Brief an KMK
Lehrerinitiative gegen die Rechtschreibreform
Hessen
OStR Günter Loew, Nordring 1d, 63517 Rodenbach
Tel./Fax: 06184/52756
SEKRETARIAT DER STÄNDIGEN KONFERENZ
DER KULTUSMINISTER DER LÄNDER
IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
z.H. Herrn Dr. Tobias Funk
Postfach 2240
53012 Bonn
26.1.2001
Rechtliche Verbindlichkeit der Rechtschreibreform
Ihr Schreiben vom 20.12.2000
Sehr geehrter Herr Dr. Funk,
vielen Dank für Ihre aufschlußreiche Antwort auf mein Schreiben vom 24.11.2000.
So ähnlich mögen im 17. Jahrhundert die im Auftrag des Sonnenkönigs verfaßten Dekrete ausgesehen haben. Bitte verzeihen Sie, daß mir heutzutage dabei die kleine Fabel vom Ochsenfrosch in den Sinn kommt.
Zu den besonders spannenden Fragen, die die Einführung der Rechtschreibreform auf dem Verwaltungsweg aufwirft, zählt doch auch die Frage, ob sich der Staat mit Hilfe der Beamtengesetze wirklich über die Persönlichkeitsrechte der Lehrer hinwegsetzen und sie per Erlaß zur „Umsetzung“ der Reform zwingen kann, wenn sie selbst die neue Orthographie aus sachlichen (d.h. sprachlichen), ästhetischen und rechtsstaatlich-verfassungsrechtlichen Gründen entschieden ablehnen.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem Urteil vom 14.7.1998 zur Rechtschreibreform mit diesem Aspekt der Reform ja gar nicht direkt befaßt, sondern sich bei seiner Entscheidung nur auf die mit der Verfassungsbeschwerde der Eheleute Dr. Thomas Elsner und Gunda Diercks-Elsner verbundenen rechtlichen Fragen bezogen.
Einige seiner Ausführungen lassen dennoch Rückschlüsse zu. Auf S. 52 hat das Gericht z.B. eingeräumt, daß der Erlaß des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums vom 5. November 1996 (zur Einführung der neuen Orthographie) „auch Grundrechte der die Schule besuchenden Kinder berührt“. Sie haben auch im Bereich der Schule „ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit und können nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verlangen, „daß der Staat bei der Festlegung der Unterrichtsinhalte auf ihr Persönlichkeitsrecht Rücksicht nimmt.“
Ähnliches muß in einem modernen Rechtsstaat, der nicht mehr mit dem monarchistisch verfaßten Obrigkeitsstaat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verwechselt werden darf, doch auch für die Lehrer gelten. Im Namen des Beamtenrechts können sie doch nicht einfach wie eine willenlose Sache behandelt werden, zumal das Grundgesetz in Artikel 5 (3) die Lehrfreiheit garantiert, obwohl bisher noch nicht eindeutig geklärt ist, ob und wie weit diese Bestimmungen auch für die Schule gelten. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß im Staat des Grundgesetzes Lehrer durch törichte Erlasse oder Lehrpläne eines Tages wieder zur Vermittlung einer „arischen Physik“ gezwungen werden könnten. Lehrpläne und Erlasse dürfen sich grundsätzlich nicht über Wahrheit und wissenschaftliches Ethos hinwegsetzen.
Daher kann auch kein Lehrer dazu gezwungen werden, den Schülern sachlich unrichtige (nämlich grammatisch falsche) Schreibungen wie heute Abend, gestern Morgen, morgen Mittag usw. als korrekt zu vermitteln. Substantive können nämlich nicht durch vorausgehende Adverbien näher bestimmt werden. Bei den zweiten Bestandteilen dieser Fügungen kann es sich daher nur um Adverbien handeln, die klein zu schreiben sind, auch wenn die Reformkommission tausendmal das Gegenteil beteuert.
Allein dieses kleine Beispiel zeigt, was dabei herauskommt, wenn der Staat sich anmaßt, Sachverhalte regeln zu wollen, von denen er zu wenig oder gar nichts versteht.
