Schostakowitsch in Neuaufnahmen
Die „junge Welt“ bringt (in traditioneller Kulturrechtschreibung) von Stefan Siegert eine Rezension neuer Aufnahmen solistischer Musik Schostakowitschs. Wie zu erwarten, nimmt die Nichtnennung der Lebensumstände des Komponisten in stalinistischer Zeit einen breiten Raum ein:
Unerfaßte Gebilde
Die Fuge in der Mitte des 20. Jahrhunderts: Überlegungen zu Dmitri Schostakowitsch aus Anlaß einer neuen CD
Es gehört zu den vielen Gesslerhut-Ritualen des bürgerlichen Kulturbetriebs, beim Auftauchen des Namens Schostakowitsch erst einmal die Stirn in Falten zu legen und düsteren Blicks über die Stalin-Zeit zu lamentieren.
[...]
Die Musik war nämlich bislang kaum weniger schwer zu enträtseln und gar zu »verstehen«, als die Ära Stalins mit ihren historischen Leistungen und zugleich offenbar bis heute nicht zu erfassenden Schrecken und Opfern. Schostakowitsch hätte um ein Haar dazu gezählt, er machte, nicht nur während des faschistischen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion, Schlimmes durch.
[...]
Schostakowitsch war das Beispiel eines Künstlers in einer noch nie erprobten Art von Gesellschaft, die sich keine Minute ihrer Existenz in Ruhe und Frieden entwickeln konnte. Ihre Führer und deren Gefolgsleute haben dabei unter anderen auch viele Musiker in einer Weise behandelt, die wir heute, nach unseren Kriterien, als beschämend empfinden.
Absurd aber, wenn sich Leute als Richter aufspielen, die in ihrer Geschichte Legionen von Künstlern verhungern ließen, nicht zu reden von den vielen, deren Talent nie eine Chance hatte, weil sie in der für künstlerische Begabungen falschen Ecke der kapitalistischen Gesellschaft geboren wurden.
[Man wüßte nur zu gerne, welche Leute das waren, die „Legionen von Künstlern verhungern ließen“, aber zugleich dreist Stalins weise Führung beanstandeten.]
In der Violinsonate op. 134 vergißt man, hier ähnelt Schostakowitsch seinem Freund und Genossen Hanns Eisler, im lakonischen Trauertanz des ersten, in der synkopisch aufgeladenen Rythmik des zweiten und in der zärtlichen Kontrapunktik und dann eruptiven Entschlossenheit des dritten Satzes, daß die Musik durchgehend in Zwölftontechnik gearbeitet ist.
So wie die Geigerin Isabelle Faust und Melnikow sie spielen, bekommt die oft als ästhetische Rechenaufgabe mißverstandene Kompositionsmethode Arnold Schönbergs hier, um ein Wort Mozarts zu nutzen, »einen Arsch, einen Kopf hat sie izt«.
Schostakowitsch: Klavierkonzert Nr. 2 op. 102, Sonate für Geige und Klavier op. 134, Konzert für Klavier, Trompete und Streicher op. 35/Preludien und Fugen – Melnikow/Faust/Berwaerts/Currentzis/Mahler Chamber Orchestra und 24 Preludien und Fugen op. 87 – Melnikow (beide Ha[r]monia Mundi F[r]ance)
jungewelt.de 25.6.2014
Die Worte entstammen einem Brief des 22jährigen Mozart, in dem er ablehnt, nach Salzburg zurückzukehren, bevor dort die Möglichkeit u.a. von Opernaufführungen gesichert ist. Bislang habe man eigentlich nur einen Kastraten, der dann Liebhaber und Liebhaberin zugleich spielen müßte, ein Kunststück, das zu organisieren er einem Kopf wie dem in Wien lebenden Textdichter Metastasio zutraut. Man sei letztlich aber doch auf jeden „Arsch“ angewiesen, um daraus ein Ensemble als Fundament zu bilden.
Stefan Siegert hat das Zitat sicher nur wegen seiner originellen, zeitüblichen Deftigkeit gebracht. Schostakowitschs Musik ist trotz allem tonal und meidet die ideologiemäßige Anhäufung beliebiger Dissonanzen. Insofern wird den Künstlern nichts Übermenschliches zugemutet, wenn sie den Zuhörern das Werk vertraut machen sollen.
(Beispiel:http://www.youtube.com/watch?v=qTP0sBYg0bc)
Leichter hätten es die verhungernden Künstler in der kapitalistischen Gesellschaft allerdings, wenn sie einem talentlosen Würstchen nacheifern würden, das gerade als bärtige Diva Furore macht. Da ist die Kunst tatsächlich am Arsch.
|