Hypo-Thesen
Meine folgenden Aussagen sind sicherlich unwissenschaftlich. Trotzdem stelle ich der These: „Schreiben lernt man durch Lesen“ eine andere These: „Rechtschreiben lernt man erst durch Schreiben“ gegenüber.
Das ist übrigens kein Widerspruch, sondern lediglich eine sachliche Ergänzung, die Betonung und Gemeinsamkeit liegt im übrigen auf dem Wort „lernt“. Dazu später.
Zunächst kann ich natürlich aus eigener Erfahrung bestätigen, daß wortreiches Schreiben durch intensives Lesen gefördert wird, denn Wortbilder, die man lesend wahrnimmt, werden im Gehirn abgelagert.
Das heißt: Der Textrezeption kommt im Schreiblernprozeß eine überragende Bedeutung zu, dient sie doch der Wortspeicherung, sozusagen der Anlage einer riesigen Auswahldatei, oder letztlich eines Wörterbuchs im Kopf.
Andererseits muß an dieser Stelle eingewendet werden, daß der erste Mensch, der die Schrift als Kommunikationssystem erfand (mit dem unbedingten Willen, sich mitzuteilen und seine Gedanken zu überliefern), eben nicht über ein Zeichensystem verfügte, also nicht durch Lesen zum Schreiben gebracht wurde, sondern durch seinen inneren Antrieb.
…
Schreiben ist für mich, der ich mich ein wenig der Psychologie verschrieben habe, im Gegensatz zum Lesen ein äußerst aktiver Prozeß, ausgelöst von intrinsischen Motivationen; daneben aber natürlich auch bewirkt, gesteuert und eingeengt durch nachahmungswürdige Beispieltexte (Lesestücke, Kinderbücher) sowie Einzelworte (z.B. den auf rund 2000 Worte begrenzten Grundwortschatz für bayerische Grundschulen).
Die obige Aussage ist bewußt tendenziös gehalten, doch würde ein gelernter Psychologe hier wohl noch zielgenauer und ausschließlicher argumentieren, würde seine Parteinahme noch deutlicher herausstellen und klare Position ergreifen:
Eine Position für den Menschen, zuungunsten der Sache.
Zur Sache selbst:
Es zeigt sich:
daß die Vergleichsebenen (Lesen/Schreiben und Sprechen/Schreiben) korrelieren;
daß gesprochene und geschriebene Sprache je eigenständig sind;
daß die zu schreibende Sprache einen höheren Abstraktions- und Fertigkeitsgrad voraussetzt;
daß die zu schreibende Sprache in noch viel stärkerem Maße als das gesprochene Wort dem Gedanken hinterherhinkt;
daß der Schreiber – insbesondere der Schreibanfänger über den durch Lesen „eingescannten“ Wortspeicher nicht jederzeit frei verfügen kann und will (letzteres wäre und ist mit enormem Zeitverlust verbunden und ist zudem vom Lebensalter und der Leseintensität abhängig).
Schreiben ist andersartig als Lesen, ist an andere Komponenten geknüpft, benötigt Basisfähigkeiten (Erlernen der lateinischen Ausgangsschrift, später das Erlernen des Maschinenschreibens …), entwickelt Eigengesetzlich- und Eigentümlichkeiten.
Richtiges, wortreiches Schreiben setzt nicht nur einen großen Speicher voraus, sondern auch die Fähigkeit, das zu Schreibende derart abbilden zu können, daß es auch vom Leser verstanden und akzeptiert wird, wobei hier die Kriterien der Form, des Inhaltes und der Geläufigkeit einwirken.
Notwendig für den Schreiblernprozeß sind das Training der Feinmotorik, das Anhäufen von Wortbildern (durch Lesen) und das Einschleifen normierter Begriffe durch Rechtschreibtraining – die sog. Automatisierung. Letztere zeitigt übrigens erstaunliche Ergebnisse. Als Phänomen benenne ich beispielhaft die Fähigkeit des Tastschreibens auf der Schreibmaschine. Fast möchte man hier ein zweites Gedächtnis – ein Gedächtnis des Handgelenks – annehmen, denn Rückkopplungen über das Gehirn sind bei der Schnelligkeit des Ablaufs nahezu ausgeschlossen.
…
Zum Schluß:
Ich hatte vor, darauf hinzuweisen, daß die eigenständigen Kulturtechniken Lesen und Schreiben mit Lernaufwand verbunden sind. Sie machen Mühe, und es ist ganz wichtig, in diesem Zusammenhang das alte Sprichwort: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, ins Gedächtnis zu rufen.
Daneben wollte ich aber auch den falschen Denkansatz der Humanwissenschaft zurückweisen, die sich mit einer sachfremden Entscheidung, in Bereiche einmischt, die sie gar nicht versteht.
„Zum Wohle des Kindes und zugleich zum Wohle der Sache“, muß die Parole lauten, ansonsten ist das Gemeinwohl gefährdet.
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