Tatsache ist jedenfalls, daß das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil mit keinem Wort auf die verfassungsrechtliche Situation der Lehrer eingegangen ist. Da die Reform aber nur mit Hilfe der Lehrer „umgesetzt“ werden kann, wird es dafür seine Gründe gehabt haben. Wahrscheinlich wollte es sich nicht offen gegen die KMK stellen. Es hat ja auch ganz bewußt nicht untersucht, „ob das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dem Einzelnen einen Anspruch darauf gewährt, weiterhin so schreiben zu dürfen, wie dies bisheriger Übung der Sprachgemeinschaft entspricht.“ (S. 59)
Man darf aber wohl davon ausgehen, daß dieses Recht niemand verwehrt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem zitierten Satz jedenfalls eine ganze Reihe von Folgerungen ab:
„Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden. Sie sind vielmehr frei, wie bisher zu schreiben. ... Aber auch für die Zeit nach dem 31. Juli 2005 ist nicht erkennbar, daß ein Festhalten an den überkommenen Schreibweisen für den Schreibenden mit gesellschaftlichem Ansehensverlust oder sonstigen Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentfaltung verbunden sein könnte. Die Schriftsprache wird sich wie bisher trotz bestehender amtlicher Regeln weiterentwikkeln. ... Allenfalls auf lange Sicht läßt sich vorstellen, daß einzelne Schreibweisen von neuen – im hier behandelten Regelwerk enthaltenen oder später hinzugetretenen – abgelöst werden, sofern sich diese im Schreibusus der Schreibgemeinschaft durchsetzen.“ (S. 59-60)
Aus vielen Stellen im Urteil (ich verweise hier nur auf S. 21-22) geht auch hervor, daß die Rechtschreibung im deutschen Sprachraum gar „nicht auf Rechtsnormen, sondern auf sprachlichen und damit außerrechtlichen Regeln“ beruht, „die auf Akzeptanz angewiesen“ sind. Deswegen kann die reformierte Orthographie in ihrem gegenwärtigen Zustand auch in den Schulen keine „rechtliche Verbindlichkeit“ beanspruchen, denn sie wird ja nach wie vor von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und ist in einem Bundesland sogar durch einen Volksentscheid zurückgewiesen worden. Sie besitzt eben nicht „die für eine Sprachgeltung notwendige allgemeine Akzeptanz“ (S. 62).
Darüber dürfen sich die Kultusminister nicht einfach hinwegsetzen, weil das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil auch deutlich zu verstehen gegeben hat, daß den Schülern in der Schule „die allgemein üblichen Rechtschreibkenntnisse“ zu vermitteln sind.
Es hat (in C. III. 2. a.) zu dieser Frage ausgeführt, daß das OVG Schleswig die künftige Rechtschreibung zum Schulauftrag in Beziehung gesetzt und die Unbedenklichkeit der schulischen Einführung „einer künftig geltenden Schreibweise der deutschen Sprache“ auf dem Erlaßwege damit begründet habe, „daß sich die Schule lediglich allgemein zu erwartenden Rechtschreibänderungen anpasse“. Das OVG sei also – nach Meinung der Verfassungsrichter zu Recht davon ausgegangen, daß die Rechtschreibreform „die für eine Sprachgeltung notwendige allgemeine Akzeptanz finden werde“ und daß sich dadurch am Ziel des Schulunterrichts, „Schülern die allgemein üblichen Rechtschreibkenntnisse zu vermitteln, nichts ändern werde“. (S. 62)
Es kommt hier kaum noch darauf an, daß diese „nicht zu beanstandenden Prognosen“ trotzdem falsch waren. Wichtiger ist, daß sich die Schule auch nach der Ansicht der Verfassungsrichter grundsätzlich nach den gesellschaftlichen Gegebenheiten zu richten hat und nicht umgekehrt als Hebel zur Durchsetzung gesellschaftspolitischer Ziele mißbraucht werden darf.
