In diesen Ländern herrscht ein von unseren Kulturtraditionen so vollkommen verschiedenes Menschenbild, dass sich daran niemand im Ernst ein Beispiel nehmen möchte. So gilt eines der abendländischen Erziehungsideale, die Entwicklung der Individualität, in den asiatischen Kulturen eher als Defekt. Dort werden die Schüler erbarmungslos diszipliniert und niedergeprüft, um ihnen den Kollektivgeist einzuschleifen.
Fahrpläne lesen und Dreisatzaufgaben lösen ist eben nicht alles, was Fünfzehnjährige können sollten, um das Leben in der wissenschaftlich-technischen Welt von heute zu meistern. Es gehören auch soziale Fähigkeiten, Kreativität und Charakterstärke dazu – lauter Dinge, von denen in der PISA-Studie keine Rede war. Deswegen taugt sie kaum als Angelpunkt für eine neue deutsche Bildungsdebatte, so überfällig letztere auch ist. Aber wie in der Schule, gilt auch für diese Debatte: Der Schock ist ein sehr altes und wirksames Lehrmittel.

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Walter Lachenmann

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