Berliner Zeitung
Dienstag, 10. August 2004
Flehen um Klarheit
Doch einheitliche Rechtschreibregeln sind fraglicher denn je
Birgit Walter
Jetzt wird sogar schon über eine Volksabstimmung zur Rechtschreibreform debattiert. Das Grundgesetz lässt noch nicht einmal einen Volksentscheid zur EU-Verfassung zu, aber 70 Rechtsprofessoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wollen das Volk zur Rechtschreibung fragen. Und wer darf da hin gehen? Nur die Erwachsenen, die das Neue nicht wollen, was eine verständliche Regung ist? Oder auch die Kinder, die ungefragt das Neue lernen mussten und sich mit dem Alten neuen Stress aufhalsen würden? Gilt das Wahlrecht dann ab sieben? Muss man Grundkenntnisse in der Rechtschreibung nachweisen, oder dürfen auch die votieren, die seit dem Ende der Schulzeit weder ein Buch noch eine Zeitung in die Hand nehmen? Da werden sich die Rechtsprofessoren sicher schnell einig werden, wie hier zu verfahren ist.
Seitdem der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und der Springer-Verlag am Freitag plötzlich ihre Rückkehr zur alten Rechtschreibung verkündet haben, wird die durch die Reform ausgelöste Rechtschreibunsicherheit ergänzt durch ein rechtliches Chaos in der ganzen Frage. Im August nächsten Jahres sollte bindend werden, was seit 1998 in den Schulen gelehrt wird. Und jetzt?
Jetzt ist noch vollkommen offen, ob die alte oder die neue Rechtschreibung das Tauziehen gewinnt oder doch eine Mischform aus beiden Regelwerken. Derzeit werden in den Zeitungen alle Varianten gehandhabt: von der strengen alten bis zur modifizierten neuen Rechtschreibung, wobei jede Zeitung anderen Regeln folgt, die mitunter von Redakteur zu Redakteur differieren.
Den dringendsten Klärungsbedarf haben die Schulen und die Schulbuchverlage. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, hat daher auch ein schnelles Ende der Debatte gefordert. Nichts sehne man mehr herbei, als ein Ende der Debatte und wieder Klarheit, was die Normen in der Orthografie betrifft. Von den Ministerpräsidenten erwarte er eine Entscheidung, wie immer sie auch aussehen mag.
Aber Klarheit ist nicht in Sicht, nur Meinungen werden abgesondert. So verwies ein Sprecher der Bundesregierung auf frühere Äußerungen von Bundeskanzler Gerhard Schröder, der es für falsch halte, nach der abgeschlossenen Diskussion um die Änderungen die Reform wieder rückgängig zu machen. Der Leiter der Duden-Redaktion, Matthias Wermke, zeigte sich fast sicher, dass es bei der Reform bleibe. Hinter dem derzeitigen Aufstand stünde kein Konzept. Johano Strasser vom Schriftstellerverband PEN plädiert dagegen für eine Rücknahme der Rechtschreibreform so schnell wie möglich. Die Reform ist als geheime Kommandosache von der Bürokratie ausgeheckt worden, sie dürfe dem Publikum nicht aufgezwungen werden. Der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes Konken warnte vor einem Waterloo der deutschen Sprache. Es könne nicht sein, dass 60 Prozent der Medien zur alten Rechtschreibung zurückkehrten, während der Rest weiter die neuen Regeln anwende. Die Medien müssten ihrer Vorbildfunktion gerecht werden. Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer, sagte dieser Zeitung: Die Rechtschreibreform war sicher nicht bis ins letzte Detail gelungen, aber das kann durch Korrekturen ausgebügelt werden. Eine komplette Rolle rückwärts halten wir aber nicht für sinnvoll. Das würde die Verwirrung perfekt machen und Kosten in Millionenhöhe verursachen. Haben wir in Deutschland wirklich keine anderen Sorgen?
Offenbar nicht. Dieses Thema wird uns weiter verfolgen als bis zur nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 8. Oktober. Denn von ihr darf man keine Klarheit erwarten, weil sich ihre Teilnehmer nicht einig sind: Bisher wollen zwölf der 16 Bundesländer an der Reform festhalten. Nur Niedersachsen und das Saarland wollen zurück zur alten Schreibweise, Bayern und Baden-Württemberg wünschen eine Zwischenlösung. Bei dieser Konstellation ist doch bestenfalls eine Verlängerung der Übergangszeiten in Sicht, niemals eine Einigung. Aber ohne Einigung kann jeder machen, was er will. Schleswig-Holstein hat 1996 schon einmal probiert, den Reform-Unsinn nicht mitzumachen. Auch heute kann jedes Land theoretisch seine eigenen Schreibregeln aufstellen, gesetzliche Hürden gibt es nicht. Alles basiert auf Freiwilligkeit, auch die Absichtserklärungen der Schweizer und Österreicher. Jeder darf schreiben, wie er will. Aber wer kann das wollen?
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