Zu berücksichtigen sind aber auch die verfassungsrechtlichen Besonderheiten der Länder. Daß das Beamtenrecht z.B. in Hessen nicht über die Grundrechte gestellt werden darf, können Sie Artikel 11 der Hessischen Verfassung entnehmen. Es heißt dort in Absatz 1:
„Jedermann hat das Recht, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Dieses Recht darf auch durch ein Dienstverhältnis nicht beschränkt werden, und niemand darf ein Nachteil widerfahren, wenn er es ausübt.“
Nach Artikel 142 GG bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen ungeachtet der Vorschrift des Artikels 31 auch insoweit in Kraft, „als sie in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten.“
Um die „rechtliche Verbindlichkeit“ der Reform ist es in Hessen noch aus einem weiteren Grund schlecht bestellt. In der Hessischen Verfassung ist das allgemeine Freiheitsrecht und das Persönlichkeitsrecht nämlich wesentlich präziser formuliert als im Grundgesetz. Ich zitiere Absatz 1 und 2 von Artikel 2 als Beleg:
(1) Der Mensch ist frei. Er darf tun und lassen, was die Rechte anderer nicht verletzt oder die verfassungsmäßige Ordnung des Gemeinwesens nicht beeinträchtigt.
(2) Niemand kann zu einer Handlung, Unterlassung oder Duldung gezwungen werden, wenn nicht ein Gesetz oder eine auf Gesetz beruhende Bestimmung es verlangt oder zuläßt.
Zur sachlichen Ergänzung verweise ich hier auch noch nachdrücklich auf die Artikel 26, 63 und 118 der Hessischen Verfassung.
Es kann nicht länger hingenommen werden, daß die Kultusminister diese verfassungsrechtlichen Bestimmungen einfach ignorieren und immer noch versuchen, der deutschen Sprachnation gegen ihren unzähligemal artikulierten Willen eine neue Orthographie durch den Mißbrauch ihrer schulischen Regelungsgewalt aufzuzwingen.
An der fehlenden Akzeptanz ändert auch die Tatsache nichts, daß die Nachrichtenagenturen und ein großer Teil der Presse die Reformschreibung in einer modifizierten Form übernommen haben. Auch dabei haben sich nämlich Verleger aufgrund wirtschaftlicher Interessen in derselben Manier wie die Kultusminister über die Grundrechte ihrer Mitarbeiter hinweggesetzt und den meisten Journalisten die „Reform“ gegen ihren Willen aufgezwungen.
Die Zeitungsverleger haben sich bei der Umstellung auf ihre selbstgestrickten Hausorthographien, die der staatlich verordneten Rechtschreibung ohnehin nur noch in groben Zügen gleichen, zudem auch noch über die Meinung ihrer Kunden, der Leser, hinweggesetzt. Erst nach der Rückkehr der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu der bewährten Rechtschreibung durften diese ihr Votum abgeben.
Übrigens haben sich mehr als 98 Prozent der über 70 000 Teilnehmer an der Abstimmung bei dieser Gelegenheit für die Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung ausgesprochen!
Ich bin gespannt, ob „das Sekretariat der KMK“ nach diesen Erläuterungen doch noch zu einer ausführlicheren und rechtlich begründeten Antwort auf meine Anfrage nach der Verbindlichkeit der „reformierten“ Orthographie bereit ist. Oder soll ich aus der Tatsache, daß es der „Einschätzung“ von Herrn Stillemunkes (die man nicht mit der Einschätzung des Hessischen Kultusministeriums verwechseln sollte) „nichts hinzuzufügen“ hat, schließen, daß das Sekretariat mit seinem eigenen juristischen und verfassungsrechtlichen Latein am Ende ist?
Bitte bringen Sie mein Schreiben auch der neuen KMK-Vorsitzenden, Frau Dr. Schavan, zur Kenntnis.
Da es sich um eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse handelt, werde ich den Briefwechsel mit Ihnen auch der Presse und ausgewählten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zugänglich machen.
Mit freundlichen Grüßen
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Günter Loew
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